The Project Gutenberg EBook of Menschliches, Allzumenschliches by Friedrich Wilhelm Nietzsche Copyright laws are changing all over the world. Be sure to check the copyright laws for your country before downloading or redistributing this or any other Project Gutenberg eBook. This header should be the first thing seen when viewing this Project Gutenberg file. Please do not remove it. Do not change or edit the header without written permission. Please read the "legal small print," and other information about the eBook and Project Gutenberg at the bottom of this file. Included is important information about your specific rights and restrictions in how the file may be used. 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Menschliches, Allzumenschliches Ein Buch fuer freie Geister Friedrich Nietzsche Inhalt An Stelle einer Vorrede Von den ersten und letzten Dingen Zur Geschichte der moralischen Empfindungen Das religioese Leben Aus der Seele der Kuenstler und Schriftsteller Anzeichen hoeherer und niederer Cultur Der Mensch im Verkehr Weib und Kind Ein Blick auf den Staat Der Mensch mit sich allein Ein Nachspiel Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch fuer freie Geister Erster Band An Stelle einer Vorrede. - eine Zeit lang erwog ich die verschiedenen Beschaeftigungen, denen sich die Menschen in diesem Leben ueberlassen und machte den Versuch, die beste von ihnen auszuwaehlen. Aber es thut nicht noth, hier zu erzaehlen, auf was fuer Gedanken ich dabei kam: genug, dass fuer meinen Theil mir Nichts besser erschien, als wenn ich streng bei meinem Vorhaben verbliebe, das heisst: wenn ich die ganze Frist des Lebens darauf verwendete, meine Vernunft auszubilden und den Spuren der Wahrheit in der Art und Weise, welche ich mir vorgesetzt hatte, nachzugehen. Denn die Fruechte, welche ich auf diesem Wege schon gekostet hatte, waren der Art, dass nach meinem Urtheile in diesem Leben nichts Angenehmeres, nichts Unschuldigeres gefunden werden kann; zudem liess mich jeder Tag, seit ich jene Art der Betrachtung zu Huelfe nahm, etwas Neues entdecken, das immer von einigem Gewichte und durchaus nicht allgemein bekannt war. Da wurde endlich meine Seele so voll von Freudigkeit, dass alle uebrigen Dinge ihr Nichts mehr anthun konnten. Aus dem Lateinischen des Cartesius. Vorrede. 1. Es ist mir oft genug und immer mit grossem Befremden ausgedrueckt worden, dass es etwas Gemeinsames und Auszeichnendes an allen meinen Schriften gaebe, von der "Geburt der Tragoedie" an bis zum letzthin veroeffentlichten "Vorspiel einer Philosophie der Zukunft": sie enthielten allesammt, hat man mir gesagt, Schlingen und Netze fuer unvorsichtige Voegel und beinahe eine bestaendige unvermerkte Aufforderung zur Umkehrung gewohnter Werthschaetzungen und geschaetzter Gewohnheiten. Wie? Alles nur - menschlich-allzumenschlich? Mit diesem Seufzer komme man aus meinen Schriften heraus, nicht ohne eine Art Scheu und Misstrauen selbst gegen die Moral, ja nicht uebel versucht und ermuthigt, einmal den Fuersprecher der schlimmsten Dinge zu machen: wie als ob sie vielleicht nur die bestverleumdeten seien? Man hat meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt, noch mehr der Verachtung, gluecklicherweise auch des Muthes, ja der Verwegenheit. In der That, ich selbst glaube nicht, dass jemals jemand mit einem gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehn hat, und nicht nur als gelegentlicher Anwalt des Teufels, sondern ebenso sehr, theologisch zu reden, als Feind und Vorforderer Gottes; und wer etwas von den Folgen erraeth, die in jedem tiefen Verdachte liegen, etwas von den Froesten und Aengsten der Vereinsamung, zu denen jede unbedingte Verschiedenheit des Blicks den mit ihr Behafteten verurtheilt, wird auch verstehn, wie oft ich zur Erholung von mir, gleichsam zum zeitweiligen Selbstvergessen, irgendwo unterzutreten suchte - in irgend einer Verehrung oder Feindschaft oder Wissenschaftlichkeit oder Leichtfertigkeit oder Dummheit; auch warum ich, wo ich nicht fand, was ich brauchte, es mir kuenstlich erzwingen, zurecht faelschen, zurecht dichten musste (- und was haben Dichter je Anderes gethan? und wozu waere alle Kunst in der Welt da?). Was ich aber immer wieder am noethigsten brauchte, zu meiner Kur und Selbst-Wiederherstellung, das war der Glaube, nicht dergestalt einzeln zu sein, einzeln zu sehn, - ein zauberhafter Argwohn von Verwandtschaft und Gleichheit in Auge und Begierde, ein Ausruhen im Vertrauen der Freundschaft, eine Blindheit zu Zweien ohne Verdacht und Fragezeichen, ein Genuss an Vordergruenden, Oberflaechen, Nahem, Naechstem, an Allem, was Farbe, Haut und Scheinbarkeit hat. Vielleicht, dass man mir in diesem Betrachte mancherlei "Kunst", mancherlei feinere Falschmuenzerei vorruecken koennte: zum Beispiel, dass ich wissentlich-willentlich die Augen vor Schopenhauer's blindem Willen zur Moral zugemacht haette, zu einer Zeit, wo ich ueber Moral schon hellsichtig genug war; insgleichen dass ich mich ueber Richard Wagner's unheilbare Romantik betrogen haette, wie als ob sie ein Anfang und nicht ein Ende sei; insgleichen ueber die Griechen, insgleichen ueber die Deutschen und ihre Zukunft - und es gaebe vielleicht noch eine ganze lange Liste solcher Insgleichen? - gesetzt aber, dies Alles waere wahr und mit gutem Grunde mir vorgerueckt, was wisst ihr davon, was koenntet ihr davon wissen, wie viel List der Selbst-Erhaltung, wie viel Vernunft und hoehere Obhut in solchem Selbst-Betruge enthalten ist, - und wie viel Falschheit mir noch noth hut, damit ich mir immer wieder den Luxus meiner Wahrhaftigkeit gestatten darf?... Genug, ich lebe noch; und das Leben ist nun einmal nicht von der Moral ausgedacht: es will Taeuschung, es lebt von der Taeuschung... aber nicht wahr? da beginne ich bereits wieder und thue, was ich immer gethan habe, ich alter Immoralist und Vogelsteller - und rede unmoralisch, aussermoralisch, "jenseits von Gut und Boese"? - 2. - So habe ich denn einstmals, als ich es noethig hatte, mir auch die "freien Geister" erfunden, denen dieses schwermuethig-muthige Buch mit dem Titel "Menschliches, Allzumenschliches" gewidmet ist: dergleichen "freie Geister" giebt es nicht, gab es nicht, - aber ich hatte sie damals, wie gesagt, zur Gesellschaft noethig, um guter Dinge zu bleiben inmitten schlimmer Dinge (Krankheit, Vereinsamung, Fremde, Acedia, Unthaetigkeit): als tapfere Gesellen und Gespenster, mit denen man schwaetzt und lacht, wenn man Lust hat zu schwaetzen und zu lachen, und die man zum Teufel schickt, wenn sie langweilig werden, - als ein Schadenersatz fuer mangelnde Freunde. Dass es dergleichen freie Geister einmal geben koennte, dass unser Europa unter seinen Soehnen von Morgen und Uebermorgen solche muntere und verwegene Gesellen haben wird, leibhaft und handgreiflich und nicht nur, wie in meinem Falle, als Schemen und Einsiedler-Schattenspiel: daran moechte ich am wenigsten zweifeln. Ich sehe sie bereits kommen, langsam, langsam; und vielleicht thue ich etwas, um ihr Kommen zu beschleunigen, wenn ich zum Voraus beschreibe, unter welchen Schicksalen ich sie entstehn, auf welchen Wegen ich sie kommen sehe? - 3. Man darf vermuthen, dass ein Geist, in dem der Typus "freier Geist" einmal bis zur Vollkommenheit reif und suess werden soll, sein entscheidendes Ereigniss in einer grossen Losloesung gehabt hat, und dass er vorher um so mehr ein gebundener Geist war und fuer immer an seine Ecke und Saeule gefesselt schien. Was bindet am festesten? welche Stricke sind beinahe unzerreissbar? Bei Menschen einer hohen und ausgesuchten Art werden es die Pflichten sein: jene Ehrfurcht, wie sie der Jugend eignet, jene Scheu und Zartheit vor allem Altverehrten und Wuerdigen, jene Dankbarkeit fuer den Boden, aus dem sie wuchsen, fuer die Hand, die sie fuehrte, fuer das Heiligthum, wo sie anbeten lernten, - ihre hoechsten Augenblicke selbst werden sie am festesten binden, am dauerndsten verpflichten. Die grosse Losloesung kommt fuer solchermaassen Gebundene ploetzlich, wie ein Erdstoss: die junge Seele wird mit Einem Male erschuettert, losgerissen, herausgerissen, - sie selbst versteht nicht, was sich begiebt. Ein Antrieb und Andrang waltet und wird ueber sie Herr wie ein Befehl; ein Wille und Wunsch erwacht, fortzugehn, irgend wohin, um jeden Preis; eine heftige gefaehrliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt flammt und flackert in allen ihren Sinnen. "Lieber sterben als hier leben" - so klingt die gebieterische Stimme und Verfuehrung: und dies "hier", dies "zu Hause" ist Alles, was sie bis dahin geliebt hatte! Ein ploetzlicher Schrecken und Argwohn gegen Das, was sie liebte, ein Blitz von Verachtung gegen Das, was ihr "Pflicht" hiess, ein aufruehrerisches, willkuerliches, vulkanisch stossendes Verlangen nach Wanderschaft, Fremde, Entfremdung, Erkaeltung, Ernuechterung, Vereisung, ein Hass auf die Liebe, vielleicht ein tempelschaenderischer Griff und Blick rueckwaerts, dorthin, wo sie bis dahin anbetete und liebte, vielleicht eine Gluth der Scham ueber Das, was sie eben that, und ein Frohlocken zugleich, dass sie es that, ein trunkenes inneres frohlockendes Schaudern, in dem sich ein Sieg verraeth - ein Sieg? ueber was? ueber wen? ein raethselhafter fragenreicher fragwuerdiger Sieg, aber der erste Sieg immerhin: - dergleichen Schlimmes und Schmerzliches gehoert zur Geschichte der grossen Losloesung. Sie ist eine Krankheit zugleich, die den Menschen zerstoeren kann, dieser erste Ausbruch von Kraft und Willen zur Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung, dieser Wille zum freien Willen: und wie viel Krankheit drueckt sich an den wilden Versuchen und Seltsamkeiten aus, mit denen der Befreite, Losgeloeste sich nunmehr seine Herrschaft ueber die Dinge zu beweisen sucht! Er schweift grausam umher, mit einer unbefriedigten Luesternheit; was er erbeutet, muss die gefaehrliche Spannung seines Stolzes abbuessen; er zerreisst, was ihn reizt. Mit einem boesen Lachen dreht er um, was er verhuellt, durch irgend eine Scham geschont findet: er versucht, wie diese Dinge aussehn, wenn man sie umkehrt. Es ist Willkuer und Lust an der Willkuer darin, wenn er vielleicht nun seine Gunst dem zuwendet, was bisher in schlechtem Rufe stand, - wenn er neugierig und versucherisch um das Verbotenste schleicht. Im Hintergrunde seines Treibens und Schweifens - denn er ist unruhig und ziellos unterwegs wie in einer Wueste - steht das Fragezeichen einer immer gefaehrlicheren Neugierde. "Kann man nicht alle Werthe umdrehn? und ist Gut vielleicht Boese? und Gott nur eine Erfindung und Feinheit des Teufels? Ist Alles vielleicht im letzten Grunde falsch? Und wenn wir Betrogene sind, sind wir nicht eben dadurch auch Betrueger? muessen wir nicht auch Betrueger sein?" - solche Gedanken fuehren und verfuehren ihn, immer weiter fort, immer weiter ab. Die Einsamkeit umringt und umringelt ihn, immer drohender, wuergender, herzzuschnuerender, jene furchtbare Goettin und mater saeva cupidinum - aber wer weiss es heute, was Einsamkeit ist?... 4. Von dieser krankhaften Vereinsamung, von der Wueste solcher Versuchs-Jahre ist der Weg noch weit bis zu jener ungeheuren ueberstroemenden Sicherheit und Gesundheit, welche der Krankheit selbst nicht entrathen mag, als eines Mittels und Angelhakens der Erkenntniss, bis zu jener reifen Freiheit des Geistes, welche ebensosehr Selbstbeherrschung und Zucht des Herzens ist und die Wege zu vielen und entgegengesetzten Denkweisen erlaubt -, bis zu jener inneren Umfaenglichkeit und Verwoehnung des Ueberreichthums, welche die Gefahr ausschliesst, dass der Geist sich etwa selbst in die eignen Wege verloere und verliebte und in irgend einem Winkel berauscht sitzen bliebe, bis zu jenem Ueberschuss an plastischen, ausheilenden, nachbildenden und wiederherstellenden Kraeften, welcher eben das Zeichen der grossen Gesundheit ist, jener Ueberschuss, der dem freien Geiste das gefaehrliche Vorrecht giebt, auf den Versuch hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu duerfen: das Meisterschafts-Vorrecht des freien Geistes! Dazwischen moegen lange Jahre der Genesung liegen, Jahre voll vielfarbiger schmerzlich-zauberhafter Wandlungen, beherrscht und am Zuegel gefuehrt durch einen zaehen Willen zur Gesundheit, der sich oft schon als Gesundheit zu kleiden und zu verkleiden wagt. Es giebt einen mittleren Zustand darin, dessen ein Mensch solchen Schicksals spaeter nicht ohne Ruehrung eingedenk ist: ein blasses feines Licht und Sonnenglueck ist ihm zu eigen, ein Gefuehl von Vogel-Freiheit, Vogel-Umblick, Vogel-Uebermuth, etwas Drittes, in dem sich Neugierde und zarte Verachtung gebunden haben. Ein "freier Geist" - dies kuehle Wort thut in jenem Zustande wohl, es waermt beinahe. Man lebt, nicht mehr in den Fesseln von Liebe und Hass, ohne ja, ohne Nein, freiwillig nahe, freiwillig ferne, am liebsten entschluepfend, ausweichend, fortflatternd, wieder weg, wieder empor fliegend; man ist verwoehnt, wie Jeder, der einmal ein ungeheures Vielerlei unter sich gesehn hat, - und man ward zum Gegenstueck Derer, welche sich um Dinge bekuemmern, die sie nichts angehn. In der That, den freien Geist gehen nunmehr lauter Dinge an - und wie viele Dinge! - welche ihn nicht mehr bekuemmern... 5. Ein Schritt weiter in der Genesung: und der freie Geist naehert sich wieder dem Leben, langsam freilich, fast widerspaenstig, fast misstrauisch. Es wird wieder waermer um ihn, gelber gleichsam; Gefuehl und Mitgefuehl bekommen Tiefe, Thauwinde aller Art gehen ueber ihn weg. Fast ist ihm zu Muthe, als ob ihm jetzt erst die Augen fuer das Nahe aufgiengen. Er ist verwundert und sitzt stille: wo war er doch? Diese nahen und naechsten Dinge: wie scheinen sie ihm verwandelt! welchen Flaum und Zauber haben sie inzwischen bekommen! Er blickt dankbar zurueck, - dankbar seiner Wanderschaft, seiner Haerte und Selbstentfremdung, seinen Fernblicken und Vogelfluegen in kalte Hoehen. Wie gut, dass er nicht wie ein zaertlicher dumpfer Eckensteher immer "zu Hause", immer "bei sich" geblieben ist! er war ausser sich: es ist kein Zweifel. Jetzt erst sieht er sich selbst -, und welche Ueberraschungen findet er dabei! Welche unerprobten Schauder! Welches Glueck noch in der Muedigkeit, der alten Krankheit, den Rueckfaellen des Genesenden! Wie es ihm gefaellt, leidend stillzusitzen, Geduld zu spinnen, in der Sonne zu liegen! Wer versteht sich gleich ihm auf das Glueck im Winter, auf die Sonnenflecke an der Mauer! Es sind die dankbarsten Thiere von der Welt, auch die bescheidensten, diese dem Leben wieder halb zugewendeten Genesenden und Eidechsen: - es giebt solche unter ihnen, die keinen Tag von sich lassen, ohne ihm ein kleines Loblied an den nachschleppenden Saum zu haengen. Und ernstlich geredet: es ist eine gruendliche Kur gegen allen Pessimismus (den Krebsschaden alter Idealisten und Luegenbolde, wie bekannt -) auf die Art dieser freien Geister krank zu werden, eine gute Weile krank zu bleiben und dann, noch laenger, noch laenger, gesund, ich meine "gesuender" zu werden. Es ist Weisheit darin, Lebens-Weisheit, sich die Gesundheit selbst lange Zeit nur in kleinen Dosen zu verordnen. 6. Um jene Zeit mag es endlich geschehn, unter den ploetzlichen Lichtern einer noch ungestuemen, noch wechselnden Gesundheit, dass dem freien, immer freieren Geiste sich das Raethsel jener grossen Losloesung zu entschleiern beginnt, welches bis dahin dunkel, fragwuerdig, fast unberuehrbar in seinem Gedaechtniss gewartet hatte. Wenn er sich lange kaum zu fragen wagte "warum so abseits? so allein? Allem entsagend, was ich verehrte? der Verehrung selbst entsagend? warum diese Haerte, dieser Argwohn, dieser Hass auf die eigenen Tugenden?" - jetzt wagt und fragt er es laut und hoert auch schon etwas wie Antwort darauf. "Du solltest Herr ueber dich werden, Herr auch ueber die eigenen Tugenden. Frueher waren sie deine Herren; aber sie duerfen nur deine Werkzeuge neben andren Werkzeugen sein. Du solltest Gewalt ueber dein Fuer und Wider bekommen und es verstehn lernen, sie aus- und wieder einzuhaengen, je nach deinem hoeheren Zwecke. Du solltest das Perspektivische in jeder Werthschaetzung begreifen lernen - die Verschiebung, Verzerrung und scheinbare Teleologie der Horizonte und was Alles zum Perspektivischen gehoert; auch das Stueck Dummheit in Bezug auf entgegengesetzte Werthe und die ganze intellektuelle Einbusse, mit der sich jedes Fuer, jedes Wider bezahlt macht. Du solltest die nothwendige Ungerechtigkeit in jedem Fuer und Wider begreifen lernen, die Ungerechtigkeit als unabloesbar vom Leben, das Leben selbst als bedingt durch das Perspektivische und seine Ungerechtigkeit. Du solltest vor Allem mit Augen sehn, wo die Ungerechtigkeit immer am groessten ist: dort naemlich, wo das Leben am kleinsten, engsten, duerftigsten, anfaenglichsten entwickelt ist und dennoch nicht umhin kann, sich als Zweck und Maass der Dinge zu nehmen und seiner Erhaltung zu Liebe das Hoehere, Groessere, Reichere heimlich und kleinlich und unablaessig anzubroeckeln und in Frage zu stellen, - du solltest das Problem der Rangordnung mit Augen sehn und wie Macht und Recht und Umfaenglichkeit der Perspektive mit einander in die Hoehe wachsen. Du solltest" - genug, der freie Geist weiss nunmehr, welchem "du sollst" er gehorcht hat, und auch, was er jetzt kann, was er jetzt erst - darf... 7. Dergestalt giebt der freie Geist sich in Bezug auf jenes Raethsel von Losloesung Antwort und endet damit, indem er seinen Fall verallgemeinert, sich ueber sein Erlebniss also zu entscheiden. "Wie es mir ergieng, sagt er sich, muss es jedem ergehn, in dem eine Aufgabe leibhaft werden und `zur Welt kommen` will." Die heimliche Gewalt und Nothwendigkeit dieser Aufgabe wird unter und in seinen einzelnen Schicksalen walten gleich einer unbewussten Schwangerschaft, - lange, bevor er diese Aufgabe selbst in's Auge gefasst hat und ihren Namen weiss. Unsre Bestimmung verfuegt ueber uns, auch wenn wir sie noch nicht kennen; es ist die Zukunft, die unserm Heute die Regel giebt. Gesetzt, dass es das Problem der Rangordnung ist, von dem wir sagen duerfen, dass es unser Problem ist, wir freien Geister: jetzt, in dem Mittage unsres Lebens, verstehn wir es erst, was fuer Vorbereitungen, Umwege, Proben, Versuchungen, Verkleidungen das Problem noethig hatte, ehe es vor uns aufsteigen durfte, und wie wir erst die vielfachsten und widersprechendsten Noth- und Gluecksstaende an Seele und Leib erfahren mussten, als Abenteurer und Weltumsegler jener inneren Welt, die "Mensch" heisst, als Ausmesser jedes "Hoeher" und "Uebereinander", das gleichfalls "Mensch" heisst - ueberallhin dringend, fast ohne Furcht, nichts verschmaehend, nichts verlierend, alles auskostend, alles vom Zufaelligen reinigend und gleichsam aussiebend - bis wir endlich sagen durften, wir freien Geister: "Hier - ein neues Problem! Hier eine lange Leiter, auf deren Sprossen wir selbst gesessen und gestiegen sind, - die wir selbst irgend wann gewesen sind! Hier ein Hoeher, ein Tiefer, ein Unter-uns, eine ungeheure lange Ordnung, eine Rangordnung, die wir sehen hier - unser Problem!" - 8. - Es wird keinem Psychologen und Zeichendeuter einen Augenblick verborgen bleiben, an welche Stelle der eben geschilderten Entwicklung das vorliegende Buch gehoert (oder gestellt ist -). Aber wo giebt es heute Psychologen? In Frankreich, gewiss; vielleicht in Russland; sicherlich nicht in Deutschland. Es fehlt nicht an Gruenden, weshalb sich dies die heutigen Deutschen sogar noch zur Ehre anrechnen koennten: schlimm genug fuer Einen, der in diesem Stuecke undeutsch geartet und gerathen ist! Dies deutsche Buch, welches in einem weiten Umkreis von Laendern und Voelkern seine Leser zu finden gewusst hat - es ist ungefaehr zehn Jahr unterwegs - und sich auf irgend welche Musik und Floetenkunst verstehn muss, durch die auch sproede Auslaender-Ohren zum Horchen verfuehrt werden, - gerade in Deutschland ist dies Buch am nachlaessigsten gelesen, am schlechtesten gehoert worden: woran liegt das? - "Es verlangt zu viel, hat man mir geantwortet, es wendet sich an Menschen ohne die Drangsal grober Pflichten, es will feine und verwoehnte Sinne, es hat Ueberfluss noethig, Ueberfluss an Zeit, an Helligkeit des Himmels und Herzens, an otium im verwegensten Sinne: - lauter gute Dinge, die wir Deutschen von Heute nicht haben und also auch nicht geben koennen." - Nach einer so artigen Antwort raeth mir meine Philosophie, zu schweigen und nicht mehr weiter zu fragen; zumal man in gewissen Faellen, wie das Spruechwort andeutet, nur dadurch Philosoph bleibt, dass man - schweigt. Nizza, im Fruehling 1886. Erstes Hauptstueck. Von den ersten und letzten Dingen. 1. Chemie der Begriffe und Empfindungen. - Die Philosophischen Probleme nehmen jetzt wieder fast in allen Stuecken dieselbe Form der Frage an, wie vor zweitausend Jahren.- wie kann Etwas aus seinem Gegensatz entstehen, zum Beispiel Vernuenftiges aus Vernunftlosem, Empfindendes aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben fuer Andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrthuemern? Die metaphysische Philosophie half sich bisher ueber diese Schwierigkeit hinweg, insofern sie die Entstehung des Einen aus dem Andern leugnete und fuer die hoeher gewertheten Dinge einen Wunder-Ursprung annahm, unmittelbar aus dem Kern und Wesen des "Dinges an sich" heraus. Die historische Philosophie dagegen, welche gar nicht mehr getrennt von der Naturwissenschaft zu denken ist, die allerjuengste aller philosophischen Methoden, ermittelte in einzelnen Faellen (und vermuthlich wird diess in allen ihr Ergebniss sein), dass es keine Gegensaetze sind, ausser in der gewohnten Uebertreibung der populaeren oder metaphysischen Auffassung und dass ein Irrthum der Vernunft dieser Gegenueberstellung zu Grunde liegt: nach ihrer Erklaerung giebt es, streng gefasst, weder ein unegoistisches Handeln, noch ein voellig interesseloses Anschauen, es sind beides nur Sublimirungen, bei denen das Grundelement fast verfluechtigt erscheint und nur noch fuer die feinste Beobachtung sich als vorhanden erweist. - Alles, was wir brauchen und was erst bei der gegenwaertigen Hoehe der einzelnen Wissenschaften uns gegeben werden kann, ist eine Chemie der moralischen, religioesen, aesthetischen Vorstellungen und Empfindungen, ebenso aller jener Regungen, welche wir im Gross- und Kleinverkehr der Cultur und Gesellschaft, ja in der Einsamkeit an uns erleben: wie, wenn diese Chemie mit dem Ergebniss abschloesse, dass auch auf diesem Gebiete die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind? Werden Viele Lust haben, solchen Untersuchungen zu folgen? Die Menschheit liebt es, die Fragen ueber Herkunft und Anfaenge sich aus dem Sinn zu schlagen: muss man nicht fast entmenscht sein, um den entgegengesetzten Hang in sich zu spueren? - 2. Erbfehler der Philosophen. - Alle Philosophen haben den gemeinsamen Fehler an sich, dass sie vom gegenwaertigen Menschen ausgehen und durch eine Analyse desselben an's Ziel zu kommen meinen. Unwillkuerlich schwebt ihnen "der Mensch" als eine aeterna veritas, als ein Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein sicheres Maass der Dinge vor. Alles, was der Philosoph ueber den Menschen aussagt, ist aber im Grunde nicht mehr, als ein Zeugniss ueber den Menschen eines sehr beschraenkten Zeitraumes. Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen; manche sogar nehmen unversehens die allerjuengste Gestaltung des Menschen, wie eine solche unter dem Eindruck bestimmter Religionen, ja bestimmter politischer Ereignisse entstanden ist, als die feste Form, von der man ausgehen muesse. Sie wollen nicht lernen, dass der Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnissvermoegen geworden ist; waehrend Einige von ihnen sogar die ganze Welt aus diesem Erkenntnissvermoegen sich herausspinnen lassen. - Nun ist alles Wesentliche der menschlichen Entwickelung in Urzeiten vor sich gegangen, lange vor jenen vier tausend Jahren, die wir ungefaehr kennen; in diesen mag sich der Mensch nicht viel mehr veraendert haben. Da sieht aber der Philosoph "Instincte" am gegenwaertigen Menschen und nimmt an, dass diese zu den unveraenderlichen Thatsachen des Menschen gehoeren und insofern einen Schuessel zum Verstaendniss der Welt ueberhaupt abgeben koennen; die ganze Teleologie ist darauf gebaut, dass man vom Menschen der letzten vier Jahrtausende als von einem ewigen redet, zu welchem hin alle Dinge in der Welt von ihrem Anbeginne eine natuerliche Richtung haben. Alles aber ist geworden; es giebt keine ewigen Thatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt. - Demnach ist das historische Philosophiren von jetzt ab noethig und mit ihm die Tugend der Bescheidung. 3. Schaetzung der unscheinbaren Wahrheiten. - Es ist das Merkmal einer hoehern Cultur, die kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche mit strenger Methode gefunden wurden, hoeher zu schaetzen, als die beglueckenden und blendenden Irrthuemer, welche metaphysischen und kuenstlerischen Zeitaltern und Menschen entstammen. Zunaechst hat man gegen erstere den Hohn auf den Lippen, als koenne hier gar nichts Gleichberechtigtes gegen einander stehen: so bescheiden, schlicht, nuechtern, ja scheinbar entmuthigend stehen diese, so schoen, prunkend, berauschend, ja vielleicht beseligend stehen jene da. Aber das muehsam Errungene, Gewisse, Dauernde und desshalb fuer jede weitere Erkenntniss noch Folgenreiche ist doch das Hoehere, zu ihm sich zu halten ist maennlich und zeigt Tapferkeit, Schlichtheit, Enthaltsamkeit an. Allmaehlich wird nicht nur der Einzelne, sondern die gesammte Menschheit zu dieser Maennlichkeit emporgehoben werden, wenn sie sich endlich an die hoehere Schaetzung der haltbaren, dauerhaften Erkenntnisse gewoehnt und allen Glauben an Inspiration und wundergleiche Mittheilung von Wahrheiten verloren hat. - Die Verehrer der Formen freilich, mit ihrem Maassstabe des Schoenen und Erhabenen, werden zunaechst gute Gruende zu spotten haben, sobald die Schaetzung der unscheinbaren Wahrheiten und der wissenschaftliche Geist anfaengt zur Herrschaft zu kommen: aber nur weil entweder ihr Auge sich noch nicht dem Reiz der schlichtesten Form erschlossen hat oder weil die in jenem Geiste erzogenen Menschen noch lange nicht voellig und innerlich von ihm durchdrungen sind, so dass sie immer noch gedankenlos alte Formen nachmachen (und diess schlecht genug, wie es jemand thut, dem nicht mehr viel an einer Sache liegt). Ehemals war der Geist nicht durch strenges Denken in Anspruch genommen, da lag sein Ernst im Ausspinnen von Symbolen und Formen. Das hat sich veraendert; jener Ernst des Symbolischen ist zum Kennzeichen der niederen Cultur geworden; wie unsere Kuenste selber immer intellectualer, unsere Sinne geistiger werden, und wie man zum Beispiel jetzt ganz anders darueber urtheilt, was sinnlich wohltoenend ist, als vor hundert Jahren: so werden auch die Formen unseres Lebens immer geistiger, fuer das Auge aelterer Zeiten vielleicht haesslicher, aber nur weil es nicht zu sehen vermag, wie das Reich der inneren, geistigen Schoenheit sich fortwaehrend vertieft und erweitert und in wie fern uns Allen der geistreiche Blick jetzt mehr gelten darf, als der schoenste Gliederbau und das erhabenste Bauwerk. 4. Astrologie und Verwandtes. - Es ist wahrscheinlich, dass die Objecte des religioesen, moralischen und aesthetischen Empfindens ebenfalls nur zur Oberflaeche der Dinge gehoeren, waehrend der Mensch gerne glaubt, dass er hier wenigstens an das Herz der Welt ruehre; er taeuscht sich, weil jene Dinge ihn so tief beseligen und so tief ungluecklich machen, und zeigt also hier denselben Stolz wie bei der Astrologie. Denn diese meint, der Sternenhimmel drehte sich um das Loos des Menschen; der moralische Mensch aber setzt voraus, Das, was ihm wesentlich am Herzen liege, muesse auch Wesen und Herz der Dinge sein. 5. Missverstaendniss des Traumes. - Im Traume glaubte der Mensch in den Zeitaltern roher uranfaenglicher Cultur eine zweite reale Welt kennen zu lernen; hier ist der Ursprung aller Metaphysik. Ohne den Traum haette man keinen Anlass zu einer Scheidung der Welt gefunden. Auch die Zerlegung in Seele und Leib haengt mit der aeltesten Auffassung des Traumes zusammen, ebenso die Annahme eines Seelenscheinleibes, also die Herkunft alles Geisterglaubens, und wahrscheinlich auch des Goetterglaubens. "Der Todte lebt fort; denn er erscheint dem Lebenden im Traume": so schloss man ehedem, durch viele Jahrtausende hindurch. 6. Der Geist der Wissenschaft im Theil, nicht im Ganzen maechtig. - Die abgetrennten kleinsten Gebiete der Wissenschaft werden rein sachlich behandelt: die allgemeinen grossen Wissenschaften dagegen legen, als Ganzes betrachtet, die Frage - eine recht unsachliche Frage freilich - auf die Lippen: wozu? zu welchem Nutzen? Wegen dieser Ruecksicht auf den Nutzen werden sie, als Ganzes, weniger unpersoenlich, als in ihren Theilen behandelt. Bei der Philosophie nun gar, als bei der Spitze der gesammten Wissenspyramide, wird unwillkuerlich die Frage nach dem Nutzen der Erkenntniss ueberhaupt aufgeworfen, und jede Philosophie hat unbewusst die Absicht, ihr den hoechsten Nutzen zuzuschreiben. Desshalb giebt es in allen Philosophien so viel hochfliegende Metaphysik und eine solche Scheu vor den unbedeutend erscheinenden Loesungen der Physik; denn die Bedeutsamkeit der Erkenntniss fuer das Leben soll so gross als moeglich erscheinen. Hier ist der Antagonismus zwischen den wissenschaftlichen Einzelgebieten und der Philosophie. Letztere will, was die Kunst will, dem Leben und Handeln moeglichste Tiefe und Bedeutung geben; in ersteren sucht man Erkenntniss und Nichts weiter, - was dabei auch herauskomme. Es hat bis jetzt noch keinen Philosophen gegeben, unter dessen Haenden die Philosophie nicht zu einer Apologie der Erkenntniss geworden waere; in diesem Puncte wenigstens ist ein jeder Optimist, dass dieser die hoechste Nuetzlichkeit zugesprochen werden muesse. Sie alle werden von der Logik tyrannisirt: und diese ist ihrem Wesen nach Optimismus. 7. Der Stoerenfried in der Wissenschaft. Die Philosophie schied sich von der Wissenschaft, als sie die Frage stellte: welches ist diejenige Erkenntniss der Welt und des Lebens, bei welcher der Mensch am gluecklichsten lebt? Diess geschah in den sokratischen Schulen: durch den Gesichtspunct des Gluecks unterband man die Blutadern der wissenschaftlichen Forschung - und thut es heute noch. 8. Pneumatische Erklaerung der Natur. - Die Metaphysik erklaert die Schrift der Natur gleichsam pneumatisch, wie die Kirche und ihre Gelehrten es ehemals mit der Bibel thaten. Es gehoert sehr viel Verstand dazu, um auf die Natur die selbe Art der strengeren Erklaerungskunst anzuwenden, wie jetzt die -Philologen sie fuer alle Buecher geschaffen haben: mit der Absicht, schlicht zu verstehen, was die Schrift sagen will, aber nicht einen doppelten Sinn zu wittern, ja vorauszusetzen. Wie aber selbst in Betreff der Buecher die schlechte Erklaerungskunst keineswegs voellig ueberwunden ist und man in der besten gebildeten Gesellschaft noch fortwaehrend auf Ueberreste allegorischer und mystischer Ausdeutung stoesst: so steht es auch in Betreff der Natur - ja noch viel schlimmer. 9. Metaphysische Welt. - Es ist wahr, es koennte eine metaphysische Welt geben; die absolute Moeglichkeit davon ist kaum zu bekaempfen. Wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und koennen diesen Kopf nicht abschneiden; waehrend doch die Frage uebrig bleibt, was von der Welt noch da waere, wenn man ihn doch abgeschnitten haette. Diess ist ein rein wissenschaftliches Problem und nicht sehr geeignet, den Menschen Sorgen zu machen; aber Alles, was ihnen bisher metaphysische Annahmen werthvoll, schreckenvoll, lustvoll gemacht, was sie erzeugt hat, ist Leidenschaft, Irrthum und Selbstbetrug; die allerschlechtesten Methoden der Erkenntniss, nicht die allerbesten, haben daran glauben lehren. Wenn man diese Methoden, als das Fundament aller vorhandenen Religionen und Metaphysiken, aufgedeckt hat, hat man sie widerlegt. Dann bleibt immer noch jene Moeglichkeit uebrig; aber mit ihr kann man gar Nichts anfangen, geschweige denn, dass man Glueck, Heil und Leben von den Spinnenfaeden einer solchen Moeglichkeit abhaengen lassen duerfte. - Denn man koennte von der metaphysischen Welt gar Nichts aussagen, als ein Anderssein, ein uns unzugaengliches, unbegreifliches Anderssein; es waere ein Ding mit negativen Eigenschaften. - Waere die Existenz einer solchen Welt noch so gut bewiesen, so stuende doch fest, dass die gleichgueltigste aller Erkenntnisse eben ihre Erkenntniss waere: noch gleichgueltiger als dem Schiffer in Sturmesgefahr die Erkenntniss von der chemischen Analysis des Wassers sein muss. 10. Harmlosigkeit der Metaphysik in der Zukunft. - Sobald die Religion, Kunst und Moral in ihrer Entstehung so beschrieben sind, dass man sie vollstaendig sich erklaeren kann, ohne zur Annahme metaphysischer Eingriffe am Beginn und im Verlaufe der Bahn seine Zuflucht zu nehmen, hoert das staerkste Interesse an dem rein theoretischen Problem vom "Ding an sich" und der "Erscheinung" auf. Denn wie es hier auch stehe: mit Religion, Kunst und Moral ruehren wir nicht an das "Wesen der Welt an sich"; wir sind im Bereiche der Vorstellung, keine "Ahnung" kann uns weitertragen. Mit voller Ruhe wird man die Frage, wie unser Weltbild so stark sich von dem erschlossenen Wesen der Welt unterscheiden koenne, der Physiologie und der Entwickelungsgeschichte der Organismen und Begriffe ueberlassen. 11. Die Sprache als vermeintliche Wissenschaft. - Die Bedeutung der Sprache fuer die Entwickelung der Cultur liegt darin, dass in ihr der Mensch eine eigene Welt neben die andere stellte, einen Ort, welchen er fuer so fest hielt, um von ihm aus die uebrige Welt aus den Angeln zu heben und sich zum Herrn derselben zu machen. Insofern der Mensch an die Begriffe und Namen der Dinge als an aeternae veritates durch lange Zeitstrecken hindurch geglaubt hat, hat er sich jenen Stolz angeeignet, mit dem er sich ueber das Thier erhob: er meinte wirklich in der Sprache die Erkenntniss der Welt zu haben. Der Sprachbildner war nicht so bescheiden, zu glauben, dass er den Dingen eben nur Bezeichnungen gebe, er drueckte vielmehr, wie er waehnte, das hoechste Wissen ueber die Dinge mit den Worten aus; in der That ist die Sprache die erste Stufe der Bemuehung um die Wissenschaft. Der Glaube an die gefundene Wahrheit ist es auch hier, aus dem die maechtigsten Kraftquellen geflossen sind. Sehr nachtraeglich -jetzt erst - daemmert es den Menschen auf, dass sie einen ungeheuren Irrthum in ihrem Glauben an die Sprache propagirt haben. Gluecklicherweise ist es zu spaet, als dass es die Entwickelung der Vernunft, die auf jenem Glauben beruht, wieder rueckgaengig machen koennte. - Auch die Logik beruht auf Voraussetzungen, denen Nichts in der wirklichen Welt entspricht, z.B. auf der Voraussetzung der Gleichheit von Dingen, der Identitaet des selben Dinges in verschiedenen Puncten der Zeit: aber jene Wissenschaft entstand durch den entgegengesetzten Glauben (dass es dergleichen in der wirklichen Welt allerdings gebe). Ebenso steht es mit der Mathematik, welche gewiss nicht entstanden waere, wenn man von Anfang an gewusst haette, dass es in der Natur keine exact gerade Linie, keinen wirklichen Kreis, kein absolutes Groessenmaass gebe. 12. Traum und Cultur.- Die Gehirnfunction, welche durch den Schlaf am meisten beeintraechtigt wird, ist das Gedaechtniss: nicht dass es ganz pausirte, - aber es ist auf einen Zustand der Unvollkommenheit zurueckgebracht, wie es in Urzeiten der Menschheit bei jedermann am Tage und im Wachen gewesen sein mag. Willkuerlich und verworren, wie es ist, verwechselt es fortwaehrend die Dinge auf Grund der fluechtigsten Aehnlichkeiten: aber mit der selben Willkuer und Verworrenheit dichteten die Voelker ihre Mythologien, und noch jetzt pflegen Reisende zu beobachten, wie sehr der Wilde zur Vergesslichkeit neigt, wie sein Geist nach kurzer Anspannung des Gedaechtnisses hin und her zu taumeln beginnt und er, aus blosser Erschlaffung, Luegen und Unsinn hervorbringt. Aber wir Alle gleichen im Traume diesem Wilden; das schlechte Wiedererkennen und irrthuemliche Gleichsetzen ist der Grund des schlechten Schliessens, dessen wir uns im Traume schuldig machen: so dass wir, bei deutlicher Vergegenwaertigung eines Traumes, vor uns erschrecken, weil wir so viel Narrheit in uns bergen. - Die vollkommene Deutlichkeit aller Traum-Vorstellungen, welche den unbedingten Glauben an ihre Realitaet zur Voraussetzung hat, erinnert uns wieder an Zustaende frueherer Menschheit, in der die Hallucination ausserordentlich haeufig war und mitunter ganze Gemeinden, ganze Voelker gleichzeitig ergriff. Also: im Schlaf und Traum machen wir das Pensum frueheren Menschenthums noch einmal durch. 13. Logik des Traumes. - Im Schlafe ist fortwaehrend unser Nervensystem durch mannichfache innere Anlaesse in Erregung, fast alle Organe secerniren und sind in Thaetigkeit, das Blut macht seinen ungestuemen Kreislauf, die Lage des Schlafenden drueckt einzelne Glieder, seine Decken beeinflussen die Empfindung verschiedenartig, der Magen verdaut und beunruhigt mit seinen Bewegungen andere Organe, die Gedaerme winden sich, die Stellung des Kopfes bringt ungewoehnliche Muskellagen mit sich, die Fuesse, unbeschuht, nicht mit den Sohlen den Boden drueckend, verursachen das Gefuehl des Ungewoehnlichen ebenso wie die andersartige Bekleidung des ganzen Koerpers, - alles diess nach seinem taeglichen Wechsel und Grade erregt durch seine Aussergewoehnlichkeit das gesammte System bis in die Gehirnfunction hinein: und so giebt es hundert Anlaesse fuer den Geist, um sich zu verwundern und nach Gruenden dieser Erregung zu suchen: der Traum aber ist das Suchen und Vorstellen der Ursachen fuer jene erregten Empfindungen, das heisst der vermeintlichen Ursachen. Wer zum Beispiel seine Fuesse mit zwei Riemen umguertet, traeumt wohl, dass zwei Schlangen seine Fuesse umringeln: diess ist zuerst eine Hypothese, sodann ein Glaube, mit einer begleitenden bildlichen Vorstellung und Ausdichtung: "diese Schlangen muessen die causa jener Empfindung sein, welche ich, der Schlafende, habe", - so urtheilt der Geist des Schlafenden. Die so erschlossene naechste Vergangenheit wird durch die erregte Phantasie ihm zur Gegenwart. So weiss jeder aus Erfahrung, wie schnell der Traeumende einen starken an ihn dringenden Ton, zum Beispiel Glockenlaeuten, Kanonenschuesse in seinen Traum verflicht, das heisst aus ihm hinterdrein erklaert, so dass er zuerst die veranlassenden Umstaende, dann jenen Ton zu erleben meint. - Wie kommt es aber, dass der Geist des Traeumenden immer so fehl greift, waehrend der selbe Geist im Wachen so nuechtern, behutsam und in Bezug auf Hypothesen so skeptisch zu sein pflegt? so dass ihm die erste beste Hypothese zur Erklaerung eines Gefuehls genuegt, um sofort an ihre Wahrheit zu glauben? (denn wir glauben im Traume an den Traum, als sei er Realitaet, das heisst wir halten unsre Hypothese fuer voellig erwiesen). - Ich meine: wie jetzt noch der Mensch im Traume schliesst, so schloss die Menschheit auch im Wachen viele Jahrtausende hindurch: die erste causa, die dem Geiste einfiel, um irgend Etwas, das der Erklaerung bedurfte, zu erklaeren, genuegte ihm und galt als Wahrheit. (So verfahren nach den Erzaehlungen der Reisenden die Wilden heute noch.) Im Traum uebt sich dieses uralte Stueck Menschenthum in uns fort, denn es ist die Grundlage, auf der die hoehere Vernunft sich entwickelte und in jedem Menschen sich noch entwickelt: der Traum bringt uns in ferne Zustaende der menschlichen Cultur wieder zurueck und giebt ein Mittel an die Hand, sie besser zu verstehen. Das Traumdenken wird uns jetzt so leicht, weil wir in ungeheuren Entwickelungsstrecken der Menschheit gerade auf diese Form des phantastischen und wohlfeilen Erklaerens aus dem ersten beliebigen Einfalle heraus so gut eingedrillt worden sind. Insofern ist der Traum eine Erholung fuer das Gehirn, welches am Tage den strengeren Anforderungen an das Denken zu genuegen hat, wie sie von der hoeheren Cultur gestellt werden. - Einen verwandten Vorgang koennen wir geradezu als Pforte und Vorhalle des Traumes noch bei wachem Verstande in Augenschein nehmen. Schliessen wir die Augen, so producirt das Gehirn eine Menge von Lichteindruecken und Farben, wahrscheinlich als eine Art Nachspiel und Echo aller jener Lichtwirkungen, welche am Tage auf dasselbe eindringen. Nun verarbeitet aber der Verstand (mit der Phantasie im Bunde) diese an sich formlosen Farbenspiele sofort zu bestimmten Figuren, Gestalten, Landschaften, belebten Gruppen. Der eigentliche Vorgang dabei ist wiederum eine Art Schluss von der Wirkung auf die Ursache; indem der Geist fragt: woher diese Lichteindruecke und Farben, supponirt er als Ursachen jene Figuren, Gestalten: sie gelten ihm als die Veranlassungen jener Farben und Lichter, weil er, am Tage, bei offenen Augen, gewohnt ist, zu jeder Farbe, jedem Lichteindrucke eine veranlassende Ursache zu finden. Hier also schiebt ihm die Phantasie fortwaehrend Bilder vor, indem sie an die Gesichtseindruecke des Tages sich in ihrer Production anlehnt, und gerade so macht es die Traumphantasie: - das heisst die vermeintliche Ursache wird aus der Wirkung erschlossen und nach der Wirkung vorgestellt: alles diess mit ausserordentlicher Schnelligkeit, so dass hier wie beim Taschenspieler eine Verwirrung des Urtheils entstehen und ein Nacheinander sich wie etwas Gleichzeitiges, selbst wie ein umgedrehtes Nacheinander ausnehmen kann. - Wir koennen aus diesen Vorgaengen entnehmen, wie spaet das schaerfere logische Denken, das Strengnehmen von Ursache und Wirkung, entwickelt worden ist, wenn unsere Vernunft- und Verstandesfunctionen jetzt noch unwillkuerlich nach jenen primitiven Formen des Schliessens zurueckgreifen und wir ziemlich die Haelfte unseres Lebens in diesem Zustande leben. - Auch der Dichter, der Kuenstler schiebt seinen Stimmungen und Zustaenden Ursachen unter, welche durchaus nicht die wahren sind; er erinnert insofern an aelteres Menschenthum und kann uns zum Verstaendnisse desselben verhelfen. 14. Miterklingen. - Alle staerkeren Stimmungen bringen ein Miterklingen verwandter Empfindungen und Stimmungen mit sich; sie wuehlen gleichsam das Gedaechtniss auf. Es erinnert sich bei ihnen Etwas in uns und wird sich aehnlicher Zustaende und deren Herkunft bewusst. So bilden sich angewoehnte rasche Verbindungen von Gefuehlen und Gedanken, welche zuletzt, wenn sie blitzschnell hinter einander erfolgen, nicht einmal mehr als Complexe, sondern als Einheiten empfunden werden. In diesem Sinne redet man vom moralischen Gefuehle, vom religioesen Gefuehle, wie als ob diess lauter Einheiten seien: in Wahrheit sind sie Stroeme mit hundert Quellen und Zufluessen. Auch hier, wie so oft, verbuergt die Einheit des Wortes Nichts fuer die Einheit der Sache. 15. Kein Innen und Aussen in der Welt. - Wie Demokrit die Begriffe Oben und Unten auf den unendlichen Raum uebertrug, wo sie keinen Sinn haben, so die Philosophen ueberhaupt den Begriff "Innen und Aussen" auf Wesen und Erscheinung der Welt; sie meinen, mit tiefen Gefuehlen komme man tief in's Innere, nahe man sich dem Herzen der Natur. Aber diese Gefuehle sind nur insofern tief, als mit ihnen, kaum bemerkbar, gewisse complicirte Gedankengruppen regelmaessig erregt werden, welche wir tief nennen; ein Gefuehl ist tief, weil wir den begleitenden Gedanken fuer tief halten. Aber der tiefe Gedanke kann dennoch der Wahrheit sehr fern sein, wie zum Beispiel jeder metaphysische; rechnet man vom tiefen Gefuehle die beigemischten Gedankenelemente ab, so bleibt das starke Gefuehl uebrig, und dieses verbuergt Nichts fuer die Erkenntniss, als sich selbst, ebenso wie der starke Glaube nur seine Staerke, nicht die Wahrheit des Geglaubten beweist. 16. Erscheinung und Ding an sich. - Die Philosophen pflegen sich vor das Leben und die Erfahrung - vor Das, was sie die Welt der Erscheinung nennen - wie vor ein Gemaelde hinzustellen, das ein fuer alle Mal entrollt ist und unveraenderlich fest den selben Vorgang zeigt: diesen Vorgang, meinen sie, muesse man richtig ausdeuten, um damit einen Schluss auf das Wesen zu machen, welches das Gemaelde hervorgebracht habe: also auf das Ding an sich, das immer als der zureichende Grund der Welt der Erscheinung angesehen zu werden pflegt. Dagegen haben strengere Logiker, nachdem sie den Begriff des Metaphysischen scharf als den des Unbedingten, folglich auch Unbedingenden festgestellt hatten, jeden Zusammenhang zwischen dem Unbedingten (der metaphysischen Welt) und der uns bekannten Welt in Abrede gestellt: so dass in der Erscheinung eben durchaus nicht das Ding an sich erscheine, und von jener auf dieses jeder Schluss abzulehnen sei. Von beiden Seiten ist aber die Moeglichkeit uebersehen, dass jenes Gemaelde - Das, was jetzt uns Menschen Leben und Erfahrung heisst - allmaehlich geworden ist, ja noch voellig im Werden ist und desshalb nicht als feste Groesse betrachtet werden soll, von welcher aus man einen Schluss ueber den Urheber (den zureichenden Grund) machen oder auch nur ablehnen duerfte. Dadurch, dass wir seit Jahrtausenden mit moralischen, aesthetischen, religioesen Anspruechen, mit blinder Neigung, Leidenschaft oder Furcht in die Welt geblickt und uns in den Unarten des unlogischen Denkens recht ausgeschwelgt haben, ist diese Welt allmaehlich so wundersam bunt, schrecklich, bedeutungstief, seelenvoll geworden, sie hat Farbe bekommen, - aber wir sind die Coloristen gewesen: der menschliche Intellect hat die Erscheinung erscheinen lassen und seine irrthuemlichen Grundauffassungen in die Dinge hineingetragen. Spaet, sehr spaet - besinnt er sich: und jetzt scheinen ihm die Welt der Erfahrung und das Ding an sich so ausserordentlich verschieden und getrennt, dass er den Schluss von jener auf dieses ablehnt - oder auf eine schauerlich geheimnissvolle Weise zum Aufgeben unsers Intellectes, unsers persoenlichen Willens auffordert: um dadurch zum Wesenhaften zu kommen, dass man wesenhaft werde. Wiederum haben Andere alle charakteristischen Zuege unserer Welt der Erscheinung - das heisst der aus intellectuellen Irrthuemern herausgesponnenen und uns angeerbten Vorstellung von der Welt - zusammengelesen und anstatt den Intellect als Schuldigen anzuklagen, das Wesen der Dinge als Ursache dieses thatsaechlichen, sehr unheimlichen Weltcharakters angeschuldigt und die Erloesung vom Sein gepredigt. - Mit all diesen Auffassungen wird der stetige und muehsame Process der Wissenschaft, welcher zuletzt einmal in einer Entstehungsgeschichte des Denkens seinen hoechsten Triumph feiert, in entscheidender Weise fertig werden, dessen Resultat vielleicht auf diesen Satz hinauslaufen duerfte: Das, was wir jetzt die Welt nennen, ist das Resultat einer Menge von Irrthuemern und Phantasien, welche in der gesammten Entwickelung der organischen Wesen allmaehlich entstanden, in einander verwachsen [sind] und uns jetzt als aufgesammelter Schatz der ganzen Vergangenheit vererbt werden, - als Schatz: denn der Werth unseres Menschenthums ruht darauf. Von dieser Welt der Vorstellung vermag uns die strenge Wissenschaft thatsaechlich nur in geringem Maasse zu loesen - wie es auch gar nicht zu wuenschen ist -, insofern sie die Gewalt uralter Gewohnheiten der Empfindung nicht wesentlich zu brechen vermag: aber sie kann die Geschichte der Entstehung jener Welt als Vorstellung ganz allmaehlich und schrittweise aufhellen - und uns wenigstens fuer Augenblicke ueber den ganzen Vorgang hinausheben. Vielleicht erkennen wir dann, dass das Ding an sich eines homerischen Gelaechters werth ist: dass es so viel, ja Alles schien und eigentlich leer, naemlich bedeutungsleer ist. 17. Metaphysische Erklaerungen. - Der junge Mensch schaetzt metaphysische Erklaerungen, weil sie ihm in Dingen, welche er unangenehm oder veraechtlich fand, etwas hoechst Bedeutungsvolles aufweisen: und ist er mit sich unzufrieden, so erleichtert sich diess Gefuehl, wenn er das innerste Weltraethsel oder Weltelend in dem wiedererkennt, was er so sehr an sich missbilligt. Sich unverantwortlicher fuehlen und die Dinge zugleich interessanter finden - das gilt ihm als die doppelte Wohlthat, welche er der Metaphysik verdankt. Spaeter freilich bekommt er Misstrauen gegen die ganze metaphysische Erklaerungsart, dann sieht er vielleicht ein, dass jene Wirkungen auf einem anderen Wege eben so gut und wissenschaftlicher zu erreichen sind: dass physische und historische Erklaerungen mindestens ebenso sehr jenes Gefuehl der Unverantwortlichkeit herbeifuehren, und dass jenes Interesse am Leben und seinen Problemen vielleicht noch mehr dabei entflammt wird. 18. Grundfragen der Metaphysik. - Wenn einmal die Entstehungsgeschichte des denkens geschrieben ist, so wird auch der folgende Satz eines ausgezeichneten Logikers von einem neuen Lichte erhellt dastehen: "Das urspruengliche allgemeine Gesetz des erkennenden Subjects besteht in der inneren Nothwendigkeit, jeden Gegenstand an sich, in seinem eigenen Wesen als einen mit sich selbst identischen, also selbstexistirenden und im Grunde stets gleichbleibenden und unwandelbaren, kurz als eine Substanz zu erkennen." Auch dieses Gesetz, welches hier "urspruenglich" genannt wird, ist geworden: es wird einmal gezeigt werden, wie allmaehlich, in den niederen Organismen, dieser Hang entsteht, wie die bloeden Maulwurfsaugen dieser Organisationen zuerst Nichts als immer das Gleiche sehen, wie dann, wenn die verschiedenen Erregungen von Lust und Unlust bemerkbarer werden, allmaehlich verschiedene Substanzen unterschieden werden, aber jede mit Einem Attribut, das heisst einer einzigen Beziehung zu einem solchen Organismus. - Die erste Stufe des Logischen ist das Urtheil; dessen Wesen besteht, nach der Feststellung der besten Logiker, im Glauben. Allem Glauben zu Grunde liegt die Empfindung des Angenehmen oder Schmerzhaften in Bezug auf das empfindende Subject. Eine neue dritte Empfindung als Resultat zweier vorangegangenen einzelnen Empfindungen ist das Urtheil in seiner niedrigsten Form. - Uns organische Wesen interessirt urspruenglich Nichts an jedem Dinge, als sein Verhaeltniss zu uns in Bezug auf Lust und Schmerz. Zwischen den Momenten, in welchen wir uns dieser Beziehung bewusst werden, den Zustaenden des Empfindens, liegen solche der Ruhe, des Nichtempfindens: da ist die Welt und jedes Ding fuer uns interesselos, wir bemerken keine Veraenderung an ihm (wie jetzt noch ein heftig Interessirter nicht merkt, dass jemand an ihm vorbeigeht). Fuer die Pflanze sind gewoehnlich alle Dinge ruhig, ewig, jedes Ding sich selbst gleich. Aus der Periode der niederen Organismen her ist dem Menschen der Glaube vererbt, dass es gleiche Dinge giebt (erst die durch hoechste Wissenschaft ausgebildete Erfahrung widerspricht diesem Satze). Der Urglaube alles Organischen von Anfang an ist vielleicht sogar, dass die ganze uebrige Welt Eins und unbewegt ist. - Am fernsten liegt fuer jene Urstufe des Logischen der Gedanke an Causalitaet: ja jetzt noch meinen wir im Grunde, alle Empfindungen und Handlungen seien Acte des freien Willens; wenn das fuehlende Individuum sich selbst betrachtet, so haelt es jede Empfindung, jede Veraenderung fuer etwas Isolirtes, das heisst Unbedingtes, Zusammenhangloses: es taucht aus uns auf, ohne Verbindung mit Frueherem oder Spaeterem. Wir haben Hunger, aber meinen urspruenglich nicht, dass der Organismus erhalten werden will, sondern jenes Gefuehl scheint sich ohne Grund und Zweck geltend zu machen, es isolirt sich und haelt sich fuer willkuerlich. Also: der Glaube an die Freiheit des Willens ist ein urspruenglicher Irrthum alles Organischen, so alt, als die Regungen des Logischen in ihm existiren; der Glaube an unbedingte Substanzen und an gleiche Dinge ist ebenfalls ein urspruenglicher, ebenso alter Irrthum alles Organischen. Insofern aber alle Metaphysik sich vornehmlich mit Substanz und Freiheit des Willens abgegeben hat, so darf man sie als die Wissenschaft bezeichnen, welche von den Grundirrthuemern des Menschen handelt, doch so, als waeren es Grundwahrheiten. 19. Die Zahl. - Die Erfindung der Gesetze der Zahlen ist auf Grund des urspruenglich schon herrschenden Irrthums gemacht, dass es mehrere gleiche Dinge gebe (aber thatsaechlich giebt es nichts Gleiches), mindestens dass es Dinge gebe (aber es giebt kein "Ding"). Die Annahme der Vielheit setzt immer voraus, dass es Etwas gebe, das vielfach vorkommt: aber gerade hier schon waltet der Irrthum, schon da fingiren wir Wesen, Einheiten, die es nicht giebt. - Unsere Empfindungen von Raum und Zeit sind falsch, denn sie fuehren, consequent geprueft, auf logische Widersprueche. Bei allen wissenschaftlichen Feststellungen rechnen wir unvermeidlich immer mit einigen falschen Groessen: aber weil diese Groessen wenigstens constant sind, wie zum Beispiel unsere Zeit- und Raumempfindung, so bekommen die Resultate der Wissenschaft doch eine vollkommene Strenge und Sicherheit in ihrem Zusammenhange mit einander; man kann auf ihnen fortbauen - bis an jenes letzte Ende, wo die irrthuemliche Grundannahme, jene constanten Fehler, in Widerspruch mit den Resultaten treten, zum Beispiel in der Atomenlehre. Da fuehlen wir uns immer noch zur Annahme eines "Dinges" oder stofflichen "Substrats", das bewegt wird, gezwungen, waehrend die ganze wissenschaftliche Procedur eben die Aufgabe verfolgt hat, alles Dingartige (Stoffliche) in Bewegungen aufzuloesen: wir scheiden auch hier noch mit unserer Empfindung Bewegendes und Bewegtes und kommen aus diesem Zirkel nicht heraus, weil der Glaube an Dinge mit unserem Wesen von Alters her verknotet ist. - Wenn Kant sagt "der Verstand schoepft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor", so ist diess in Hinsicht auf den Begriff der Natur voellig wahr, welchen wir genoethigt sind, mit ihr zu verbinden (Natur = Welt als Vorstellung, das heisst als Irrthum), welcher aber die Aufsummirung einer Menge von Irrthuemern des Verstandes ist. - Auf eine Welt, welche nicht unsere Vorstellung ist, sind die Gesetze der Zahlen gaenzlich unanwendbar: diese gelten allein in der Menschen-Welt. 20. Einige Sprossen zurueck. - Die eine, gewiss sehr hohe Stufe der Bildung ist erreicht, wenn der Mensch ueber aberglaeubische und religioese Begriffe und Aengste hinauskommt und zum Beispiel nicht mehr an die lieben Englein oder die Erbsuende glaubt, auch vom Heil der Seelen zu reden verlernt hat: ist er auf dieser Stufe der Befreiung, so hat er auch noch mit hoechster Anspannung seiner Besonnenheit die Metaphysik zu ueberwinden. Dann aber ist eine ruecklaeufige Bewegung noethig: er muss die historische Berechtigung, ebenso die psychologische in solchen Vorstellungen begreifen, er muss erkennen, wie die groesste Foerderung der Menschheit von dorther gekommen sei und wie man sich, ohne eine solche ruecklaeufige Bewegung, der besten Ergebnisse der bisherigen Menschheit berauben wuerde. - In Betreff der philosophischen Metaphysik sehe ich jetzt immer Mehrere, welche an das negative Ziel (dass jede positive Metaphysik Irrthum ist) gelangt sind, aber noch Wenige, welche einige Sprossen rueckwaerts steigen; man soll naemlich ueber die letzte Sprosse der Leiter wohl hinausschauen, aber nicht auf ihr stehen wollen. Die Aufgeklaertesten bringen es nur so weit, sich von der Metaphysik zu befreien und mit Ueberlegenheit auf sie zurueckzusehen: waehrend es doch auch hier, wie im Hippodrom, noth thut, um das Ende der Bahn herumzubiegen. 21. Muthmaasslicher Sieg der Skepsis. - Man lasse einmal den skeptischen Ausgangspunct gelten: gesetzt, es gaebe keine andere, metaphysische Welt und alle aus der Metaphysik genommenen Erklaerungen der uns einzig bekannten Welt waeren unbrauchbar fuer uns, mit welchem Blick wuerden wir dann auf Menschen und Dinge sehen? Diess kann man sich ausdenken, es ist nuetzlich, selbst wenn die Frage, ob etwas Metaphysisches wissenschaftlich durch Kant und Schopenhauer bewiesen sei, einmal abgelehnt wuerde. Denn es ist, nach historischer Wahrscheinlichkeit, sehr gut moeglich, dass die Menschen einmal in dieser Beziehung im Ganzen und Allgemeinen skeptisch werden; da lautet also die Frage: wie wird sich dann die menschliche Gesellschaft, unter dem Einfluss einer solchen Gesinnung, gestalten? Vielleicht ist der wissenschaftliche Beweis irgend einer metaphysischen Welt schon so schwierig, dass die Menschheit ein Misstrauen gegen ihn nicht mehr los wird. Und wenn man gegen die Metaphysik Misstrauen hat, so giebt es im Ganzen und Grossen die selben Folgen, wie wenn sie direct widerlegt waere und man nicht mehr an sie glauben duerfte. Die historische Frage in Betreff einer unmetaphysischen Gesinnung der Menschheit bleibt in beiden Faellen die selbe. 22. Unglaube an das "monumentum aere perennius". - Ein wesentlicher Nachtheil, welchen das Aufhoeren metaphysischer Ansichten mit sich bringt, liegt darin, dass das Individuum zu streng seine kurze Lebenszeit in's Auge fasst und keine staerkeren Antriebe empfaengt, an dauerhaften, fuer Jahrhunderte angelegten Institutionen zu bauen; es will die Frucht selbst vom Baume pfluecken, den es pflanzt, und desshalb mag es jene Baeume nicht mehr pflanzen, welche eine Jahrhundert lange gleichmaessige Pflege erfordern und welche lange Reihenfolgen von Geschlechtern zu ueberschatten bestimmt sind. Denn metaphysische Ansichten geben den Glauben, dass in ihnen das letzte endgueltige Fundament gegeben sei, auf welchem sich nunmehr alle Zukunft der Menschheit niederzulassen und anzubauen genoethigt sei; der Einzelne foerdert sein Heil, wenn er zum Beispiel eine Kirche, ein Kloster stiftet, es wird ihm, so meint er, im ewigen Fortleben der Seele angerechnet und vergolten, es ist Arbeit am ewigen Heil der Seele. - Kann die Wissenschaft auch solchen Glauben an ihre Resultate erwecken? In der That braucht sie den Zweifel und das Misstrauen als treuesten Bundesgenossen; trotzdem kann mit der Zeit die Summe der unantastbaren, das heisst alle Stuerme der Skepsis, alle Zersetzungen ueberdauernden Wahrheiten so gross werden (zum Beispiel in der Diaetetik der Gesundheit), dass man sich daraufhin entschliesst, "ewige" Werke zu gruenden. Einstweilen wirkt der Contrast unseres aufgeregten Ephemeren-Daseins gegen die langathmige Ruhe metaphysischer Zeitalter noch zu stark, weil die beiden Zeiten noch zu nahe gestellt sind; der einzelne Mensch selber durchlaeuft jetzt zu viele innere und aeussere Entwickelungen, als dass er auch nur auf seine eigene Lebenszeit sich dauerhaft und ein fuer alle Mal einzurichten wagt. Ein ganz moderner Mensch, der sich zum Beispiel ein Haus bauen will, hat dabei ein Gefuehl, als ob er bei lebendigem Leibe sich in ein Mausoleum vermauern wolle. 23. Zeitalter der Vergleichung. - je weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so groesser wird die innere Bewegung der Motive, um so groesser wiederum, dem entsprechend, die aeussere Unruhe, das Durcheinanderfluten der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen. Fuer wen giebt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an einen Ort sich und seine Nachkommen anzubinden? Fuer wen giebt es ueberhaupt noch etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Kuenste neben einander nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralitaet, der Sitten, der Culturen. - Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden koennen; was frueher, bei der immer localisirten Herrschaft jeder Cultur, nicht moeglich war, entsprechend der Gebundenheit aller kuenstlerischen Stilarten an Ort und Zeit. Jetzt wird eine Vermehrung des aesthetischen Gefuehls endgueltig unter so vielen der Vergleichung sich darbietenden Formen entscheiden: sie wird die meisten, - naemlich alle, welche durch dasselbe abgewiesen werden, - absterben lassen. Ebenso findet jetzt ein Auswaehlen in den Formen und Gewohnheiten der hoeheren Sittlichkeit statt, deren Ziel kein anderes, als der Untergang der niedrigeren Sittlichkeiten sein kann. Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das ist sein Stolz, - aber billigerweise auch sein Leiden. Fuerchten wir uns vor diesem Leiden nicht! Vielmehr wollen wir die Aufgabe, welche das Zeitalter uns stellt, so gross verstehen, als wir nur vermoegen: so wird uns die Nachwelt darob segnen, - eine Nachwelt, die ebenso sich ueber die abgeschlossenen originalen Volks-Culturen hinaus weiss, als ueber die Cultur der Vergleichung, aber auf beide Arten der Cultur als auf verehrungswuerdige Alterthuemer mit Dankbarkeit zurueckblickt. 24. Moeglichkeit des Fortschritts. - Wenn ein Gelehrter der alten Cultur es verschwoert, nicht mehr mit Menschen umzugehen, welche an den Fortschritt glauben, so hat er Recht. Denn die alte Cultur hat ihre Groesse und Guete hinter sich und die historische Bildung zwingt Einen, zuzugestehen, dass sie nie wieder frisch werden kann; es ist ein unausstehlicher Stumpfsinn oder ebenso unleidliche Schwaermerei noethig, um diess zu leugnen. Aber die Menschen koennen mit Bewusstsein beschliessen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln, waehrend sie sich frueher unbewusst und zufaellig entwickelten: sie koennen jetzt bessere Bedingungen fuer die Entstehung der Menschen, ihre Ernaehrung, Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes oekonomisch verwalten, die Kraefte der Menschen ueberhaupt gegen einander abwaegen und einsetzen. Diese neue bewusste Cultur toedtet die alte, welche, als Ganzes angeschaut, ein unbewusstes Thier- und Pflanzenleben gefuehrt hat; sie toedtet auch das Misstrauen gegen den Fortschritt, -er ist moeglich. Ich will sagen: es ist voreilig und fast unsinnig, zu glauben, dass der Fortschritt nothwendig erfolgen muesse; aber wie koennte man leugnen, dass er moeglich sei? Dagegen ist ein Fortschritt im Sinne und auf dem Wege der alten Cultur nicht einmal denkbar. Wenn romantische Phantastik immerhin auch das Wort "Fortschritt" von ihren Zielen (z.B. abgeschlossenen originalen Volks-Culturen) gebraucht: jedenfalls entlehnt sie das Bild davon aus der Vergangenheit; ihr Denken und Vorstellen ist auf diesem Gebiete ohne jede Originalitaet. 25. Privat- und Welt-Moral. - Seitdem der Glaube aufgehoert hat, dass ein Gott die Schicksale der Welt im Grossen leite und, trotz aller anscheinenden Kruemmungen im Pfade der Menschheit, sie doch herrlich hinausfuehre, muessen die Menschen selber sich oekumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen. Die aeltere Moral, namentlich die Kant's, verlangt vom Einzelnen Handlungen, welche man von allen Menschen wuenscht: das war eine schoene naive Sache; als ob ein jeder ohne Weiteres wuesste, bei welcher Handlungsweise das Ganze der Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen ueberhaupt wuenschenswerth seien; es ist eine Theorie wie die vom Freihandel, voraussetzend, dass die allgemeine Harmonie sich nach eingeborenen Gesetzen des Besserwerdens von selbst ergeben muesse. Vielleicht laesst es ein zukuenftiger Ueberblick ueber die Beduerfnisse der Menschheit durchaus nicht wuenschenswerth erscheinen, dass alle Menschen gleich handeln, vielmehr duerften im Interesse oekumenischer Ziele fuer ganze Strecken der Menschheit specielle, vielleicht unter Umstaenden sogar boese Aufgaben zu stellen sein. - Jedenfalls muss, wenn die Menschheit sich nicht durch eine solche bewusste Gesammtregierung zu Grunde richten soll, vorher eine alle bisherigen Grade uebersteigende Kenntniss der Bedingungen der Cultur, als wissenschaftlicher Maassstab fuer oekumenische Ziele, gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der grossen Geister des naechsten Jahrhunderts. 26. Die Reaction als Fortschritt. - Mitunter erscheinen schroffe, gewaltsame und fortreissende, aber trotzdem zurueckgebliebene Geister, welche eine vergangene Phase der Menschheit noch einmal heraufbeschwoeren: sie dienen zum Beweis, dass die neuen Richtungen, welchen sie entgegenwirken, noch nicht kraeftig genug sind, dass Etwas an ihnen fehlt: sonst wuerden sie jenen Beschwoerern besseren Widerpart halten. So zeugt zum Beispiel Luther's Reformation dafuer, dass in seinem Jahrhundert alle Regungen der Freiheit des Geistes noch unsicher, zart, jugendlich waren; die Wissenschaft konnte noch nicht ihr Haupt erheben. Ja, die gesammte Renaissance erscheint wie ein erster Fruehling, der fast wieder weggeschneit wird. Aber auch in unserem Jahrhundert bewies Schopenhauer's Metaphysik, dass auch jetzt der wissenschaftliche Geist noch nicht kraeftig genug ist: so konnte die ganze mittelalterliche christliche Weltbetrachtung und Mensch-Empfindung noch einmal in Schopenhauer's Lehre, trotz der laengst errungenen Vernichtung aller christlichen Dogmen, eine Auferstehung feiern. Viel Wissenschaft klingt in seine Lehre hinein, aber sie beherrscht dieselbe nicht, sondern das alte, wohlbekannte "metaphysische Beduerfniss". Es ist gewiss einer der groessten und ganz unschaetzbaren Vortheile, welche wir aus Schopenhauer gewinnen, dass er unsere Empfindung zeitweilig in aeltere, maechtige Betrachtungsarten der Welt und Menschen zurueckzwingt, zu welchen sonst uns so leicht kein Pfad fuehren wuerde. Der Gewinn fuer die Historie und die Gerechtigkeit ist sehr gross: ich glaube, dass es jetzt Niemandem so leicht gelingen moechte, ohne Schopenhauer's Beihuelfe dem Christenthum und seinen asiatischen Verwandten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: was namentlich vom Boden des noch vorhandenen Christenthums aus unmoeglich ist. Erst nach diesem grossen Erfolge der Gerechtigkeit, erst nachdem wir die historische Betrachtungsart, welche die Zeit der Aufklaerung mit sich brachte, in einem so wesentlichen Puncte corrigirt haben, duerfen wir die Fahne der Aufklaerung - die Fahne mit den drei Namen: Petrarca, Erasmus, Voltaire - von Neuem weiter tragen. Wir haben aus der Reaction einen Fortschritt gemacht. 27. Ersatz der Religion. - Man glaubt einer Philosophie etwas Gutes nachzusagen, wenn man sie als Ersatz der Religion fuer das Volk hinstellt. In der That bedarf es in der geistigen Oekonomie gelegentlich ueberleitender Gedankenkreise; so ist der Uebergang aus Religion in wissenschaftliche Betrachtung ein gewaltsamer, gefaehrlicher Sprung, Etwas, das zu widerrathen ist. Insofern hat man mit jener Anempfehlung Recht. Aber endlich sollte man doch auch lernen, dass die Beduerfnisse, welche die Religion befriedigt hat und nun die Philosophie befriedigen soll, nicht unwandelbar sind; diese selbst kann man schwaechen und ausrotten. Man denke zum Beispiel an die christliche Seelennoth, das Seufzen ueber die innere Verderbtheit, die Sorge um das Heil, - alles Vorstellungen, welche nur aus Irrthuemern der Vernunft herruehren und gar keine Befriedigung, sondern Vernichtung verdienen. Eine Philosophie kann entweder so nuetzen, dass sie jene Beduerfnisse auch befriedigt oder dass sie dieselben beseitigt; denn es sind angelernte, zeitlich begraenzte Beduerfnisse, welche auf Voraussetzungen beruhen, die denen der Wissenschaft widersprechen. Hier ist, um einen Uebergang zu machen, die Kunst viel eher zu benutzen, um das mit Empfindungen ueberladene Gemueth zu erleichtern; denn durch sie werden jene Vorstellungen viel weniger unterhalten, als durch eine metaphysische Philosophie. Von der Kunst aus kann man dann leichter in eine wirklich befreiende philosophische Wissenschaft uebergehen. 28. Verrufene Worte. - Weg mit den bis zum Ueberdruss verbrauchten Woertern Optimismus und Pessimismus! Denn der Anlass, sie zu gebrauchen, fehlt von Tag zu Tage mehr: nur die Schwaetzer haben sie jetzt noch so unumgaenglich noethig. Denn wesshalb in aller Welt sollte jemand Optimist sein wollen, wenn er nicht einen Gott zu vertheidigen hat, welcher die beste der Welten geschaffen haben muss, falls er selber das Gute und Vollkommene ist, - welcher Denkende hat aber die Hypothese eines Gottes noch noethig? - Es fehlt aber auch jeder Anlass zu einem pessimistischen Glaubensbekenntniss, wenn man nicht ein Interesse daran hat, den Advocaten Gottes, den Theologen oder den theologisirenden Philosophen aergerlich zu werden und die Gegenbehauptung kraeftig aufzustellen: dass das Boese regiere, dass die Unlust groesser sei, als die Lust, dass die Welt ein Machwerk, die Erscheinung eines boesen Willens zum Leben sei. Wer aber kuemmert sich jetzt noch um die Theologen - ausser den Theologen? - Abgesehen von aller Theologie und ihrer Bekaempfung liegt es auf der Hand, dass die Welt nicht gut und nicht boese, geschweige denn die beste oder die schlechteste ist, und dass diese Begriffe "gut" und "boese" nur in Bezug auf Menschen Sinn haben, ja vielleicht selbst hier, in der Weise, wie sie gewoehnlich gebraucht werden, nicht berechtigt sind: der schimpfenden und verherrlichenden Weltbetrachtung muessen wir uns in jedem Falle entschlagen. 29. Vom Dufte der Bluethen berauscht. - Das Schiff der Menschheit, meint man, hat einen immer staerkeren Tiefgang, je mehr es belastet wird; man glaubt, je tiefer der Mensch denkt, je zarter er fuehlt, je hoeher er sich schaetzt, je weiter seine Entfernung von den anderen Thieren wird, - je mehr er als das Genie unter den Thieren erscheint, - um so naeher werde er dem wirklichen Wesen der Welt und deren Erkenntniss kommen: diess thut er auch wirklich durch die Wissenschaft, aber er meint diess noch mehr durch seine Religionen und Kuenste zu thun. Diese sind zwar eine Bluethe der Welt, aber durchaus nicht der Wurzel der Welt naeher, als der Stengel ist: man kann aus ihnen das Wesen der Dinge gerade gar nicht besser verstehen, obschon diess fast jedermann glaubt. Der Irrthum hat den Menschen so tief, zart, erfinderisch gemacht, eine solche Bluethe, wie Religionen und Kuenste, herauszutreiben. Das reine Erkennen waere dazu ausser Stande gewesen. Wer uns das Wesen der Welt enthuellte, wuerde uns Allen die unangenehmste Enttaeuschung machen. Nicht die Welt als Ding an sich, sondern die Welt als Vorstellung (als Irrthum) ist so bedeutungsreich, tief, wundervoll, Glueck und Unglueck im Schoosse tragend. Diess Resultat fuehrt zu einer Philosophie der logischen Weltverneinung: welche uebrigens sich mit einer praktischen Weltbejahung ebensogut wie mit deren Gegentheile vereinigen laesst. 30. Schlechte Gewohnheiten im Schliessen. - Die gewoehnlichsten Irrschluesse der Menschen sind diese: eine Sache existirt, also hat sie ein Recht. Hier wird aus der Lebensfaehigkeit auf die Zweckmaessigkeit, aus der Zweckmaessigkeit auf die Rechtmaessigkeit geschlossen. Sodann: eine Meinung beglueckt, also ist sie die wahre, ihre Wirkung ist gut, also ist sie selber gut und wahr. Hier legt man der Wirkung das Praedicat beglueckend, gut, im Sinne des Nuetzlichen, bei und versieht nun die Ursache mit dem selben Praedicat gut, aber hier im Sinne des Logisch-Gueltigen. Die Umkehrung der Saetze lautet: eine Sache kann sich nicht durchsetzen, erhalten, also ist sie unrecht; eine Meinung quaelt, regt auf, also ist sie falsch. Der Freigeist, der das Fehlerhafte dieser Art zu schliessen nur allzu haeufig kennen lernt und an ihren Folgen zu leiden hat, unterliegt oft der Verfuehrung, die entgegengesetzten Schluesse zu machen, welche im Allgemeinen natuerlich ebenso sehr Irrschluesse sind: eine Sache kann sich nicht durchsetzen, also ist sie gut; eine Meinung macht Noth, beunruhigt, also ist sie wahr. 31. Das Unlogische nothwendig. - Zu den Dingen, welche einen Denker in Verzweifelung bringen koennen, gehoert die Erkenntniss, dass das Unlogische fuer den Menschen noethig ist, und dass aus dem Unlogischen vieles Gute entsteht. Es steckt so fest in den Leidenschaften, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion und ueberhaupt in Allem, was dem Leben Werth verleiht, dass man es nicht herausziehen kann, ohne damit diese schoenen Dinge heillos zu beschaedigen. Es sind nur die allzu naiven Menschen, welche glauben koennen, dass die Natur des Menschen in eine rein logische verwandelt werden koenne; wenn es aber Grade der Annaeherung an dieses Ziel geben sollte, was wuerde da nicht Alles auf diesem Wege verloren gehen muessen! Auch der vernuenftigste Mensch bedarf von Zeit zu Zeit wieder der Natur, das heisst seiner unlogischen Grundstellung zu allen Dingen. 32. Ungerechtsein nothwendig. - Alle Urtheile ueber den Werth des Lebens sind unlogisch entwickelt und desshalb ungerecht. Die Unreinheit des Urtheils liegt erstens in der Art, wie das Material vorliegt, naemlich sehr unvollstaendig, zweitens in der Art, wie daraus die Summe gebildet wird, und drittens darin, dass jedes einzelne Stueck des Materials wieder das Resultat unreinen Erkennens ist und zwar diess mit voller Nothwendigkeit. Keine Erfahrung zum Beispiel ueber einen Menschen, stuende er uns auch noch so nah, kann vollstaendig sein, so dass wir ein logisches Recht zu einer Gesammtabschaetzung desselben haetten; alle Schaetzungen sind voreilig und muessen es sein. Endlich ist das Maass, womit wir messen, unser Wesen, keine unabaenderliche Groesse, wir haben Stimmungen und Schwankungen, und doch muessten wir uns selbst als ein festes Maass kennen, um das Verhaeltniss irgend einer Sache zu uns gerecht abzuschaetzen. Vielleicht wird aus alledem folgen, dass man gar nicht urtheilen sollte; wenn man aber nur leben koennte, ohne abzuschaetzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben! - denn alles Abgeneigtsein haengt mit einer Schaetzung zusammen, ebenso alles Geneigtsein. Ein Trieb zu Etwas oder von Etwas weg, ohne ein Gefuehl davon, dass man das Foerderliche wolle, dem Schaedlichen ausweiche, ein Trieb ohne eine Art von erkennender Abschaetzung ueber den Werth des Zieles, existirt beim Menschen nicht. Wir sind von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen, und koennen diess erkennen: diess ist eine der groessten und unaufloesbarsten Disharmonien des Daseins. 33. Der Irrthum ueber das Leben zum Leben nothwendig. - Jeder Glaube an Werth und Wuerdigkeit des Lebens beruht auf unreinem Denken; er ist allein dadurch moeglich, dass das Mitgefuehl fuer das allgemeine Leben und Leiden der Menschheit sehr schwach im Individuum entwickelt ist. Auch die seltneren Menschen, welche ueberhaupt ueber sich hinaus denken, fassen nicht dieses allgemeine Leben, sondern abgegraenzte Theile desselben in's Auge. Versteht man es, sein Augenmerk vornehmlich auf Ausnahmen, ich meine auf die hohen Begabungen und die reinen Seelen zu richten, nimmt man deren Entstehung zum Ziel der ganzen Weltentwickelung und erfreut sich an deren Wirken, so mag man an den Werth des Lebens glauben, weil man naemlich die anderen Menschen dabei uebersieht: also unrein denkt. Und ebenso, wenn man zwar alle Menschen in's Auge fasst, aber in ihnen nur eine Gattung von Trieben, die weniger egoistischen, gelten laesst und sie in Betreff der anderen Triebe entschuldigt: dann kann man wiederum von der Menschheit im Ganzen Etwas hoffen und insofern an den Werth des Lebens glauben: also auch in diesem Falle durch Unreinheit des Denkens. Mag man sich aber so oder so verhalten, man ist mit diesem Verhalten eine Ausnahme unter den Menschen. Nun ertragen aber gerade die allermeisten Menschen das Leben, ohne erheblich zu murren, und glauben somit an den Werth des Daseins, aber gerade dadurch, dass sich jeder allein will und behauptet, und nicht aus sich heraustritt wie jene Ausnahmen: alles Ausserpersoenliche ist ihnen gar nicht oder hoechstens als ein schwacher Schatten bemerkbar. Also darauf allein beruht der Werth des Lebens fuer den gewoehnlichen, alltaeglichen Menschen, dass er sich wichtiger nimmt, als die Welt. Der grosse Mangel an Phantasie, an dem er leidet, macht, dass er sich nicht in andere Wesen hineinfuehlen kann und daher so wenig als moeglich an ihrem Loos und Leiden theilnimmt. Wer dagegen wirklich daran theilnehmen koennte, muesste am Werthe des Lebens verzweifeln; gelaenge es ihm, das Gesammtbewusstsein der Menschheit in sich zu fassen und zu empfinden, er wuerde mit einem Fluche gegen das Dasein zusammenbrechen, - denn die Menschheit hat im Ganzen keine Ziele, folglich kann der Mensch, in Betrachtung des ganzen Verlaufes, nicht darin seinen Trost und Halt finden, sondern seine Verzweifelung. Sieht er bei Allem, was er thut, auf die letzte Ziellosigkeit der Menschen, so bekommt sein eigenes Wirken in seinen Augen den Charakter der Vergeudung. Sich aber als Menschheit (und nicht nur als Individuum) ebenso vergeudet zu fuehlen, wie wir die einzelne Bluethe von der Natur vergeudet sehen, ist ein Gefuehl ueber alle Gefuehle. - Wer ist aber desselben faehig? Gewiss nur ein Dichter: und Dichter wissen sich immer zu troesten. 34. Zur Beruhigung.- Aber wird so unsere Philosophie nicht zur Tragoedie? Wird die Wahrheit nicht dem Leben, dem Besseren feindlich? Eine Frage scheint uns die Zunge zu beschweren und doch nicht laut werden zu wollen: ob man bewusst in der Unwahrheit bleiben koenne? oder, wenn man diess muesse, ob da nicht der Tod vorzuziehen sei? Denn ein Sollen giebt es nicht mehr; die Moral, insofern sie ein Sollen war, ist ja durch unsere Betrachtungsart ebenso vernichtet wie die Religion. Die Erkenntniss kann als Motive nur Lust und Unlust, Nutzen und Schaden bestehen lassen: wie aber werden diese Motive sich mit dem Sinne fuer Wahrheit auseinandersetzen? Auch sie beruehren sich ja mit Irrthuemern (insofern, wie gesagt, Neigung und Abneigung und ihre sehr ungerechten Messungen unsere Lust und Unlust wesentlich bestimmen). Das ganze menschliche Leben ist tief in die Unwahrheit eingesenkt; der Einzelne kann es nicht aus diesem Brunnen herausziehen, ohne dabei seiner Vergangenheit aus tiefstem Grunde gram zu werden, ohne seine gegenwaertigen Motive, wie die der Ehre, ungereimt zu finden und den Leidenschaften, welche zur Zukunft und zu einem Glueck in derselben hindraengen, Hohn und Verachtung entgegenzustellen. Ist es wahr, bliebe einzig noch eine Denkweise uebrig, welche als persoenliches Ergebniss die Verzweifelung, als theoretisches eine Philosophie der Zerstoerung nach sich zoege? - Ich glaube, die Entscheidung ueber die Nachwirkung der Erkenntniss wird durch das Temperament eines Menschen gegeben: ich koennte mir eben so gut, wie jene geschilderte und bei einzelnen Naturen moegliche Nachwirkung, eine andere denken, vermoege deren ein viel einfacheres, von Affecten reineres Leben entstuende, als das jetzige ist: so dass zuerst zwar die alten Motive des heftigeren Begehrens noch Kraft haetten, aus alter vererbter Gewoehnung her, allmaehlich aber unter dem Einflusse der reinigenden Erkenntniss schwaecher wuerden. Man lebte zuletzt unter den Menschen und mit sich wie in der Natur, ohne Lob, Vorwuerfe, Ereiferung, an Vielem sich wie an einem Schauspiel weidend, vor dem man sich bisher nur zu fuerchten hatte. Man waere die Emphasis los und wuerde die Anstachelung des Gedankens, dass man nicht nur Natur oder mehr als Natur sei, nicht weiter empfinden. Freilich gehoerte hierzu, wie gesagt, ein gutes Temperament, eine gefestete, milde und im Grunde frohsinnige Seele, eine Stimmung, welche nicht vor Tuecken und ploetzlichen Ausbruechen auf der Hut zu sein brauchte und in ihren Aeusserungen Nichts von dem knurrenden Tone und der Verbissenheit an sich truege, - jenen bekannten laestigen Eigenschaften alter Hunde und Menschen, die lange an der Kette gelegen haben. Vielmehr muss ein Mensch, von dem in solchem Maasse die gewoehnlichen Fesseln des Lebens abgefallen sind, dass er nur deshalb weiter lebt, um immer besser zu erkennen, auf Vieles, ja fast auf Alles, was bei den anderen Menschen Werth hat, ohne Neid und Verdruss verzichten koennen, ihm muss als der wuenschenswertheste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben ueber Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkoemmlichen Schaetzungen der Dinge genuegen. Die Freude an diesem Zustande theilt er gerne mit und er hat vielleicht nichts Anderes mitzutheilen, - worin freilich eine Entbehrung, eine Entsagung mehr liegt. Will man aber trotzdem mehr von ihm, so wird er mit wohlwollendem Kopfschuetteln auf seinen Bruder hinweisen, den freien Menschen der That, und vielleicht ein Wenig Spott nicht verhehlen: denn mit dessen "Freiheit" hat es eine eigene Bewandtniss. Zweites Hauptstueck. Zur Geschichte der moralischen Empfindungen. 35. Vortheile der psychologischen Beobachtung. - Dass das Nachdenken ueber Menschliches, Allzumenschliches - oder wie der gelehrtere Ausdruck lautet: die psychologische Beobachtung - zu den Mitteln gehoere, vermoege deren man sich die Last des Lebens erleichtern koenne, dass die Uebung in dieser Kunst Geistesgegenwart in schwierigen Lagen und Unterhaltung inmitten einer langweiligen Umgebung verleihe, ja dass man den dornenvollsten und unerfreulichsten Strichen des eigenen Lebens Sentenzen abpfluecken und sich dabei ein Wenig wohler fuehlen koenne: das glaubte man, wusste man - in frueheren Jahrhunderten. Warum vergass es dieses Jahrhundert, wo wenigstens in Deutschland, ja in Europa, die Armuth an psychologischer Beobachtung durch viele Zeichen sich zu erkennen giebt? Nicht gerade in Roman, Novelle und philosophischer Betrachtung, - diese sind das Werk von Ausnahmemenschen; schon mehr in der Beurtheilung oeffentlicher Ereignisse und Persoenlichkeiten: vor Allem aber fehlt die Kunst der psychologischen Zergliederung und Zusammenrechnung in der Gesellschaft aller Staende, in der man wohl viel ueber Menschen, aber gar nicht ueber den Menschen spricht. Warum doch laesst man sich den reichsten und harmlosesten Stoff der Unterhaltung entgehen? Warum liest man nicht einmal die grossen Meister der psychologischen Sentenz mehr? - denn, ohne jede Uebertreibung gesprochen: der Gebildete in Europa, der La Rochefoucauld und seine Geistes- und Kunstverwandten gelesen hat, ist selten zu finden; und noch viel seltener Der, welcher sie kennt und sie nicht schmaeht. Wahrscheinlich wird aber auch dieser ungewoehnliche Leser viel weniger Freude an ihnen haben, als die Form jener Kuenstler ihm geben sollte; denn selbst der feinste Kopf ist nicht vermoegend, die Kunst der Sentenzen-Schleiferei gebuehrend zu wuerdigen, wenn er nicht selber zu ihr erzogen ist, in ihr gewetteifert hat. Man nimmt, ohne solche practische Belehrung, dieses Schaffen und Formen fuer leichter als es ist, man fuehlt das Gelungene und Reizvolle nicht scharf genug heraus. Desshalb haben die jetzigen Leser von Sentenzen ein verhaeltnissmaessig unbedeutendes Vergnuegen an ihnen, ja kaum einen Mund voll Annehmlichkeit, so dass es ihnen ebenso geht, wie den gewoehnlichen Betrachtern von Kameen: als welche loben, weil sie nicht lieben koennen und schnell bereit sind zu bewundern, schneller aber noch, fortzulaufen. 36. Einwand.- Oder sollte es gegen jenen Satz, dass die psychologische Beobachtung zu den Reiz-, Heil- und Erleichterungsmitteln des Daseins gehoere, eine Gegenrechnung geben? Sollte man sich genug von den unangenehmen Folgen dieser Kunst ueberzeugt haben, um jetzt mit Absichtlichkeit den Blick der sich Bildenden von ihr abzulenken? In der That, ein gewisser blinder Glaube an die Guete der menschlichen Natur, ein eingepflanzter Widerwille vor der Zerlegung menschlicher Handlungen, eine Art Schamhaftigkeit in Hinsicht auf die Nacktheit der Seele moegen wirklich fuer das gesammte Glueck eines Menschen wuenschenswerthere Dinge sein, als jene, in einzelnen Faellen hilfreiche Eigenschaft der psychologischen Scharfsichtigkeit; und vielleicht hat der Glaube an das Gute, an tugendhafte Menschen und Handlungen, an eine Fuelle des unpersoenlichen Wohlwollens in der Welt die Menschen besser gemacht, insofern er dieselben weniger misstrauisch machte. Wenn man die Helden Plutarch's mit Begeisterung nachahmt, und einen Abscheu davor empfindet, den Motiven ihres Handelns anzweifelnd nachzuspueren, so hat zwar nicht die Wahrheit, aber die Wohlfahrt der menschlichen Gesellschaft ihren Nutzen dabei: der psychologische Irrthum und ueberhaupt die Dumpfheit auf diesem Gebiete hilft der Menschlichkeit vorwaerts, waehrend die Erkenntniss der Wahrheit vielleicht durch die anregende Kraft einer Hypothese mehr gewinnt, wie sie La Rochefoucauld der ersten Ausgabe seiner "Sentences et maximes morales" vorangestellt hat: "Ce que le monde nomme vertu n'est d'ordinaire qu'un fantoame forme par nos passions, a qui on donne un nom honnete pour faire impunement ce qu'on veut." La Rochefoucauld und jene anderen franzoesischen Meister der Seelenpruefung (denen sich neuerdings auch ein Deutscher, der Verfasser der "Psychologischen Beobachtungen" zugesellt hat) gleichen scharf zielenden Schuetzen, welche immer und immer wieder in's Schwarze treffen, - aber in's Schwarze der menschlichen Natur. Ihr Geschick erregt Staunen, aber endlich verwuenscht ein Zuschauer, der nicht vom Geiste der Wissenschaft, sondern der Menschenfreundlichkeit geleitet wird, eine Kunst, welche den Sinn der Verkleinerung und Verdaechtigung in die Seelen der Menschen zu pflanzen scheint. 37. Trotzdem.- Wie es sich nun mit Rechnung und Gegenrechnung verhalte: in dem gegenwaertigen Zustande einer bestimmten einzelnen Wissenschaft ist die Auferweckung der moralischen Beobachtung noethig geworden, und der grausame Anblick des psychologischen Secirtisches und seiner Messer und Zangen kann der Menschheit nicht erspart bleiben. Denn hier gebietet jene Wissenschaft, welche nach Ursprung und Geschichte der sogenannten moralischen Empfindungen fragt und welche im Fortschreiten die verwickelten sociologischen Probleme aufzustellen und zu loesen hat: - die aeltere Philosophie kennt die letzteren gar nicht und ist der Untersuchung von Ursprung und Geschichte der moralischen Empfindungen unter duerftigen Ausfluechten immer aus dem Wege gegangen. Mit welchen Folgen: das laesst sich jetzt sehr deutlich ueberschauen, nachdem an vielen Beispielen nachgewiesen ist, wie die Irrthuemer der groessten Philosophen gewoehnlich ihren Ausgangspunct in einer falschen Erklaerung bestimmter menschlicher Handlungen und Empfindungen haben, wie auf Grund einer irrthuemlichen Analysis, zum Beispiel der sogenannten unegoistischen Handlungen, eine falsche Ethik sich aufbaut, dieser zu Gefallen dann wiederum Religion und mythologisches Unwesen zu Huelfe genommen werden, und endlich die Schatten dieser trueben Geister auch in die Physik und die gesammte Weltbetrachtung hineinfallen. Steht es aber fest, dass die Oberflaechlichkeit der psychologischen Beobachtung dem menschlichen Urtheilen und Schliessen die gefaehrlichsten Fallstricke gelegt hat und fortwaehrend von Neuem legt, so bedarf es jetzt jener Ausdauer der Arbeit, welche nicht muede wird, Steine auf Steine, Steinchen auf Steinchen zu haeufen, so bedarf es der enthaltsamen Tapferkeit, um sich einer solchen bescheidenen Arbeit nicht zu schaemen und jeder Missachtung derselben Trotz zu bieten. Es ist wahr: zahllose einzelne Bemerkungen ueber Menschliches und Allzumenschliches sind in Kreisen der Gesellschaft zuerst entdeckt und ausgesprochen worden, welche gewohnt waren, nicht der wissenschaftlichen Erkenntniss, sondern einer geistreichen Gefallsucht jede Art von Opfern darzubringen; und fast unloesbar hat sich der Duft jener alten Heimath der moralistischen Sentenz - ein sehr verfuehrerischer Duft - der ganzen Gattung angehaengt: so dass seinetwegen der wissenschaftliche Mensch unwillkuerlich einiges Misstrauen gegen diese Gattung und ihre Ernsthaftigkeit merken laesst. Aber es genuegt, auf die Folgen zu verweisen: denn schon jetzt beginnt sich zu zeigen, welche Ergebnisse ernsthaftester Art auf dem Boden der psychologischen Beobachtung aufwachsen. Welches ist doch der Hauptsatz zu dem einer der kuehnsten und kaeltesten Denker, der Verfasser des Buches "Ueber den Ursprung der moralischen Empfindungen" vermoege seiner ein- und durchschneidenden Analysen des menschlichen Handelns gelangt? "Der moralische Mensch, sagt er, steht der intelligiblen (metaphysischen) Welt nicht naeher, als der physische Mensch." Dieser Satz, hart und schneidig geworden unter dem Hammerschlag der historischen Erkenntniss, kann vielleicht einmal, in irgendwelcher Zukunft, als die Axt dienen, welche dem "metaphysischen Beduerfniss" der Menschen an die Wurzel gelegt wird, - ob mehr zum Segen, als zum Fluche der allgemeinen Wohlfahrt, wer wuesste das zu sagen? - aber jedenfalls als ein Satz der erheblichsten Folgen, fruchtbar und furchtbar zugleich, und mit jenem Doppelgesichte in die Welt sehend, welches alle grossen Erkenntnisse haben. 38. Inwiefern nuetzlich. - Also: ob die psychologische Beobachtung mehr Nutzen oder Nachtheil ueber die Menschen bringe, das bleibe immerhin unentschieden; aber fest steht, dass sie nothwendig ist, weil die Wissenschaft ihrer nicht entrathen kann. Die Wissenschaft aber kennt keine Ruecksichten auf letzte Zwecke, ebenso wenig als die Natur sie kennt: sondern wie diese gelegentlich Dinge von der hoechsten Zweckmaessigkeit zu Stande bringt, ohne sie gewollt zu haben, so wird auch die aechte Wissenschaft, als die Nachahmung der Natur in Begriffen, den Nutzen und die Wohlfahrt der Menschen gelegentlich, ja vielfach, foerdern und das Zweckmaessige erreichen, - aber ebenfalls ohne es gewollt zu haben. Wem es aber bei dem Anhauche einer solchen Betrachtungsart gar zu winterlich zu Muthe wird, der hat vielleicht nur zu wenig Feuer in sich: er moege sich indessen umsehen und er wird Krankheiten wahrnehmen, in denen Eisumschlaege noth thun, und Menschen, welche so aus Gluth und Geist "zusammengeknetet" sind, dass sie kaum irgendwo die Luft kalt und schneidend genug fuer sich finden. Ueberdiess: wie allzu ernste Einzelne und Voelker ein Beduerfniss nach Leichtfertigkeiten haben, wie andere allzu Erregbare und Bewegliche zeitweilig schwere niederdrueckende Lasten zu ihrer Gesundheit noethig haben: sollten wir, die geistigeren Menschen eines Zeitalters, welches ersichtlich immer mehr in Brand geraeth, nicht nach allen loeschenden und kuehlenden Mitteln, die es giebt, greifen muessen, damit wir wenigstens so stetig, harmlos und maessig bleiben, als wir es noch sind, und so vielleicht einmal dazu brauchbar werden, diesem Zeitalter als Spiegel und Selbstbesinnung ueber sich zu dienen? - 39. Die Fabel von der intelligibelen Freiheit. - Die Geschichte der Empfindungen, vermoege deren wir jemanden verantwortlich machen, also der sogenannten moralischen Empfindungen verlaeuft, in folgenden Hauptphasen. Zuerst nennt man einzelne Handlungen gut oder boese ohne alle Ruecksicht auf deren Motive, sondern allein der nuetzlichen oder schaedlichen Folgen wegen. Bald aber vergisst man die Herkunft dieser Bezeichnungen und waehnt, dass den Handlungen an sich, ohne Ruecksicht auf deren Folgen, die Eigenschaft "gut" oder "boese" innewohne: mit demselben Irrthume, nach welchem die Sprache den Stein selber als hart, den Baum selber als gruen bezeichnet - also dadurch, dass man, was Wirkung ist, als Ursache fasst. Sodann legt man das Gut- oder Boese-sein in die Motive hinein und betrachtet die Thaten an sich als moralisch zweideutig. Man geht weiter und giebt das Praedicat gut oder boese nicht mehr dem einzelnen Motive, sondern dem ganzen Wesen eines Menschen, aus dem das Motiv, wie die Pflanze aus dem Erdreich, herauswaechst. So macht man der Reihe nach den Menschen fuer seine Wirkungen, dann fuer seine Handlungen, dann fuer seine Motive und endlich fuer sein Wesen verantwortlich. Nun entdeckt man schliesslich, dass auch dieses Wesen nicht verantwortlich sein kann, insofern es ganz und gar nothwendige Folge ist und aus den Elementen und Einfluessen vergangener und gegenwaertiger Dinge concrescirt: also dass der Mensch fuer Nichts verantwortlich zu machen ist, weder fuer sein Wesen, noch seine Motive, noch seine Handlungen, noch seine Wirkungen. Damit ist man zur Erkenntniss gelangt, dass die Geschichte der moralischen Empfindungen die Geschichte eines Irrthums, des Irrthums von der Verantwortlichkeit ist: als welcher auf dem Irrthum von der Freiheit des Willens ruht. -Schopenhauer schloss dagegen so: weil gewisse Handlungen Unmuth ("Schuldbewusstsein") nach sich ziehen, so muss es eine Verantwortlichkeit geben; denn zu diesem Unmuth waere kein Grund vorhanden, wenn nicht nur alles Handeln des Menschen mit Nothwendigkeit verliefe - wie es thatsaechlich, und auch nach der Einsicht dieses Philosophen, verlaeuft -, sondern der Mensch selber mit der selben Nothwendigkeit sein ganzes Wesen erlangte, - was Schopenhauer leugnet. Aus der Thatsache jenes Unmuthes glaubt Schopenhauer eine Freiheit beweisen zu koennen, welche der Mensch irgendwie gehabt haben muesse, zwar nicht in Bezug auf die Handlungen, aber in Bezug auf das Wesen: Freiheit also, so oder so zu sein, nicht so oder so zu handeln. Aus dem esse, der Sphaere der Freiheit und Verantwortlichkeit, folgt nach seiner Meinung das operari, die Sphaere der strengen Causalitaet, Nothwendigkeit und Unverantwortlichkeit. Jener Unmuth beziehe sich zwar scheinbar auf das operari - insofern sei er irrthuemlich -, in Wahrheit aber auf das esse, welches die That eines freien Willens, die Grundursache der Existenz eines Individuums, sei; der Mensch werde Das, was er werden wolle, sein Wollen sei frueher, als seine Existenz. - Hier wird der Fehlschluss gemacht, dass aus der Thatsache des Unmuthes die Berechtigung, die vernuenftige Zulaessigkeit dieses Unmuthes geschlossen wird; und von jenem Fehlschluss aus kommt Schopenhauer zu seiner phantastischen Consequenz der sogenannten intelligibelen Freiheit. Aber der Unmuth nach der That braucht gar nicht vernuenftig zu sein: ja er ist es gewiss nicht, denn er ruht auf der irrthuemlichen Voraussetzung, dass die That eben nicht nothwendig haette erfolgen muessen. Also: weil sich der Mensch fuer frei haelt, nicht aber weil er frei ist, empfindet er Reue und Gewissensbisse. - Ueberdiess ist dieser Unmuth Etwas, das man sich abgewoehnen kann, bei vielen Menschen ist er in Bezug auf Handlungen gar nicht vorhanden, bei welchen viele andere Menschen ihn empfinden. Er ist eine sehr wandelbare, an die Entwickelung der Sitte und Cultur geknuepfte Sache und vielleicht nur in einer verhaeltnissmaessig kurzen Zeit der Weltgeschichte vorhanden. -Niemand ist fuer seine Thaten verantwortlich, Niemand fuer sein Wesen; richten ist soviel als ungerecht sein. Diess gilt auch, wenn das Individuum ueber sich selbst richtet. Der Satz ist so hell wie Sonnenlicht, und doch geht hier jedermann lieber in den Schatten und die Unwahrheit zurueck: aus Furcht vor den Folgen. 40. Das Ueber-Thier. - Die Bestie in uns will belogen werden; Moral ist Nothluege, damit wir von ihr nicht zerrissen werden. Ohne die Irrthuemer, welche in den Annahmen der Moral liegen, waere der Mensch Thier geblieben. So aber hat er sich als etwas Hoeheres genommen und sich strengere Gesetze auferlegt. Er hat desshalb einen Hass gegen die der Thierheit naeher gebliebenen Stufen: woraus die ehemalige Missachtung des Sclaven, als eines Nicht-Menschen, als einer Sache zu erklaeren ist. 41. Der unveraenderliche Charakter. - Dass der Charakter unveraenderlich sei, ist nicht im strengen Sinne wahr; vielmehr heisst dieser beliebte Satz nur so viel, dass waehrend der kurzen Lebensdauer eines Menschen die einwirkenden Motive gewoehnlich nicht tief genug ritzen koennen, um die aufgepraegten Schriftzuege vieler Jahrtausende zu zerstoeren. Daechte man sich aber einen Menschen von achtzigtausend Jahren, so haette man an ihm sogar einen absolut veraenderlichen Charakter: so dass eine Fuelle verschiedener Individuen sich nach und nach aus ihm entwickelte. Die Kuerze des menschlichen Lebens verleitet zu manchen irrthuemlichen Behauptungen ueber die Eigenschaften des Menschen. 42. Die Ordnung der Gueter und die Moral. - Die einmal angenommene Rangordnung der Gueter, je nachdem ein niedriger, hoeherer, hoechster Egoismus das Eine oder das Andere will, entscheidet jetzt ueber das Moralisch-sein oder Unmoralisch-sein. Ein niedriges Gut (zum Beispiel Sinnengenuss) einem hoeher geschaetzten (zum Beispiel Gesundheit) vorziehen, gilt als unmoralisch, ebenso Wohlleben der Freiheit vorziehen. Die Rangordnung der Gueter ist aber keine zu allen Zeiten feste und gleiche; wenn jemand Rache der Gerechtigkeit vorzieht, so ist er nach dem Maassstabe einer frueheren Cultur moralisch, nach dem der jetzigen unmoralisch. "Unmoralisch" bezeichnet also, dass Einer die hoeheren, feineren, geistigeren Motive, welche die jeweilen neue Cultur hinzugebracht hat, noch nicht oder noch nicht stark genug empfindet: es bezeichnet einen Zurueckgebliebenen, aber immer nur dem Gradunterschied nach. - Die Rangordnung der Gueter selber wird nicht nach moralischen Gesichtspuncten auf- und umgestellt; wohl aber wird nach ihrer jedesmaligen Festsetzung darueber entschieden, ob eine Handlung moralisch oder unmoralisch sei. 43. Grausame Menschen als zurueckgeblieben. - Die Menschen, welche jetzt grausam sind, muessen uns als Stufen frueherer Culturen gelten, welche uebrig geblieben sind: das Gebirge der Menschheit zeigt hier einmal die tieferen Formationen, welche sonst versteckt liegen, offen. Es sind zurueckgebliebene Menschen, deren Gehirn, durch alle moeglichen Zufaelle im Verlaufe der Vererbung, nicht so zart und vielseitig fortgebildet worden ist. Sie zeigen uns, was wir Alle waren, und machen uns erschrecken: aber sie selber sind so wenig verantwortlich, wie ein Stueck Granit dafuer, dass es Granit ist. In unserm Gehirne muessen sich auch Rinnen und Windungen finden, welche jener Gesinnung entsprechen, wie sich in der Form einzelner menschlicher Organe Erinnerungen an Fischzustaende finden sollen. Aber diese Rinnen und Windungen sind nicht mehr das Bett, in welchem sich jetzt der Strom unserer Empfindung waelzt. 44. Dankbarkeit und Rache. - Der Grund, wesshalb der Maechtige dankbar ist, ist dieser. Sein Wohlthaeter hat sich durch seine Wohlthat an der Sphaere des Maechtigen gleichsam vergriffen und sich in sie eingedraengt: nun vergreift er sich zur Vergeltung wieder an der Sphaere des Wohlthaeters durch den Act der Dankbarkeit. Es ist eine mildere Form der Rache. Ohne die Genugthuung der Dankbarkeit zu haben, wuerde der Maechtige sich unmaechtig gezeigt haben und fuerderhin dafuer gelten. Desshalb stellt jede Gesellschaft der Guten, das heisst urspruenglich der Maechtigen, die Dankbarkeit unter die ersten Pflichten. - Swift hat den Satz hingeworfen, dass Menschen in dem selben Verhaeltniss dankbar sind, wie sie Rache hegen. 45. Doppelte Vorgeschichte von Gut und Boese. - Der Begriff gut und boese hat eine doppelte Vorgeschichte: naemlich einmal in der Seele der herrschenden Staemme und Kasten. Wer die Macht zu vergelten hat, Gutes mit Gutem, Boeses mit Boesem, und auch wirklich Vergeltung uebt, also dankbar und rachsuechtig ist, der wird gut genannt; wer unmaechtig ist und nicht vergelten kann, gilt als schlecht. Man gehoert als Guter zu den "Guten", einer Gemeinde, welche Gemeingefuehl hat, weil alle Einzelnen durch den Sinn der Vergeltung mit einander verflochten sind. Man gehoert als Schlechter zu den "Schlechten", zu einem Haufen unterworfener, ohnmaechtiger Menschen, welche kein Gemeingefuehl haben. Die Guten sind eine Kaste, die Schlechten eine Masse wie Staub. Gut und schlecht ist eine Zeit lang so viel wie vornehm und niedrig, Herr und Sclave. Dagegen sieht man den Feind nicht als boese an: er kann vergelten. Der Troer und der Grieche sind bei Homer beide gut. Nicht Der, welcher uns Schaedliches zufuegt, sondern Der, welcher veraechtlich ist, gilt als schlecht. In der Gemeinde der Guten vererbt sich das Gute; es ist unmoeglich, dass ein Schlechter aus so gutem Erdreiche hervorwachse. Thut trotzdem Einer der Guten Etwas, das der Guten unwuerdig ist, so verfaellt man auf Ausfluechte; man schiebt zum Beispiel einem Gott die Schuld zu, indem man sagt: er habe den Guten mit Verblendung und Wahnsinn geschlagen. - Sodann in der Seele der Unterdrueckten, Machtlosen. Hier gilt jeder andere Mensch als feindlich, ruecksichtslos, ausbeutend, grausam, listig, sei er vornehm oder niedrig; boese ist das Charakterwort fuer Mensch, ja fuer jedes lebende Wesen, welches man voraussetzt, zum Beispiel fuer einen Gott; menschlich, goettlich gilt so viel wie teuflisch, boese. Die Zeichen der Guete, Huelfebereitschaft, Mitleid, werden angstvoll als Tuecke, Vorspiel eines schrecklichen Ausgangs, Betaeubung und Ueberlistung aufgenommen, kurz als verfeinerte Bosheit. Bei einer solchen Gesinnung des Einzelnen kann kaum ein Gemeinwesen entstehen, hoechstens die roheste Form desselben: so dass ueberall, wo diese Auffassung von gut und boese herrscht, der Untergang der Einzelnen, ihrer Staemme und Rassen nahe ist. - Unsere jetzige Sittlichkeit ist auf dem Boden der herrschenden Staemme und Kasten aufgewachsen. 46. Mitleiden staerker als Leiden. - Es giebt Faelle, wo das Mitleiden staerker ist, als das eigentliche Leiden. Wir empfinden es zum Beispiel schmerzlicher, wenn einer unserer Freunde sich etwas Schmaehliches zu Schulden kommen laesst, als wenn wir selbst es thun. Einmal naemlich glauben wir mehr an die Reinheit seines Charakters, als er; sodann ist unsere Liebe zu ihm, wahrscheinlich eben dieses Glaubens wegen, staerker, als seine Liebe zu sich selbst. Wenn auch wirklich sein Egoismus mehr dabei leidet, als unser Egoismus, insofern er die uebelen Folgen seines Vergehens staerker zu tragen hat, so wird das Unegoistische in uns - dieses Wort ist nie streng zu verstehen, sondern nur eine Erleichterung des Ausdrucks - doch staerker durch seine Schuld betroffen, als das Unegoistische in ihm. 47. Hypochondrie.- Es giebt Menschen, welche aus Mitgefuehl und Sorge fuer eine andere Person hypochondrisch werden; die dabei entstehende Art des Mitleidens ist nichts Anderes, als eine Krankheit. So giebt es auch eine christliche Hypochondrie, welche jene einsamen, religioes bewegten Leute befaellt, die sich das Leiden und Sterben Christi fortwaehrend vor Augen stellen. 48. Oekonomie der Guete. - Die Guete und Liebe als die heilsamsten Kraeuter und Kraefte im Verkehre der Menschen sind so kostbare Funde, dass man wohl wuenschen moechte, es werde in der Verwendung dieser balsamischen Mittel so oekonomisch wie moeglich verfahren: doch ist diess unmoeglich. Die Oekonomie der Guete ist der Traum der verwegensten Utopisten. 49. Wohlwollen.- Unter die kleinen, aber zahllos haeufigen und desshalb sehr wirkungsvollen Dinge, auf welche die Wissenschaft mehr Acht zu geben hat, als auf die grossen seltenen Dinge, ist auch das Wohlwollen zu rechnen; ich meine jene Aeusserungen freundlicher Gesinnung im Verkehr, jenes Laecheln des Auges, jene Haendedruecke, jenes Behagen, von welchem fuer gewoehnlich fast alles menschliche Thun umsponnen ist. Jeder Lehrer, jeder Beamte bringt diese Zuthat zu dem, was fuer ihn Pflicht ist, hinzu; es ist die fortwaehrende Bethaetigung der Menschlichkeit, gleichsam die Wellen ihres Lichtes, in denen Alles waechst; namentlich im engsten Kreise, innerhalb der Familie, gruent und blueht das Leben nur durch jenes Wohlwollen. Die Gutmuethigkeit, die Freundlichkeit, die Hoeflichkeit des Herzens sind immerquellende Ausfluesse des unegoistischen Triebes und haben viel maechtiger an der Cultur gebaut, als jene viel beruehmteren Aeusserungen desselben, die man Mitleiden, Barmherzigkeit und Aufopferung nennt. Aber man pflegt sie geringzuschaetzen, und in der That: es ist nicht gerade viel Unegoistisches daran. Die Summe dieser geringen Dosen ist trotzdem gewaltig, ihre gesammte Kraft gehoert zu den staerksten Kraeften. - Ebenso findet man viel mehr Glueck in der Welt, als truebe Augen sehen: wenn man naemlich richtig rechnet, und nur alle jene Momente des Behagens, an welchen jeder Tag in jedem, auch dem bedraengtesten Menschenleben reich ist, nicht vergisst. 50. Mitleiden erregen wollen.- La Rochefoucauld trifft in der bemerkenswerthesten Stelle seines Selbst-Portraits (zuerst gedruckt 1658) gewiss das Rechte, wenn er alle Die, welche Vernunft haben, vor dem Mitleiden warnt, wenn er raeth, dasselbe den Leuten aus dem Volke zu ueberlassen, die der Leidenschaften beduerfen (weil sie nicht durch Vernunft bestimmt werden), um so weit gebracht zu werden, dem Leidenden zu helfen und bei einem Unglueck kraeftig einzugreifen; waehrend das Mitleiden, nach seinem (und Plato's) Urtheil, die Seele entkraefte. Freilich solle man Mitleiden bezeugen, aber sich hueten, es zu haben: denn die Ungluecklichen seien nun einmal so dumm, dass bei ihnen das Bezeugen von Mitleid das groesste Gut von der Welt ausmache. - Vielleicht kann man noch staerker vor diesem Mitleid-haben warnen, wenn man jenes Beduerfniss der Ungluecklichen nicht gerade als Dummheit und intellectuellen Mangel, als eine Art Geistesstoerung fasst, welche das Unglueck mit sich bringt (und so scheint es ja La Rochefoucauld zu fassen), sondern als etwas ganz Anderes und Bedenklicheres versteht. Vielmehr beobachte man Kinder, welche weinen und Schreien, damit sie bemitleidet werden, und desshalb den Augenblick abwarten, wo ihr Zustand in die Augen fallen kann; man lebe im Verkehr mit Kranken und Geistig-Gedrueckten und frage sich, ob nicht das beredte Klagen und Wimmern, das Zur-Schau-tragen des Ungluecks im Grunde das Ziel verfolgt, den Anwesenden weh zu thun: das Mitleiden, welches Jene dann aeussern, ist insofern eine Troestung fuer die Schwachen und Leidenden, als sie daran erkennen, doch wenigstens noch Eine Macht zu haben, trotz aller ihrer Schwaeche: die Macht, wehe zu thun. Der Unglueckliche gewinnt eine Art von Lust in diesem Gefuehl der Ueberlegenheit, welches das Bezeugen des Mitleides ihm zum Bewusstsein bringt; seine Einbildung erhebt sich, er ist immer noch wichtig genug, um der Welt Schmerzen zu machen. Somit ist der Durst nach Mitleid ein Durst nach Selbstgenuss, und zwar auf Unkosten der Mitmenschen; es zeigt den Menschen in der ganzen Ruecksichtslosigkeit seines eigensten lieben Selbst: nicht aber gerade in seiner "Dummheit", wie La Rochefoucauld meint. - Im Zwiegespraeche der Gesellschaft werden Dreiviertel aller Fragen gestellt, aller Antworten gegeben, um dem Unterredner ein klein Wenig weh zu thun; desshalb duersten viele Menschen so nach Gesellschaft: sie giebt ihnen das Gefuehl ihrer Kraft. In solchen unzaehligen, aber sehr kleinen Dosen, in welchen die Bosheit sich geltend macht, ist sie ein maechtiges Reizmittel des Lebens: ebenso wie das Wohlwollen, in gleicher Form durch die Menschenwelt hin verbreitet, das allezeit bereite Heilmittel ist. - Aber wird es viele Ehrliche geben, welche zugestehen, dass es Vergnuegen macht, wehe zu thun? dass man sich nicht selten damit unterhaelt - und gut unterhaelt -, anderen Menschen wenigstens in Gedanken Kraenkungen zuzufuegen und die Schrotkoerner der kleinen Bosheit nach ihnen zu schiessen? Die Meisten sind zu unehrlich und ein paar Menschen sind zu gut, um von diesem Pudendum Etwas zu wissen; diese moegen somit immerhin leugnen, dass Prosper Merimee Recht habe, wenn er sagt: "Sachez aussi qu'il n'y a rien de plus commun que de faire le mal pour le plaisir de le faire." 51. Wie der Schein zum Sein wird. - Der Schauspieler kann zuletzt auch beim tiefsten Schmerz nicht aufhoeren, an den Eindruck seiner Person und den gesammten scenischen Effect zu denken, zum Beispiel selbst beim Begraebniss seines Kindes; er wird ueber seinen eignen Schmerz und dessen Aeusserungen weinen, als sein eigener Zuschauer. Der Heuchler, welcher immer ein und die selbe Rolle spielt, hoert zuletzt auf, Heuchler zu sein; zum Beispiel Priester, welche als junge Maenner gewoehnlich bewusst oder unbewusst Heuchler sind, werden zuletzt natuerlich und sind dann wirklich, ohne alle Affectation, eben Priester; oder wenn es der Vater nicht so weit bringt, dann vielleicht der Sohn, der des Vaters Vorsprung benutzt, seine Gewoehnung erbt. Wenn Einer sehr lange und hartnaeckig Etwas scheinen will, so wird es ihm zuletzt schwer, etwas Anderes zu sein. Der Beruf fast jedes Menschen, sogar des Kuenstlers, beginnt mit Heuchelei, mit einem Nachmachen von Aussen her, mit einem Copiren des Wirkungsvollen. Der, welcher immer die Maske freundlicher Mienen traegt, muss zuletzt eine Gewalt ueber wohlwollende Stimmungen bekommen, ohne welche der Ausdruck der Freundlichkeit nicht zu erzwingen ist, - und zuletzt wieder bekommen diese ueber ihn Gewalt, er ist wohlwollend. 52. Der Punct der Ehrlichkeit beim Betruge. - Bei allen grossen Betruegern ist ein Vorgang bemerkenswerth, dem sie ihre Macht verdanken. Im eigentlichen Acte des Betruges unter all den Vorbereitungen, dem Schauerlichen in Stimme, Ausdruck, Gebaerden, inmitten der wirkungsvollen Scenerie, ueberkommt sie der Glaube an sich selbst: dieser ist es, der dann so wundergleich und bezwingend zu den Umgebenden spricht. Die Religionsstifter unterscheiden sich dadurch von jenen grossen Betruegern, dass sie aus diesem Zustande der Selbsttaeuschung nicht herauskommen: oder sie haben ganz selten einmal jene helleren Momente, wo der Zweifel sie ueberwaeltigt; gewoehnlich troesten sie sich aber, diese helleren Momente dem boesen Widersacher zuschiebend. Selbstbetrug muss da sein, damit Diese und jene grossartig wirken. Denn die Menschen glauben an die Wahrheit dessen, was ersichtlich stark geglaubt wird. 53. Angebliche Stufen der Wahrheit. - Einer der gewoehnlichen Fehlschluesse ist der: weil Jemand wahr und aufrichtig gegen uns ist, so sagt er die Wahrheit. So glaubt das Kind an die Urtheile der Eltern, der Christ an die Behauptungen des Stifters der Kirche. Ebenso will man nicht zugeben, dass alles jenes, was die Menschen mit Opfern an Glueck und Leben in frueheren Jahrhunderten vertheidigt haben, Nichts als Irrthuemer waren: vielleicht sagt man, es seien Stufen der Wahrheit gewesen. Aber im Grunde meint man, wenn Jemand ehrlich an Etwas geglaubt und fuer seinen Glauben gekaempft hat und gestorben ist, waere es doch gar zu unbillig, wenn eigentlich nur ein Irrthum ihn beseelt habe. So ein Vorgang scheint der ewigen Gerechtigkeit zu widersprechen; desshalb decretirt das Herz empfindender Menschen immer wieder gegen ihren Kopf den Satz: zwischen moralischen Handlungen und intellectuellen Einsichten muss durchaus ein nothwendiges Band sein. Es ist leider anders; denn es giebt keine ewige Gerechtigkeit. 54. Die Luege. - Wesshalb sagen zu allermeist die Menschen im alltaeglichen Leben die Wahrheit? - Gewiss nicht, weil ein Gott das Luegen verboten hat. Sondern erstens: weil es bequemer ist; denn die Luege erfordert Erfindung, Verstellung und Gedaechtniss. (Wesshalb Swift sagt: wer eine Luege berichtet, merkt selten die schwere Last, die er uebernimmt; er muss naemlich, um eine Luege zu behaupten, zwanzig andere erfinden.) Sodann: weil es in schlichten Verhaeltnissen vortheilhaft ist, direct zu sagen: ich will diess, ich habe diess gethan, und dergleichen; also weil der Weg des Zwangs und der Autoritaet sicherer ist, als der der List. - Ist aber einmal ein Kind in verwickelten haeuslichen Verhaeltnissen aufgezogen worden, so handhabt es ebenso natuerlich die Luege und sagt unwillkuerlich immer Das, was seinem Interesse entspricht; ein Sinn fuer Wahrheit, ein Widerwille gegen die Luege an sich ist ihm ganz fremd und unzugaenglich, und so luegt es in aller Unschuld. 55. Des Glaubens wegen die Moral verdaechtigen. - Keine Macht laesst sich behaupten, wenn lauter Heuchler sie vertreten; die katholische Kirche mag noch so viele "weltliche" Elemente besitzen, ihre Kraft beruht auf jenen auch jetzt noch zahlreichen priesterlichen Naturen, welche sich das Leben schwer und bedeutungstief machen, und deren Blick und abgehaermter Leib von Nachtwachen, Hungern, gluehendem Gebete, vielleicht selbst von Geisselhieben redet; Diese erschuettern die Menschen und machen ihnen Angst: wie, wenn es noethig waere, so zu leben? - diess ist die schauderhafte Frage, welche ihr Anblick auf die Zunge legt. Indem sie diesen Zweifel verbreiten, gruenden sie immer von Neuem wieder einen Pfeiler ihrer Macht; selbst die Freigesinnten wagen es nicht, dem derartig Selbstlosen mit hartem Wahrheitssinn zu widerstehen und zu sagen: "Betrogner du, betruege nicht!" - Nur die Differenz der Einsichten trennt sie von ihm, durchaus keine Differenz der Guete oder Schlechtigkeit; aber was man nicht mag, pflegt man gewoehnlich auch ungerecht zu behandeln. So spricht man von der Schlauheit und der verruchten Kunst der Jesuiten, aber uebersieht, welche Selbstueberwindung jeder einzelne Jesuit sich auferlegt und wie die erleichterte Lebenspraxis, welche die jesuitischen Lehrbuecher predigen, durchaus nicht ihnen, sondern dem Laienstande zu Gute kommen soll. Ja man darf fragen, ob wir Aufgeklaerten bei ganz gleicher Taktik und Organisation eben so gute Werkzeuge, ebenso bewundernswuerdig durch Selbstbesiegung, Unermuedlichkeit, Hingebung sein wuerden. 56. Sieg der Erkenntniss ueber das radicale Boese. - Es traegt Dem, der weise werden will, einen reichlichen Gewinn ein, eine Zeit lang einmal die Vorstellung vom gruendlich boesen und verderbten Menschen gehabt zu haben: sie ist falsch, wie die entgegengesetzte; aber ganze Zeitstrecken hindurch besass sie die Herrschaft und ihre Wurzeln haben sich bis in uns und unsere Welt hinein veraestet. Um uns zu begreifen, muessen wir sie begreifen; um aber dann hoeher zu steigen, muessen wir ueber sie hinwegsteigen. Wir erkennen dann, dass es keine Suenden im metaphysischen Sinne giebt; aber, im gleichen Sinne, auch keine Tugenden; dass dieses ganze Bereich sittlicher Vorstellungen fortwaehrend im Schwanken ist, dass es hoehere und tiefere Begriffe von gut und boese, sittlich und unsittlich giebt. Wer nicht viel mehr von den Dingen begehrt, als Erkenntniss derselben, kommt leicht mit seiner Seele zur Ruhe und wird hoechstens aus Unwissenheit, aber schwerlich aus Begehrlichkeit fehlgreifen (oder suendigen, wie die Welt es heisst). Er wird die Begierden nicht mehr verketzern und ausrotten wollen; aber sein einziges ihn voellig beherrschendes Ziel, zu aller Zeit so gut wie moeglich zu erkennen, wird ihn kuehl machen und alle Wildheit in seiner Anlage besaenftigen. Ueberdiess ist er einer Menge quaelender Vorstellungen losgeworden, er empfindet Nichts mehr bei dem Worte Hoellenstrafen, Suendhaftigkeit, Unfaehigkeit zum Guten: er erkennt darin nur die verschwebenden Schattenbilder falscher Welt- und Lebensbetrachtungen. 57. Moral als Selbstzertheilung des Menschen. - Ein guter Autor, der wirklich das Herz fuer seine Sache hat, wuenscht, dass jemand komme und ihn selber dadurch vernichte, dass er dieselbe Sache deutlicher darstelle und die in ihr enthaltenen Fragen ohne Rest beantworte. Das liebende Maedchen wuenscht, dass sie die hingebende Treue ihrer Liebe an der Untreue des Geliebten bewaehren koenne. Der Soldat wuenscht, dass er fuer sein siegreiches Vaterland auf dem Schlachtfeld falle.- denn in dem Siege seines Vaterlandes siegt sein hoechstes Wuenschen mit. Die Mutter giebt dem Kinde, was sie sich selber entzieht, Schlaf, die beste Speise, unter Umstaenden ihre Gesundheit, ihr Vermoegen. - Sind das Alles aber unegoistische Zustaende? Sind diese Thaten der Moralitaet Wunder, weil sie, nach dem Ausdrucke Schopenhauer's, "unmoeglich und doch wirklich" sind? Ist es nicht deutlich, dass in all diesen Faellen der Mensch Etwas von sich, einen Gedanken, ein Verlangen, ein Erzeugniss mehr liebt, als etwas Anderes von sich, dass er also sein Wesen zertheilt und dem einen Theil den anderen zum Opfer bringt? Ist es etwas wesentlich Verschiedenes, wenn ein Trotzkopf sagt: "ich will lieber ueber den Haufen geschossen werden, als diesem Menschen da einen Schritt aus dem Wege gehn?" - Die Neigung zu Etwas (Wunsch, Trieb, Verlangen) ist in allen genannten Faellen vorhanden; ihr nachzugeben, mit allen Folgen, ist jedenfalls nicht "unegoistisch". - In der Moral behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum. 58. Was man versprechen kann. - Man kann Handlungen versprechen, aber keine Empfindungen; denn diese sind unwillkuerlich. Wer jemandem verspricht, ihn immer zu lieben oder immer zu hassen oder ihm immer treu zu sein, verspricht Etwas, das nicht in seiner Macht steht; wohl aber kann er solche Handlungen versprechen, welche zwar gewoehnlich die Folgen der Liebe, des Hasses, der Treue sind, aber auch aus anderen Motiven entspringen koennen: denn zu einer Handlung fuehren mehrere Wege und Motive. Das Versprechen, jemanden immer zu lieben, heisst also: so lange ich dich liebe, werde ich dir die Handlungen der Liebe erweisen; liebe ich dich nicht mehr, so wirst du doch die selben Handlungen, wenn auch aus anderen Motiven, immerfort von mir empfangen: so dass der Schein in den Koepfen der Mitmenschen bestehen bleibt, dass die Liebe unveraendert und immer noch die selbe sei. - Man verspricht also die Andauer des Anscheines der Liebe, wenn man ohne Selbstverblendung jemandem immerwaehrende Liebe gelobt. 59. Intellect und Moral. - Man muss ein gutes Gedaechtniss haben, um gegebene Versprechen halten zu koennen. Man muss eine starke Kraft der Einbildung haben, um Mitleid haben zu koennen. So eng ist die Moral an die Guete des Intellects gebunden. 60. Sich raechen wollen und -sich raechen. -Einen Rachegedanken haben und ausfuehren heisst einen heftigen Fieberanfall bekommen, der aber voruebergeht: einen Rachegedanken aber haben, ohne Kraft und Muth, ihn auszufuehren, heisst ein chronisches Leiden, eine Vergiftung an Leib und Seele mit sich herumtragen. Die Moral, welche nur auf die Absichten sieht, taxirt beide Faelle gleich; fuer gewoehnlich taxirt man den ersten Fall als den schlimmeren (wegen der boesen Folgen, welche die That der Rache vielleicht nach sich zieht). Beide Schaetzungen sind kurzsichtig. 61. Warten-koennen. - Das Warten-koennen ist so schwer, dass die groessten Dichter es nicht verschmaeht haben, das Nicht-warten-koennen zum Motiv ihrer Dichtungen zu machen. So Shakespeare im Othello, Sophokles im Ajax: dessen Selbstmord ihm, wenn er nur einen Tag noch seine Empfindung haette abkuehlen lassen, nicht mehr noethig geschienen haette, wie der Orakelspruch andeutet; wahrscheinlich wuerde er den schrecklichen Einfluesterungen der verletzten Eitelkeit ein Schnippchen geschlagen und zu sich gesprochen haben - wer hat denn nicht schon, in meinem Falle, ein Schaf fuer einen Helden angesehen? ist es denn so etwas Ungeheures? Im Gegentheil, es ist nur etwas allgemein Menschliches: Ajax durfte sich dergestalt Trost zusprechen. Die Leidenschaft will nicht warten; das Tragische im Leben grosser Maenner liegt haeufig nicht in ihrem Conflicte mit der Zeit und der Niedrigkeit ihrer Mitmenschen, sondern in ihrer Unfaehigkeit, ein Jahr, zwei Jahre ihr Werk zu verschieben; sie koennen nicht warten. - Bei allen Duellen haben die zurathenden Freunde das Eine festzustellen, ob die betheiligten Personen noch warten koennen: ist diess nicht der Fall, so ist ein Duell vernuenftig, insofern Jeder von Beiden sich sagt: "entweder lebe ich weiter, dann muss jener augenblicklich sterben, oder umgekehrt." Warten hiesse in solchem Falle an jener furchtbaren Marter der verletzten Ehre angesichts ihres Verletzers noch laenger leiden; und diess kann eben mehr Leiden sein, als das Leben ueberhaupt werth ist. 62. Schwelgerei der Rache. -Grobe Menschen, welche sich beleidigt fuehlen, pflegen den Grad der Beleidigung so hoch als moeglich zu nehmen und erzaehlen die Ursache mit stark uebertreibenden Worten, um nur in dem einmal erweckten Hass- und Rachegefuehl sich recht ausschwelgen zu koennen. 63. Werth der Verkleinerung. - Nicht wenige, vielleicht die allermeisten Menschen haben, um ihre Selbstachtung und eine gewisse Tuechtigkeit im Handeln bei sich aufrecht zu erhalten, durchaus noethig, alle ihnen bekannten Menschen in ihrer Vorstellung herabzusetzen und zu verkleinern. Da aber die geringen Naturen in der Ueberzahl sind und es sehr viel daran liegt, ob sie jene Tuechtigkeit haben oder verlieren, so - 64. Der Auf brausende. - Vor Einem, der gegen uns aufbraust, soll man sich in Acht nehmen, wie vor Einem, der uns einmal nach dem Leben getrachtet hat: denn dass wir noch leben, das liegt an der Abwesenheit der Macht zu toedten; genuegten Blicke, so waere es laengst um uns geschehen. Es ist ein Stueck roher Cultur, durch Sichtbarwerdenlassen der physischen Wildheit, durch Furchterregen Jemanden zum Schweigen zu bringen. - Ebenso ist jener kalte Blick, welchen Vornehme gegen ihre Bedienten haben, ein Ueberrest jener kastenmaessigen Abgraenzungen zwischen Mensch und Mensch, ein Stueck rohen Alterthums; die Frauen, die Bewahrerinnen des Alten, haben auch dieses Survival treuer bewahrt. 65. Wohin die Ehrlichkeit fuehren kann. -Jemand hatte die ueble Angewohnheit, sich ueber die Motive, aus denen er handelte und die so gut und so schlecht waren wie die Motive aller Menschen, gelegentlich ganz ehrlich auszusprechen. Er erregte erst Anstoss, dann Verdacht, wurde allmaehlich geradezu verfehmt und in die Acht der Gesellschaft erklaert, bis endlich die Justiz sich eines so verworfenen Wesens erinnerte, bei Gelegenheiten, wo sie sonst kein Auge hatte, oder dasselbe zudrueckte. Der Mangel an Schweigsamkeit ueber das allgemeine Geheimniss und der unverantwortliche Hang, zu sehen, was Keiner sehen will - sich selber - brachten ihn zu Gefaengniss und fruehzeitigem Tod. 66. Straeflich, nie gestraft. - Unser Verbrechen gegen Verbrecher besteht darin, dass wir sie wie Schufte behandeln. 67. Sancta simplicitas der Tugend. - Jede Tugend hat Vorrechte: zum Beispiel diess, zu dem Scheiterhaufen eines Verurtheilten ihr eigenes Buendchen Holz zu liefern. 68. Moralitaet und Erfolg. - Nicht nur die Zuschauer einer That bemessen haeufig das Moralische oder Unmoralische an derselben nach dem Erfolge: nein, der Thaeter selbst thut diess. Denn die Motive und Absichten sind selten deutlich und einfach genug, und mitunter scheint selbst das Gedaechtniss durch den Erfolg der That getruebt, so dass man seiner That selber falsche Motive unterschiebt oder die unwesentlichen Motive als wesentliche behandelt. Der Erfolg giebt oft einer That den vollen ehrlichen Glanz des guten Gewissens, ein Misserfolg legt den Schatten von Gewissensbissen ueber die achtungswuerdigste Handlung. Daraus ergiebt sich die bekannte Praxis des Politikers, welcher denkt: "gebt mir nur den Erfolg: mit ihm habe ich auch alle ehrlichen Seelen auf meine Seite gebracht - und mich vor mir selber ehrlich gemacht." - Auf aehnliche Weise soll der Erfolg die bessere Begruendung ersetzen. Noch jetzt meinen viele Gebildete, der Sieg des Christenthums ueber die griechische Philosophie sei ein Beweis fuer die groessere Wahrheit des ersteren, - obwohl in diesem Falle nur das Groebere und Gewaltsamere ueber das Geistigere und Zarte gesiegt hat. Wie es mit der groesseren Wahrheit steht, ist daraus zu ersehen, dass die erwachenden Wissenschaften Punct um Punct an Epikur's Philosophie angeknuepft, das Christenthum aber Punct um Punct zurueckgewiesen haben. 69. Liebe und Gerechtigkeit. - Warum ueberschaetzt man die Liebe zu Ungunsten der Gerechtigkeit und sagt die schoensten Dinge von ihr, als ob sie ein viel hoeheres Wesen als jene sei? Ist sie denn nicht ersichtlich duemmer als jene? - Gewiss, aber gerade desshalb um so viel angenehmer fuer Alle. Sie ist dumm und besitzt ein reiches Fuellhorn; aus ihm theilt sie ihre Gaben aus, an jedermann, auch wenn er sie nicht verdient, ja ihr nicht einmal dafuer dankt. Sie ist unparteiisch wie der Regen, welcher, nach der Bibel und der Erfahrung, nicht nur den Ungerechten, sondern unter Umstaenden auch den Gerechten bis auf die Haut nass macht. 70. Hinrichtung. - Wie kommt es, dass jede Hinrichtung uns mehr beleidigt, als ein Mord? Es ist die Kaelte der Richter, die peinliche Vorbereitung, die Einsicht, dass hier ein Mensch als Mittel benutzt wird, um andere abzuschrecken. Denn die Schuld wird nicht bestraft, selbst wenn es eine gaebe: diese liegt in Erziehern, Eltern, Umgebungen, in uns, nicht im Moerder, - ich meine die veranlassenden Umstaende. 71. Die Hoffnung. - Pandora brachte das Fass mit den Uebeln und oeffnete es. Es war das Geschenk der Goetter an die Menschen, von Aussen ein schoenes verfuehrerisches Geschenk und "Gluecksfass" zubenannt. Da flogen all die Uebel, lebendige beschwingte Wesen heraus: von da an schweifen sie nun herum und thun den Menschen Schaden bei Tag und Nacht. Ein einziges Uebel war noch nicht aus dem Fass herausgeschluepft: da schlug Pandora nach Zeus' Willen den Deckel zu und so blieb es darin. Fuer immer hat der Mensch nun das Gluecksfass im Hause und meint Wunder was fuer einen Schatz er in ihm habe; es steht ihm zu Diensten, er greift darnach: wenn es ihn geluestet; denn er weiss nicht, dass jenes Fass, welches Pandora brachte, das Fass der Uebel war, und haelt das zurueckgebliebene Uebel fuer das groesste Gluecksgut, - es ist die Hoffnung. - Zeus wollte naemlich, dass der Mensch, auch noch so sehr durch die anderen Uebel gequaelt, doch das Leben nicht wegwerfe, sondern fortfahre, sich immer von Neuem quaelen zu lassen. Dazu giebt er dem Menschen die Hoffnung: sie ist in Wahrheit das uebelste der Uebel, weil sie die Qual der Menschen verlaengert. 72. Grad der moralischen Erhitzbarkeit unbekannt. - Daran, dass man gewisse erschuetternde Anblicke und Eindruecke gehabt oder nicht gehabt hat, zum Beispiel eines unrecht gerichteten, getoedteten oder gemarterten Vaters, einer untreuen Frau, eines grausamen feindlichen Ueberfalls, haengt es ab, ob unsere Leidenschaften zur Gluehhitze kommen und das ganze Leben lenken oder nicht. Keiner weiss, wozu ihn die Umstaende, das Mitleid, die Entruestung treiben koennen, er kennt den Grad seiner Erhitzbarkeit nicht. Erbaermliche kleine Verhaeltnisse machen erbaermlich; es ist gewoehnlich nicht die Qualitaet der Erlebnisse, sondern ihre Quantitaet, von welcher der niedere und hoehere Mensch abhaengt, im Guten und Boesen. 73. Der Maertyrer wider Willen. - In einer Partei gab es einen Menschen, der zu aengstlich und feige war, um je seinen Kameraden zu widersprechen: man brauchte ihn zu jedem Dienst, man erlangte von ihm Alles, weil er sich vor der schlechten Meinung bei seinen Gesellen mehr als vor dem Tode fuerchtete; es war eine erbaermliche schwache Seele. Sie erkannten diess und machten auf Grund der erwaehnten Eigenschaften aus ihm einen Heros und zuletzt gar einen Maertyrer. Obwohl der feige Mensch innerlich immer Nein sagte, sprach er mit den Lippen immer ja, selbst noch auf dem Schaffot, als er fuer die Ansichten seiner Partei starb: neben ihm naemlich stand einer seiner alten Genossen, der ihn durch Wort und Blick so tyrannisirte, dass er wirklich auf die anstaendigste Weise den Tod erlitt und seitdem als Maertyrer und grosser Charakter gefeiert wird. 74. Alltags-Maassstab. - Man wird selten irren, wenn man extreme Handlungen auf Eitelkeit, mittelmaessige auf Gewoehnung und kleinliche auf Furcht zurueckfuehrt. 75. Missverstaendniss ueber die Tugend. - Wer die Untugend in Verbindung mit der Lust kennen gelernt hat, wie Der, welcher eine genusssuechtige Jugend hinter sich hat, bildet sich ein, dass die Tugend mit der Unlust verbunden sein muesse. Wer dagegen von seinen Leidenschaften und Lastern sehr geplagt worden ist, ersehnt in der Tugend die Ruhe und das Glueck der Seele. Daher ist es moeglich, dass zwei Tugendhafte einander gar nicht verstehen. 76. Der Asket. - Der Asket macht aus der Tugend eine Noth. 77. Die Ehre von der Person auf die Sache uebertragen. - Man ehrt allgemein die Handlungen der Liebe und Aufopferung zu Gunsten des Naechsten, wo sie sich auch immer zeigen. Dadurch vermehrt man die Schaetzung der Dinge, welche in jener Art geliebt werden oder fuer welche man sich aufopfert: obwohl sie vielleicht an sich nicht viel werth sind. Ein tapferes Heer ueberzeugt von der Sache, fuer welche es kaempft. 78. Ehrgeiz ein Surrogat des moralischen Gefuehls. - Das moralische Gefuehl darf in solchen Naturen nicht fehlen, welche keinen Ehrgeiz haben. Die Ehrgeizigen behelfen sich auch ohne dasselbe, mit fast gleichem Erfolge. - Desshalb werden Soehne aus bescheidenen, dem Ehrgeiz abgewandten Familien, wenn sie einmal das moralische Gefuehl verlieren, gewoehnlich in schneller Steigerung zu vollkommenen Lumpen. 79. Eitelkeit bereichert. - Wie arm waere der menschliche Geist ohne die Eitelkeit! So aber gleicht er einem wohlgefuellten und immer neu sich fuellenden Waarenmagazin, welches Kaeufer jeder Art anlockt: Alles fast koennen sie finden, Alles haben, vorausgesetzt, dass sie die gueltige Muenzsorte (Bewunderung) mit sich bringen. 80. Greis und Tod.- Abgesehen von den Forderungen, welche die Religion stellt, darf man wohl fragen: warum sollte es fuer einen alt gewordenen Mann, welcher die Abnahme seiner Kraefte spuert, ruehmlicher sein, seine langsame Erschoepfung und Aufloesung abzuwarten, als sich mit vollem Bewusstsein ein Ziel zu setzen? Die Selbsttoedtung ist in diesem Falle eine ganz natuerliche naheliegende Handlung, welche als ein Sieg der Vernunft billigerweise Ehrfurcht erwecken sollte: und auch erweckt hat, in jenen Zeiten als die Haeupter der griechischen Philosophie und die wackersten roemischen Patrioten durch Selbsttoedtung zu sterben pflegten. Die Sucht dagegen, sich mit aengstlicher Berathung von Aerzten und peinlichster Lebensart von Tag zu Tage fortzufristen, ohne Kraft, dem eigentlichen Lebensziel noch naeher zu kommen, ist viel weniger achtbar. - Die Religionen sind reich an Ausfluechten vor der Forderung der Selbsttoedtung: dadurch schmeicheln sie sich bei Denen ein, welche in das Leben verliebt sind. 81. Irrthuemer des Leidenden und des Thaeters. - Wenn der Reiche dem Armen ein Besitzthum nimmt (zum Beispiel ein Fuerst dem Plebejer die Geliebte), so entsteht in dem Armen ein Irrthum; er meint, jener muesse ganz verrucht sein, um ihm das Wenige, was er habe, zu nehmen. Aber jener empfindet den Werth eines einzelnen Besitzthums gar nicht so tief, weil er gewoehnt ist, viele zu haben: so kann er sich nicht in die Seele des Armen versetzen und thut lange nicht so sehr Unrecht, als dieser glaubt. Beide haben von einander eine falsche Vorstellung. Das Unrecht des Maechtigen, welches am meisten in der Geschichte empoert, ist lange nicht so gross, wie es scheint. Schon die angeerbte Empfindung, ein hoeheres Wesen mit hoeheren Anspruechen zu sein, macht ziemlich kalt und laesst das Gewissen ruhig: wir Alle sogar empfinden, wenn der Unterschied zwischen uns und einem andern Wesen sehr gross ist, gar Nichts mehr von Unrecht und toedten eine Muecke zum Beispiel ohne jeden Gewissensbiss. So ist es kein Zeichen von Schlechtigkeit bei Xerxes (den selbst alle Griechen als hervorragend edel schildern), wenn er dem Vater seinen Sohn nimmt und ihn zerstueckeln laesst, weil dieser ein aengstliches, ominoeses Misstrauen gegen den ganzen Heerzug geaeussert hatte: der Einzelne wird in diesem Falle wie ein unangenehmes Insect beseitigt, er steht zu niedrig, um laenger quaelende Empfindungen bei einem Weltherrscher erregen zu duerfen. Ja, jeder Grausame ist nicht in dem Maasse grausam, als es der Misshandelte glaubt; die Vorstellung des Schmerzes ist nicht das Selbe wie das Leiden desselben. Ebenso steht es mit dem ungerechten Richter, mit dem Journalisten, welcher mit kleinen Unredlichkeiten die oeffentliche Meinung irre fuehrt. Ursache und Wirkung sind in allen diesen Faellen von ganz verschiedenen Empfindungs- und Gedankengruppen umgeben; waehrend man unwillkuerlich voraussetzt, dass Thaeter und Leidender gleich denken und empfinden, und gemaess dieser Voraussetzung die Schuld des Einen nach dem Schmerz des Andern misst. 82. Haut der Seele. - Wie die Knochen, Fleischstuecke, Eingeweide und Blutgefaesse mit einer Haut umschlossen sind, die den Anblick des Menschen ertraeglich macht, so werden die Regungen und Leidenschaften der Seele durch die Eitelkeit umhuellt: sie ist die Haut der Seele. 83. Schlaf der Tugend. - Wenn die Tugend geschlafen hat, wird sie frischer aufstehen. 84. Feinheit der Scham. - Die Menschen schaemen sich nicht, etwas Schmutziges zu denken, aber wohl, wenn sie sich vorstellen, dass man ihnen diese schmutzigen Gedanken zutraue. 85. Bosheit ist selten. - Die meisten Menschen sind viel zu sehr mit sich beschaeftigt, um boshaft zu sein. 86. Das Zuenglein an der Wage. - Man lobt oder tadelt, je nachdem das Eine oder das Andere mehr Gelegenheit giebt, unsere Urtheilskraft leuchten zu lassen. 87. Lucas 18,14 verbessert. - Wer sich selbst erniedrigt, will erhoehet werden. 88. Verhinderung des Selbstmordes. - Es giebt ein Recht, wonach wir einem Menschen das Leben nehmen, aber keines, wonach wir ihm das Sterben nehmen: diess ist nur Grausamkeit. 89. Eitelkeit.- Uns liegt an der guten Meinung der Menschen, einmal weil sie uns nuetzlich ist, sodann weil wir ihnen Freude machen wollen (Kinder den Eltern, Schueler den Lehrern und wohlwollende Menschen ueberhaupt allen uebrigen Menschen). Nur wo jemandem die gute Meinung der Menschen wichtig ist, abgesehen vom Vortheil oder von seinem Wunsche, Freude zu machen, reden wir von Eitelkeit. In diesem Falle will sich der Mensch selber eine Freude machen, aber auf Unkosten seiner Mitmenschen, indem er diese entweder zu einer falschen Meinung ueber sich verfuehrt oder es gar auf einen Grad der "guten Meinung" absieht, wo diese allen Anderen peinlich werden muss (durch Erregung von Neid). Der Einzelne will gewoehnlich durch die Meinung Anderer die Meinung, die er von sich hat, beglaubigen und vor sich selber bekraeftigen; aber die maechtige Gewoehnung an Autoritaet - eine Gewoehnung, die so alt als der Mensch ist - bringt Viele auch dazu, ihren eigenen Glauben an sich auf Autoritaet zu stuetzen, also erst aus der Hand Anderer anzunehmen: sie trauen der Urtheilskraft Anderer mehr, als der eigenen. - Das Interesse an sich selbst, der Wunsch, sich zu vergnuegen, erreicht bei dem Eitelen eine solche Hoehe, dass er die Anderen zu einer falschen, allzu hohen Taxation seiner selbst verfuehrt und dann doch sich an die Autoritaet der Anderen haelt: also den Irrthum herbeifuehrt und doch ihm Glauben schenkt. - Man muss sich also eingestehen, dass die eitelen Menschen nicht sowohl Anderen gefallen wollen, als sich selbst, und dass sie so weit gehen, ihren Vortheil dabei zu vernachlaessigen; denn es liegt ihnen oft daran, ihre Mitmenschen unguenstig, feindlich, neidisch, also schaedlich gegen sich stimmen, nur um die Freude an sich selber, den Selbstgenuss, zu haben. 90. Graenze der Menschenliebe. - Jeder, welcher sich dafuer erklaert hat, dass der Andere ein Dummkopf, ein schlechter Geselle sei, aergert sich, wenn Jener schliesslich zeigt, dass er es nicht ist. 91. Moralite larmoyante. - Wie viel Vergnuegen macht die Moralitaet! Man denke nur, was fuer ein Meer angenehmer Thraenen schon bei Erzaehlungen edler, grossmuethiger Handlungen geflossen ist! - Dieser Reiz des Lebens wuerde schwinden, wenn der Glaube an die voellige Unverantwortlichkeit ueberhand naehme. 92. Ursprung der Gerechtigkeit. - Die Gerechtigkeit (Billigkeit) nimmt ihren Ursprung unter ungefaehr gleich Maechtigen, wie diess Thukydides (in dem furchtbaren Gespraeche der athenischen und melischen Gesandten) richtig begriffen hat; wo es keine deutlich erkennbare Uebergewalt giebt und ein Kampf zum erfolglosen, gegenseitigen Schaedigen wuerde, da entsteht der Gedanke sich zu verstaendigen und ueber die beiderseitigen Ansprueche zu verhandeln: der Charakter des Tausches ist der anfaengliche Charakter der Gerechtigkeit. Jeder stellt den Andern zufrieden, indem jeder bekommt, was er mehr schaetzt als der Andere. Man giebt jedem, was er haben will als das nunmehr Seinige, und empfaengt dagegen das Gewuenschte. Gerechtigkeit ist also Vergeltung und Austausch unter der Voraussetzung einer ungefaehr gleichen Machtstellung: so gehoert urspruenglich die Rache in den Bereich der Gerechtigkeit, sie ist ein Austausch. Ebenso die Dankbarkeit. - Gerechtigkeit geht natuerlich auf den Gesichtspunct einer einsichtigen Selbsterhaltung zurueck, also auf den Egoismus jener Ueberlegung: "wozu sollte ich mich nutzlos schaedigen und mein Ziel vielleicht doch nicht erreichen?" - Soviel vom Ursprung der Gerechtigkeit. Dadurch, dass die Menschen, ihrer intellectuellen Gewohnheit gemaess, den urspruenglichen Zweck sogenannter gerechter, billiger Handlungen vergessen haben und namentlich weil durch Jahrtausende hindurch die Kinder angelernt worden sind, solche Handlungen zu bewundern und nachzuahmen, ist allmaehlich der Anschein entstanden, als sei eine gerechte Handlung eine unegoistische: auf diesem Anschein aber beruht die hohe Schaetzung derselben, welche ueberdiess, wie alle Schaetzungen, fortwaehrend noch im Wachsen ist: denn etwas Hochgeschaetztes wird mit Aufopferung erstrebt, nachgeahmt, vervielfaeltigt und waechst dadurch, dass der Werth der aufgewandten Muehe und Beeiferung von jedem Einzelnen noch zum Werthe des geschaetzten Dinges hinzugeschlagen wird. - Wie wenig moralisch saehe die Welt ohne die Vergesslichkeit aus! Ein Dichter koennte sagen, dass Gott die Vergesslichkeit als Thuerhueterin an die Tempelschwelle der Menschenwuerde hingelagert habe. 93. Vom Rechte des Schwaecheren. - Wenn sich jemand unter Bedingungen einem Maechtigeren unterwirft, zum Beispiel eine belagerte Stadt, so ist die Gegenbedingung die, dass man sich vernichten, die Stadt verbrennen und so dem Maechtigen eine grosse Einbusse machen kann. Desshalb entsteht hier eine Art Gleichstellung, auf Grund welcher Rechte festgesetzt werden koennen. Der Feind hat seinen Vortheil an der Erhaltung. - Insofern giebt es auch Rechte zwischen Sclaven und Herren, das heisst genau in dem Maasse, in welchem der Besitz des Sclaven seinem Herrn nuetzlich und wichtig ist. Das Recht geht urspruenglich soweit, als Einer dem Andern werthvoll, wesentlich, unverlierbar, unbesiegbar und dergleichen erscheint. In dieser Hinsicht hat auch der Schwaechere noch Rechte, aber geringere. Daher das beruehmte unusquisque tantum juris habet, quantum potentia valet (oder genauer: quantum potentia valere creditur). 94. Die drei Phasen der bisherigen Moralitaet. - Es ist das erste Zeichen, dass das Thier Mensch geworden ist, wenn sein Handeln nicht mehr auf das augenblickliche Wohlbefinden, sondern auf das dauernde sich bezieht, dass der Mensch also nuetzlich, zweckmaessig wird.- da bricht zuerst die freie Herrschaft der Vernunft heraus. Eine noch hoehere Stufe ist erreicht, wenn er nach dem Princip der Ehre handelt; vermoege desselben ordnet er sich ein, unterwirft sich gemeinsamen Empfindungen, und das erhebt ihn hoch ueber die Phase, in der nur die persoenlich verstandene Nuetzlichkeit ihn leitete: er achtet und will geachtet werden, das heisst: er begreift den Nutzen als abhaengig von dem, was er ueber Andere, was Andere ueber ihn meinen. Endlich handelt er, auf der hoechsten Stufe der bisherigen Moralitaet nach seinem Maassstab ueber die Dinge und Menschen, er selber bestimmt fuer sich und Andere, was ehrenvoll, was nuetzlich ist; er ist zum Gesetzgeber der Meinungen geworden, gemaess dem immer hoeher entwickelten Begriff des Nuetzlichen und Ehrenhaften. Die Erkenntnis befaehigt ihn, das Nuetzlichste, das heisst den allgemeinen dauernden Nutzen dem persoenlichen, die ehrende Anerkennung von allgemeiner dauernder Geltung der momentanen voranzustellen; er lebt und handelt als Collectiv-Individuum. 95. Moral des reifen Individuums. - Man hat bisher als das eigentliche Kennzeichen der moralischen Handlung das Unpersoenliche angesehen; und es ist nachgewiesen, dass zu Anfang die Ruecksicht auf den allgemeinen Nutzen es war, derentwegen man alle unpersoenlichen Handlungen lobte und auszeichnete. Sollte nicht eine bedeutende Umwandelung dieser Ansichten bevorstehen, jetzt wo immer besser eingesehen wird, dass gerade in der moeglichst persoenlichen Ruecksicht auch der Nutzen fuer das Allgemeine am groessten ist: so dass gerade das streng persoenliche Handeln dem jetzigen Begriff der Moralitaet (als einer allgemeinen Nuetzlichkeit) entspricht? Aus sich eine ganze Person machen und in Allem, was man thut, deren hoechstes Wohl in's Auge fassen - das bringt weiter, als jene mitleidigen Regungen und Handlungen zu Gunsten Anderer. Wir Alle leiden freilich noch immer an der allzugeringen Beachtung des Persoenlichen an uns, es ist schlecht ausgebildet, - gestehen wir es uns ein: man hat vielmehr unsern Sinn gewaltsam von ihm abgezogen und dem Staate, der Wissenschaft, dem Huelfebeduerftigen zum Opfer angeboten, wie als ob es das Schlechte waere, das geopfert werden muesste. Auch jetzt wollen wir fuer unsere Mitmenschen arbeiten, aber nur so weit, als wir unsern eigenen hoechsten Vortheil in dieser Arbeit finden, nicht mehr, nicht weniger. Es kommt nur darauf an, was man als seinen Vortheil versteht; gerade das unreife, unentwickelte, rohe Individuum wird ihn auch am rohesten verstehen. 96. Sitte und sittlich.- Moralisch, sittlich, ethisch sein heisst Gehorsam gegen ein altbegruendetes Gesetz oder Herkommen haben. Ob man mit Muehe oder gern sich ihm unterwirft, ist dabei gleichgueltig, genug, dass man es thut. "Gut" nennt man Den, welcher wie von Natur, nach langer Vererbung, also leicht und gern das Sittliche thut, je nachdem diess ist (zum Beispiel Rache uebt, wenn Rache-ueben, wie bei den aelteren Griechen, zur guten Sitte gehoert). Er wird gut genannt, weil er "wozu" gut ist; da aber Wohlwollen, Mitleiden und dergleichen in dem Wechsel der Sitten immer als "gut wozu", als nuetzlich empfunden wurde, so nennt man jetzt vornehmlich den Wohlwollenden, Huelfreichen "gut". Boese ist "nicht sittlich" (unsittlich) sein, Unsitte ueben, dem Herkommen widerstreben, wie vernuenftig oder dumm dasselbe auch sei; das Schaedigen des Naechsten ist aber in allen den Sittengesetzen der verschiedenen Zeiten vornehmlich als schaedlich empfunden worden, so dass wir jetzt namentlich bei dem Wort "boese" an die freiwillige Schaedigung des Naechsten denken. Nicht das "Egoistische" und das "Unegoistische" ist der Grundgegensatz, welcher die Menschen zur Unterscheidung von sittlich und unsittlich, gut und boese gebracht hat, sondern: Gebundensein an ein Herkommen, Gesetz, und Loesung davon. Wie das Herkommen entstanden ist, das ist dabei gleichgueltig, jedenfalls ohne Ruecksicht auf gut und boese oder irgend einen immanenten kategorischen Imperativ, sondern vor Allem zum Zweck der Erhaltung einer Gemeinde, eines Volkes; jeder aberglaeubische Brauch, der auf Grund eines falsch gedeuteten Zufalls entstanden ist, erzwingt ein Herkommen, welchem zu folgen sittlich ist; sich von ihm loesen ist naemlich gefaehrlich, fuer die Gemeinschaft noch mehr schaedlich als fuer den Einzelnen (weil die Gottheit den Frevel und jede Verletzung ihrer Vorrechte an der Gemeinde und nur insofern auch am Individuum straft). Nun wird jedes Herkommen fortwaehrend ehrwuerdiger, je weiter der Ursprung abliegt, je mehr dieser vergessen ist; die ihm gezollte Verehrung haeuft sich von Generation zu Generation auf, das Herkommen wird zuletzt heilig und erweckt Ehrfurcht; und so ist jedenfalls die Moral der Pietaet eine viel aeltere Moral, als die, welche unegoistische Handlungen verlangt. 97. Die Lust in der Sitte. - Eine wichtige Gattung der Lust und damit der Quelle der Moralitaet entsteht aus der Gewohnheit. Man thut das Gewohnte leichter, besser, also lieber, man empfindet dabei eine Lust, und weiss aus der Erfahrung, dass das Gewohnte sich bewaehrt hat, also nuetzlich ist; eine Sitte, mit der sich leben laesst, ist als heilsam, foerderlich bewiesen, im Gegensatz zu allen neuen, noch nicht bewaehrten Versuchen. Die Sitte ist demnach die Vereinigung des Angenehmen und des Nuetzlichen, ueberdiess macht sie kein Nachdenken noethig. Sobald der Mensch Zwang ausueben kann, uebt er ihn aus, um seine Sitten durchzusetzen und einzufuehren, denn fuer ihn sind sie die bewaehrte Lebensweisheit. Ebenso zwingt eine Gemeinschaft von Individuen jedes einzelne zur selben Sitte. Hier ist der Fehlschluss: weil man sich mit einer Sitte wohl fuehlt oder wenigstens weil man vermittelst derselben seine Existenz durchsetzt, so ist diese Sitte nothwendig, denn sie gilt als die einzige Moeglichkeit, unter der man sich wohl fuehlen kann; das Wohlgefuehl des Lebens scheint allein aus ihr hervorzuwachsen. Diese Auffassung des Gewohnten als einer Bedingung des Daseins wird bis auf die kleinsten Einzelheiten der Sitte durchgefuehrt: da die Einsicht in die wirkliche Causalitaet bei den niedrig stehenden Voelkern und Culturen sehr gering ist, so sieht man mit aberglaeubischer Furcht darauf, dass Alles seinen gleichen Gang gehe; selbst wo die Sitte schwer, hart, laestig ist, wird sie ihrer scheinbar hoechsten Nuetzlichkeit wegen bewahrt. Man weiss nicht, dass der selbe Grad von Wohlbefinden auch bei anderen Sitten bestehen kann und dass selbst hoehere Grade sich erreichen lassen. Wohl aber nimmt man wahr, dass alle Sitten, auch die haertesten, mit der Zeit angenehmer und milder werden, und dass auch die strengste Lebensweise zur Gewohnheit und damit zur Lust werden kann. 98. Lust und socialer Instinct. - Aus seinen Beziehungen zu andern Menschen gewinnt der Mensch eine neue Gattung von Lust zu jenen Lustempfindungen hinzu, welche er aus sich selber nimmt; wodurch er das Reich der Lustempfindung ueberhaupt bedeutend umfaenglicher macht. Vielleicht hat er mancherlei, das hierher gehoert, schon von den Thieren her ueberkommen, welche ersichtlich Lust empfinden, wenn sie mit einander spielen, namentlich die Muetter mit den jungen. Sodann gedenke man der geschlechtlichen Beziehungen, welche jedem Maennchen ungefaehr jedes Weibchen interessant in Ansehung der Lust erscheinen lassen, und umgekehrt. Die Lustempfindung auf Grund menschlicher Beziehungen macht im Allgemeinen den Menschen besser; die gemeinsame Freude, die Lust mitsammen genossen, erhoeht dieselbe, sie giebt dem Einzelnen Sicherheit, macht ihn gutmuethiger, loest das Misstrauen, den Neid: denn man fuehlt sich selber wohl und sieht den Andern in gleicher Weise sich wohl fuehlen. Die gleichartigen Aeusserungen der Lust erwecken die Phantasie der Mitempfindung, das Gefuehl etwas Gleiches zu sein: das Selbe thun auch die gemeinsamen Leiden, die selben Unwetter, Gefahren, Feinde. Darauf baut sich dann wohl das aelteste Buendniss auf: dessen Sinn die gemeinsame Beseitigung und Abwehr einer drohenden Unlust zum Nutzen jedes Einzelnen ist. Und so waechst der sociale Instinct aus der Lust heraus. 99. Das Unschuldige an den sogenannten boesen Handlungen. - Alle "boesen" Handlungen sind motivirt durch den Trieb der Erhaltung oder, noch genauer, durch die Absicht auf Lust und Vermeidung der Unlust des Individuums; als solchermaassen motivirt, aber nicht boese. "Schmerz bereiten an sich" existirt nicht, ausser im Gehirn der Philosophen, ebensowenig "Lust bereiten an sich" (Mitleid im Schopenhauerischen Sinne). In dem Zustand vor dem Staate toedten wir das Wesen, sei es Affe oder Mensch, welches uns eine Frucht des Baumes vorwegnehmen will, wenn wir gerade Hunger haben und auf den Baum zulaufen: wie wir es noch jetzt bei Wanderungen in unwirthlichen Gegenden mit dem Thiere thun wuerden. - Die boesen Handlungen, welche uns jetzt am meisten empoeren, beruhen auf dem Irrthume, dass der Andere, welcher sie uns zufuegt, freien Willen habe, also dass es in seinem Belieben gelegen habe, uns diess Schlimme nicht anzuthun. Dieser Glaube an das Belieben erregt den Hass, die Rachlust, die Tuecke, die ganze Verschlechterung der Phantasie, waehrend wir einem Thiere viel weniger zuernen, weil wir diess als unverantwortlich betrachten. Leid thun nicht aus Erhaltungstrieb, sondern zur Vergeltung - ist Folge eines falschen Urtheils und desshalb ebenfalls unschuldig. Der Einzelne kann im Zustande, welcher vor dem Staate liegt, zur Abschreckung andere Wesen hart und grausam behandeln: um seine Existenz durch solche abschreckende Proben seiner Macht sicher zu stellen. So handelt der Gewaltthaetige, Maechtige, der urspruengliche Staatengruender, welcher sich die Schwaecheren unterwirft. Er hat dazu das Recht, wie es jetzt noch der Staat sich nimmt; oder vielmehr: es giebt kein Recht, welches diess hindern kann. Es kann erst dann der Boden fuer alle Moralitaet zurecht gemacht werden, wenn ein groesseres Individuum oder ein Collectiv-Individuum, zum Beispiel die Gesellschaft, der Staat, die Einzelnen unterwirft, also aus ihrer Vereinzelung herauszieht und in einen Verband einordnet. Der Moralitaet geht der Zwang voraus, ja sie selber ist noch eine Zeit lang Zwang, dem man sich, zur Vermeidung der Unlust, fuegt. Spaeter wird sie Sitte, noch spaeter freier Gehorsam, endlich beinahe Instinct: dann ist sie wie alles lang Gewoehnte und Natuerliche mit Lust verknuepft - und heisst nun Tugend. 100. Scham.- Die Scham existirt ueberall, wo es ein "Mysterium" giebt; diess aber ist ein religioeser Begriff, welcher in der aelteren Zeit der menschlichen Cultur einen grossen Umfang hatte. Ueberall gab es umgraenzte Gebiete, zu welchen das goettliche Recht den Zutritt versagte, ausser unter bestimmten Bedingungen: zu allererst ganz raeumlich, insofern gewisse Staetten vom Fusse der Uneingeweihten nicht zu betreten waren und in deren Naehe Diese Schauder und Angst empfanden. Diess Gefuehl wurde vielfach auf andere Verhaeltnisse uebertragen, zum Beispiel auf die geschlechtlichen Verhaeltnisse, welche als ein Vorrecht und Adyton des reiferen Alters den Blicken der Jugend, zu deren Vortheil, entzogen werden sollten: Verhaeltnisse, zu deren Schutz und Heilighaltung viele Goetter thaetig und im ehelichen Gemache als Waechter aufgestellt gedacht wurden. (Im Tuerkischen heisst desshalb diess Gemach Harem "Heiligthum", wird also mit demselben Worte bezeichnet, welches fuer die Vorhoefe der Moscheen ueblich ist.) So ist das Koenigthum als ein Centrum, von wo Macht und Glanz ausstrahlt, dem Unterworfenen ein Mysterium voller Heimlichkeit und Scham: wovon viele Nachwirkungen noch jetzt, unter Voelkern, die sonst keineswegs zu den verschaemten gehoeren, zu fuehlen sind. Ebenso ist die ganze Welt innerer Zustaende, die sogenannte "Seele", auch jetzt noch fuer alle Nicht-Philosophen ein Mysterium, nachdem diese, endlose Zeit hindurch, als goettlichen Ursprungs, als goettlichen Verkehrs wuerdig geglaubt wurde: sie ist demnach ein Adyton und erweckt Scham. 101. Richtet nicht. - Man muss sich hueten, bei der Betrachtung frueherer Perioden nicht in ein ungerechtes Schimpfen zu gerathen. Die Ungerechtigkeit in der Sclaverei, die Grausamkeit in der Unterwerfung von Personen und Voelkern ist nicht mit unserem Maasse zu messen. Denn damals war der Instinct der Gerechtigkeit noch nicht so weit gebildet. Wer darf dem Genfer Calvin die Verbrennung des Arztes Servet vorwerfen? Es war eine consequente aus seinen Ueberzeugungen fliessende Handlung, und ebenso hatte die Inquisition ein gutes Recht; nur waren die herrschenden Ansichten falsch und ergaben eine Consequenz, welche uns hart erscheint, weil uns jene Ansichten fremd geworden sind. Was ist uebrigens Verbrennen eines Einzelnen im Vergleich mit ewigen Hoellenstrafen fuer fast Alle! Und doch beherrschte diese Vorstellung damals alle Welt, ohne mit ihrer viel groesseren Schrecklichkeit der Vorstellung von einem Gotte wesentlich Schaden zu thun. Auch bei uns werden politische Sectirer hart und grausam behandelt, aber weil man an die Nothwendigkeit des Staates zu glauben gelernt hat, so empfindet man hier die Grausamkeit nicht so sehr wie dort, wo wir die Anschauungen verwerfen. Die Grausamkeit gegen Thiere bei Kindern und Italiaenern geht auf Unverstaendniss zurueck; das Thier ist namentlich durch die Interessen der kirchlichen Lehre zu weit hinter den Menschen zurueckgesetzt worden. - Auch mildert sich vieles Schreckliche und Unmenschliche in der Geschichte, an welches man kaum glauben moechte, durch die Betrachtung, dass der Befehlende und der Ausfuehrende andere Personen sind: ersterer hat den Anblick nicht und daher nicht den starken Phantasie-Eindruck, letzterer gehorcht einem Vorgesetzten und fuehlt sich unverantwortlich. Die meisten Fuersten und Militaerchefs erscheinen, aus Mangel an Phantasie, leicht grausam und hart, ohne es zu sein. - Der Egoismus ist nicht boese, weil die Vorstellung vom "Naechsten" -das Wort ist christlichen Ursprungs und entspricht der Wahrheit nicht - in uns sehr schwach ist; und wir uns gegen ihn beinahe wie gegen Pflanze und Stein frei und unverantwortlich fuehlen. Dass der Andere leidet, ist zu lernen: und voellig kann es nie gelernt werden. 102. "Der Mensch handelt immer gut." - Wir klagen die Natur nicht als unmoralisch an, wenn sie uns ein Donnerwetter schickt und uns nass macht: warum nennen wir den schaedigenden Menschen unmoralisch? Weil wir hier einen willkuerlich waltenden, freien Willen, dort Nothwendigkeit annehmen. Aber diese Unterscheidung ist ein Irrthum. Sodann: selbst das absichtliche Schaedigen nennen wir nicht unter allen Umstaenden unmoralisch; man toedtet z.B. eine Muecke unbedenklich mit Absicht, blos weil uns ihr Singen missfaellt, man straft den Verbrecher absichtlich und thut ihm Leid an, um uns und die Gesellschaft zu schuetzen. Im ersten Falle ist es das Individuum, welches, um sich zu erhalten oder selbst um sich keine Unlust zu machen, absichtlich Leid thut; im zweiten der Staat. Alle Moral laesst absichtliches Schadenthun gelten bei Nothwehr: das heisst wenn es sich um die Selbsterhaltung handelt! Aber diese beiden Gesichtspuncte genuegen, um alle boesen Handlungen gegen Menschen, von Menschen ausgeuebt, zu erklaeren: man will fuer sich Lust oder will Unlust abwehren; in irgend einem Sinne handelt es sich immer um Selbsterhaltung. Sokrates und Plato haben Recht: was auch der Mensch thue, er thut immer das Gute, das heisst: Das, was ihm gut (nuetzlich) scheint, je nach dem Grade seines Intellectes, dem jedesmaligen Maasse seiner Vernuenftigkeit. 103. Das Harmlose an der Bosheit. - Die Bosheit hat nicht das Leid des Andern an sich zum Ziele, sondern unsern eigenen Genuss, zum Beispiel als Rachegefuehl oder als staerkere Nervenaufregung. Schon jede Neckerei zeigt, wie es Vergnuegen macht, am Andern unsere Macht auszulassen und es zum lustvollen Gefuehle des Uebergewichts zu bringen. Ist nun das Unmoralische daran, Lust auf Grund der Unlust Anderer zu haben? Ist Schadenfreude teuflisch, wie Schopenhauer sagt? Nun machen wir uns in der Natur Lust durch Zerbrechen von Zweigen, Abloesen von Steinen, Kampf mit wilden Thieren und zwar, um unserer Kraft dabei bewusst zu werden. Das Wissen darum, dass ein Anderer durch uns leidet, soll hier die selbe Sache, in Bezug auf welche wir uns sonst unverantwortlich fuehlen, unmoralisch machen? Aber wuesste man diess nicht, so haette man die Lust an seiner eigenen Ueberlegenheit auch nicht dabei, diese kann eben sich nur im Leide des Anderen zuerkennen geben, zum Beispiel bei der Neckerei. Alle Lust an sich selber ist weder gut noch boese; woher sollte die Bestimmung kommen, dass man, um Lust an sich selber zu haben, keine Unlust Anderer erregen duerfe? Allein vom Gesichtspuncte des Nutzens her, das heisst aus Ruecksicht auf die Folgen, auf eventuelle Unlust, wenn der Geschaedigte oder der stellvertretende Staat Ahndung und Rache erwarten laesst: nur Diess kann urspruenglich den Grund abgegeben haben, solche Handlungen sich zu versagen. - Das Mitleid hat ebensowenig die Lust des Andern zum Ziele, als, wie gesagt, die Bosheit den Schmerz des Andern an sich. Denn es birgt mindestens zwei (vielleicht mehr) Elemente einer persoenlichen Lust in sich und ist dergestalt Selbstgenuss: einmal als Lust der Emotion, welcher Art Mitleid in der Tragoedie ist, und dann, wenn es zur That treibt, als Lust der Befriedigung in der Ausuebung der Macht. Steht uns ueberdiess eine leidende Person sehr nahe, so nehmen durch Ausuebung mitleidvoller Handlungen uns selbst ein Leid ab. - Abgesehen von einigen Philosophen, so haben die Menschen das Mitleid, in der Rangfolge moralischer Empfindungen immer ziemlich tief gestellt: mit Recht. 104. Nothwehr.- Wenn man ueberhaupt die Nothwehr als moralisch gelten laesst, so muss man fast alle Aeusserungen des sogenannten unmoralischen Egoismus' auch gelten lassen: man thut Leid an, raubt oder toedtet, um sich zu erhalten oder um sich zu schuetzen, dem persoenlichen Unheil vorzubeugen; man luegt, wo List und Verstellung das richtige Mittel der Selbsterhaltung sind. Absichtlich schaedigen, wenn es sich um unsere Existenz oder Sicherheit (Erhaltung unseres Wohlbefindens) handelt, wird als moralisch concedirt; der Staat schaedigt selber unter diesem Gesichtspunct, wenn er Strafen verhaengt. Im unabsichtlichen Schaedigen kann natuerlich das Unmoralische nicht liegen, da regiert der Zufall. Giebt es denn eine Art des absichtlichen Schaedigens, wo es sich nicht um unsere Existenz, um die Erhaltung unseres Wohlbefindens handelt? Giebt es ein Schaedigen aus reiner Bosheit, zum Beispiel bei der Grausamkeit? Wenn man nicht weiss, wie weh eine Handlung thut, so ist sie keine Handlung der Bosheit; so ist das Kind gegen das Thier nicht boshaft, nicht boese: es untersucht und zerstoert dasselbe wie sein Spielzeug. Weiss man aber je voellig, wie weh eine Handlung einem Andern thut? So weit unser Nervensystem reicht, hueten wir uns vor Schmerz: reichte es weiter, naemlich bis in die Mitmenschen hinein, so wuerden wir Niemandem ein Leides thun (ausser in solchen Faellen, wo wir es uns selbst thun, also wo wir uns der Heilung halber schneiden, der Gesundheit halber uns muehen und anstrengen). Wir schliessen aus Analogie, dass Etwas jemandem weh thut, und durch die Erinnerung und die Staerke der Phantasie kann es uns dabei selber uebel werden. Aber welcher Unterschied bleibt immer zwischen dem Zahnschmerz und dem Schmerze (Mitleiden), welchen der Anblick des Zahnschmerzes hervorruft? Also: bei dem Schaedigen aus sogenannter Bosheit ist der Grad des erzeugten Schmerzes uns jedenfalls unbekannt; insofern aber eine Lust bei der Handlung ist (Gefuehl der eignen Macht, der eignen starken Erregung), geschieht die Handlung, um das Wohlbefinden des Individuums zu erhalten und faellt somit unter einen aehnlichen Gesichtspunct wie die Nothwehr, die Nothluege. Ohne Lust kein Leben; der Kampf um die Lust ist der Kampf um das Leben. Ob der Einzelne diesen Kampf so kaempft, dass die Menschen ihn gut, oder so, dass sie ihn boese nennen, darueber entscheidet das Maass und die Beschaffenheit seines Intellects. 105. Die belohnende Gerechtigkeit. - Wer vollstaendig die Lehre von der voelligen Unverantwortlichkeit begriffen hat, der kann die sogenannte strafende und belohnende Gerechtigkeit gar nicht mehr unter den Begriff der Gerechtigkeit unterbringen: falls diese darin besteht, dass man jedem das Seine giebt. Denn Der, welcher gestraft wird, verdient die Strafe nicht: er wird nur als Mittel benutzt, um fuerderhin von gewissen Handlungen abzuschrecken; ebenso verdient Der, welchen man belohnt, diesen Lohn nicht: er konnte ja nicht anders handeln, als er gehandelt hat. Also hat der Lohn nur den Sinn einer Aufmunterung fuer ihn und Andere, um also zu spaeteren Handlungen ein Motiv abzugeben; das Lob wird dem Laufenden in der Rennbahn zugerufen, nicht Dem, welcher am Ziele ist. Weder Strafe noch Lohn sind Etwas, das Einem als das Seine zukommt; sie werden ihm aus Nuetzlichkeitsgruenden gegeben, ohne dass er mit Gerechtigkeit Anspruch auf sie zu erheben haette. Man muss ebenso sagen "der Weise belohnt nicht, weil gut gehandelt worden ist", als man gesagt hat "der Weise straft nicht, weil schlecht gehandelt worden ist, sondern damit nicht schlecht gehandelt werde". Wenn Strafe und Lohn fortfielen, so fielen die kraeftigsten Motive, welche von gewissen Handlungen weg, zu gewissen Handlungen hin treiben, fort; der Nutzen der Menschen erheischt ihre Fortdauer; und insofern Strafe und Lohn, Tadel und Lob am empfindlichsten auf die Eitelkeit wirken, so erheischt der selbe Nutzen auch die Fortdauer der Eitelkeit. 106. Am Wasserfall. - Beim Anblick eines Wasserfalles meinen wir in den zahllosen Biegungen, Schlaengelungen, Brechungen der Wellen Freiheit des Willens und Belieben zu sehen; aber Alles ist nothwendig, jede Bewegung mathematisch auszurechnen. So ist es auch bei den menschlichen Handlungen; man muesste jede einzelne Handlung vorher ausrechnen koennen, wenn man allwissend waere, ebenso jeden Fortschritt der Erkenntniss, jeden Irrthum, jede Bosheit. Der Handelnde selbst steckt freilich in der Illusion der Willkuer; wenn in einem Augenblick das Rad der Welt still staende und ein allwissender, rechnender Verstand da waere, um diese Pausen zu benuetzen, so koennte er bis in die fernsten Zeiten die Zukunft jedes Wesens weitererzaehlen und jede Spur bezeichnen, auf der jenes Rad noch rollen wird. Die Taeuschung des Handelnden ueber sich, die Annahme des freien Willens, gehoert mit hinein in diesen auszurechnenden Mechanismus. 107. Unverantwortlichkeit und Unschuld. - Die voellige Unverantwortlichkeit des Menschen fuer sein Handeln und sein Wesen ist der bitterste Tropfen, welchen der Erkennende schlucken muss, wenn er gewohnt war, in der Verantwortlichkeit und der Pflicht den Adelsbrief seines Menschenthums zu sehen. Alle seine Schaetzungen, Auszeichnungen, Abneigungen sind dadurch entwerthet und falsch geworden: sein tiefstes Gefuehl, das er dem Dulder, dem Helden entgegenbrachte, hat einem Irrthume gegolten; er darf nicht mehr loben, nicht tadeln, denn es ist ungereimt, die Natur und die Nothwendigkeit zu loben und zu tadeln. So wie er das gute Kunstwerk liebt, aber nicht lobt, weil es Nichts fuer sich selber kann, wie er vor der Pflanze steht, so muss er vor den Handlungen der Menschen, vor seinen eignen stehen. Er kann Kraft, Schoenheit, Fuelle an ihnen bewundern, aber darf keine Verdienste darin finden: der chemische Process und der Streit der Elemente, die Qual des Kranken, der nach Genesung lechzt, sind ebensowenig Verdienste, als jene Seelenkaempfe und Nothzustaende, bei denen man durch verschiedene Motive hin- und hergerissen wird, bis man sich endlich fuer das maechtigste entscheidet - wie man sagt (in Wahrheit aber, bis das maechtigste Motiv ueber uns entscheidet). Alle diese Motive aber, so hohe Namen wir ihnen geben, sind aus den selben Wurzeln gewachsen, in denen wir die boesen Gifte wohnend glauben; zwischen guten und boesen Handlungen giebt es keinen Unterschied der Gattung, sondern hoechstens des Grades. Gute Handlungen sind sublimirte boese; boese Handlungen sind vergroeberte, verdummte gute. Das einzige Verlangen des Individuums nach Selbstgenuss (sammt der Furcht, desselben verlustig zu gehen) befriedigt sich unter allen Umstaenden, der Mensch mag handeln, wie er kann, das heisst wie er muss: sei es in Thaten der Eitelkeit, Rache, Lust, Nuetzlichkeit, Bosheit, List, sei es in Thaten der Aufopferung, des Mitleids, der Erkenntniss. Die Grade der Urtheilsfaehigkeit entscheiden, wohin Jemand sich durch diess Verlangen hinziehen laesst; fortwaehrend ist jeder Gesellschaft, jedem Einzelnen eine Rangordnung der Gueter gegenwaertig, wonach er seine Handlungen bestimmt und die der Anderen beurtheilt. Aber dieser Maassstab wandelt sich fortwaehrend, viele Handlungen werden boese genannt und sind nur dumm, weil der Grad der Intelligenz, welcher sich fuer sie entschied, sehr niedrig war. Ja, in einem bestimmten Sinne sind auch jetzt noch alle Handlungen dumm, denn der hoechste Grad von menschlicher Intelligenz, der jetzt erreicht werden kann, wird sicherlich noch ueberboten werden: und dann wird, bei einem Rueckblick, all unser Handeln und Urtheilen so beschraenkt und uebereilt erscheinen, wie uns jetzt das Handeln und Urtheilen zurueckgebliebener wilder Voelkerschaften beschraenkt und uebereilt vorkommt. - Diess Alles einzusehen, kann tiefe Schmerzen machen, aber darnach giebt es einen Trost: solche Schmerzen sind Geburtswehen. Der Schmetterling will seine Huelle durchbrechen, er zerrt an ihr, er zerreisst sie: da blendet und verwirrt ihn das unbekannte Licht, das Reich der Freiheit. In solchen Menschen, welche jener Traurigkeit faehig sind - wie wenige werden es sein! - wird der erste Versuch gemacht, ob die Menschheit aus einer moralischen sich in eine weise Menschheit umwandeln koenne. Die Sonne eines neuen Evangeliums wirft ihren ersten Strahl auf die hoechsten Gipfel in der Seele jener Einzelnen: da ballen sich die Nebel dichter, als je, und neben einander lagert der hellste Schein und die truebste Daemmerung. Alles ist Nothwendigkeit, - so sagt die neue Erkenntniss: und diese Erkenntniss selber ist Nothwendigkeit. Alles ist Unschuld: und die Erkenntniss ist der Weg zur Einsicht in diese Unschuld. Sind Lust, Egoismus, Eitelkeit nothwendig zur Erzeugung der moralischen Phaenomene und ihrer hoechsten Bluethe, des Sinnes fuer Wahrheit und Gerechtigkeit der Erkenntniss, war der Irrthum und die Verirrung der Phantasie das einzige Mittel, durch welches die Menschheit sich allmaehlich zu diesem Grade von Selbsterleuchtung und Selbsterloesung zu erheben vermochte - wer duerfte jene Mittel geringschaetzen? Wer duerfte traurig sein, wenn er das Ziel, zu dem jene Wege fuehren, gewahr wird? Alles auf dem Gebiete der Moral ist geworden, wandelbar, schwankend, Alles ist im Flusse, es ist wahr: - aber Alles ist auch im Strome: nach Einem Ziele hin. Mag in uns die vererbte Gewohnheit des irrthuemlichen Schaetzens, Liebens, Hassens immerhin fortwalten, aber unter dem Einfluss der wachsenden Erkenntniss wird sie schwaecher werden: eine neue Gewohnheit, die des Begreifens, Nicht-Liebens, Nicht-Hassens, Ueberschauens, pflanzt sich allmaehlich in uns auf dem selben Boden an und wird in Tausenden von Jahren vielleicht maechtig genug sein, um der Menschheit die Kraft zu geben, den weisen, unschuldigen (unschuld-bewussten) Menschen ebenso regelmaessig hervorzubringen, wie sie jetzt den unweisen, unbilligen, schuldbewussten Menschen - das heisst die nothwendige Vorstufe, nicht den Gegensatz von jenem - hervorbringt. Drittes Hauptstueck. Das religioese Leben. 108. Der doppelte Kampf gegen das Uebel. -Wenn uns ein Uebel trifft, so kann man entweder so ueber dasselbe hinwegkommen, dass man seine Ursache hebt, oder so, dass man die Wirkung, welche es auf unsere Empfindung macht, veraendert: also durch ein Umdeuten des Uebels in ein Gut, dessen Nutzen vielleicht erst spaeter ersichtlich sein wird. Religion und Kunst (auch die metaphysische Philosophie) bemuehen sich, auf die Aenderung der Empfindung zu wirken, theils durch Aenderung unseres Urtheils ueber die Erlebnisse (zum Beispiel mit Huelfe des Satzes: "wen Gott lieb hat, den zuechtigt er"), theils durch Erweckung einer Lust am Schmerz, an der Emotion ueberhaupt (woher die Kunst des Tragischen ihren Ausgangspunct nimmt). Je mehr Einer dazu neigt, umzudeuten und zurechtzulegen, um so weniger wird er die Ursachen des Uebels in's Auge fassen und beseitigen; die augenblickliche Milderung und Narkotisirung, wie sie zum Beispiel bei Zahnschmerz gebraeuchlich ist, genuegt ihm auch in ernsteren Leiden. Je mehr die Herrschaft der Religionen und aller Kunst der Narkose abnimmt, um so strenger fassen die Menschen die wirkliche Beseitigung der Uebel in's Auge, was freilich schlimm fuer die Tragoediendichter ausfaellt - denn zur Tragoedie findet sich immer weniger Stoff, weil das Reich des unerbittlichen, unbezwinglichen Schicksals immer enger wird -, noch schlimmer aber fuer die Priester: denn diese lebten bisher von der Narkotisirung menschlicher Uebel. 109. Gram ist Erkenntniss. - Wie gern moechte man die falschen Behauptungen der Priester, es gebe einen Gott, der das Gute von uns verlangte, Waechter und Zeuge jeder Handlung, jedes Augenblickes, jedes Gedankens sei, der uns liebe, in allem Unglueck unser Bestes wolle, - wie gern moechte man diese mit Wahrheiten vertauschen, welche ebenso heilsam, beruhigend und wohlthuend waeren, wie jene Irrthuemer! Doch solche Wahrheiten giebt es nicht; die Philosophie kann ihnen hoechstens wiederum metaphysische Scheinbarkeiten (im Grunde ebenfalls Unwahrheiten) entgegensetzen. Nun ist aber die Tragoedie die, dass man jene Dogmen der Religion und Metaphysik nicht glauben kann, wenn man die strenge Methode der Wahrheit im Herzen und Kopfe hat, andererseits durch die Entwickelung der Menschheit so zart, reizbar, leidend geworden ist, um Heil- und Trostmittel der hoechsten Art noethig zu haben; woraus also die Gefahr entsteht, dass der Mensch sich an der erkannten Wahrheit verblute. Diess drueckt Byron in unsterblichen Versen aus: Sorrow is knowledge: they who know the most must mourn the deepst o'er the fatal truth, the tree of knowledge is not that of life. Gegen solche Sorgen hilft kein Mittel besser, als den feierlichen Leichtsinn Horazens, wenigstens fuer die schlimmsten Stunden und Sonnenfinsternisse der Seele, heraufzubeschwoeren und mit ihm zu sich selber zu sagen: quid aeternis minorem consiliis animum fatigas? cur non sub alta vel platano vel hac pinu jacentes - Sicherlich aber ist Leichtsinn oder Schwermuth jeden Grades besser, als eine romantische Rueckkehr und Fahnenflucht, eine Annaeherung an das Christenthum in irgend einer Form: denn mit ihm kann man sich, nach dem gegenwaertigen Stande der Erkenntniss, schlechterdings nicht mehr einlassen, ohne sein in intellectuales Gewissen heillos zu beschmutzen und vor sich und Anderen preiszugeben. Jene Schmerzen moegen peinlich genug sein: aber man kann ohne Schmerzen nicht zu einem Fuehrer und Erzieher der Menschheit werden; und wehe Dem, welcher diess versuchen moechte und jenes reine Gewissen nicht mehr haette! 110. Die Wahrheit in der Religion. - In der Periode der Aufklaerung war man der Bedeutung der Religion nicht gerecht geworden, daran ist nicht zu zweifeln: aber ebenso steht fest, dass man, in dem darauffolgenden Widerspiel der Aufklaerung, wiederum um ein gutes Stueck ueber die Gerechtigkeit hinausgieng, indem man die Religionen mit Liebe, selbst mit Verliebtheit behandelte und ihnen zum Beispiel ein tieferes, ja das allertiefste Verstaendniss der Welt zuerkannte; welches die Wissenschaft des dogmatischen Gewandes zu entkleiden habe, um dann in unmythischer Form die "Wahrheit" zu besitzen. Religionen sollen also - diess war die Behauptung aller Gegner der Aufklaerung - sensu allegorico, mit Ruecksicht auf das Verstehen der Menge, jene uralte Weisheit aussprechen, welche die Weisheit an sich sei, insofern alle wahre Wissenschaft der neueren Zeit immer zu ihr hin, anstatt von ihr weg, gefuehrt habe: so dass zwischen den aeltesten Weisen der Menschheit und allen spaeteren Harmonie, ja Gleichheit der Einsichten walte und ein Fortschritt der Erkenntnisse - falls man von einem solchen reden wolle - sich nicht auf das Wesen, sondern die Mittheilung desselben beziehe. Diese ganze Auffassung von Religion und Wissenschaft ist durch und durch irrthuemlich; und Niemand wuerde jetzt noch zu ihr sich zu bekennen wagen, wenn nicht Schopenhauer's Beredtsamkeit sie in Schutz genommen haette: diese laut toenende und doch erst nach einem Menschenalter ihre Hoerer erreichende Beredtsamkeit. So gewiss man aus Schopenhauer's religioes-moralischer Menschen- und Weltdeutung sehr viel fuer das Verstaendniss des Christenthums und anderer Religionen gewinnen kann, so gewiss ist es auch, dass er ueber den Werth der Religion fuer die Erkenntniss sich geirrt hat. Er selbst war darin ein nur zu folgsamer Schueler der wissenschaftlichen Lehrer seiner Zeit, welche allesammt der Romantik huldigten und dem Geiste der Aufklaerung abgeschworen hatten; in unsere jetzige Zeit hineingeboren, wuerde er unmoeglich vom sensus allegoricus der Religion haben reden koennen; er wuerde vielmehr der Wahrheit die Ehre gegeben haben, wie er es pflegte, mit den Worten: noch nie hat eine Religion, weder mittelbar, noch unmittelbar, weder als Dogma, noch als Gleichniss, eine Wahrheit enthalten. Denn aus der Angst und dem Beduerfniss ist eine jede geboren, auf Irrgaengen der Vernunft hat sie sich in's Dasein geschlichen; sie hat vielleicht einmal, im Zustande der Gefaehrdung durch die Wissenschaft, irgend eine philosophische Lehre in ihr System hineingelogen, damit man sie spaeter darin vorfinde: aber diess ist ein Theologenkunststueck, aus der Zeit, in welcher eine Religion schon an sich selber zweifelt. Diese Kunststuecke der Theologie, welche freilich im Christenthum, als der Religion eines gelehrten, mit Philosophie durchtraenkten Zeitalters, sehr frueh schon geuebt wurden, haben auf jenen Aberglauben vom sensus allegoricus hingeleitet, noch mehr aber die Gewohnheit der Philosophen (namentlich er Halbwesen, der dichterischen Philosophen und der philosophirenden Kuenstler), alle die Empfindungen, welche sie in sich vorfanden, als Grundwesen des Menschen ueberhaupt zu behandeln und somit auch ihren eigenen religioesen Empfindungen einen bedeutenden Einfluss auf den Gedankenbau ihrer Systeme zu gestatten. Weil die Philosophen vielfach unter dem Herkommen religioeser Gewohnheiten, oder mindestens unter der altvererbten Macht jenes "metaphysischen Beduerfnisses" philosophirten, so gelangten sie zu Lehrmeinungen, welche in der That den juedischen oder christlichen oder indischen Religionsmeinungen sehr aehnlich sahen, - aehnlich naemlich, wie Kinder den Muettern zu sehen pflegen, nur dass in diesem Falle die Vaeter sich nicht ueber jene Mutterschaft klar waren, wie diess wohl vorkommt, - sondern in der Unschuld ihrer Verwunderung von einer Familien-Aehnlichkeit aller Religion und Wissenschaft fabelten. In der That besteht zwischen der Religion und der wirklichen Wissenschaft nicht Verwandtschaft, noch Freundschaft, noch selbst Feindschaft: sie leben auf verschiedenen Sternen. Jede Philosophie, welche einen religioesen Kometenschweif in die Dunkelheit ihrer letzten Aussichten hinaus erglaenzen laesst, macht Alles an sich verdaechtig, was sie als Wissenschaft vortraegt: es ist diess Alles vermuthlich ebenfalls Religion, wenngleich unter dem Aufputz der Wissenschaft. - Uebrigens: wenn alle Voelker ueber gewisse religioese Dinge, zum Beispiel die Existenz eines Gottes, uebereinstimmten (was, beilaeufig gesagt, in Betreff dieses Punctes nicht der Fall ist), so wuerde diess doch eben nur ein Gegenargument gegen jene behaupteten Dinge, zum Beispiel die Existenz eines Gottes sein: der consensus gentium und ueberhaupt hominum kann billigerweise nur einer Narrheit gelten. Dagegen giebt es einen consensus omnium sapientium gar nicht, in Bezug auf kein einziges Ding, mit jener Ausnahme, von welcher der Goethe'sche Vers spricht: Alle die Weisesten aller der Zeiten laecheln und winken und stimmen mit ein: Thoericht, auf Bess'rung der Thoren zu harren! Kinder der Klugheit, o habet die Narren eben zum Narren auch, wie sich's gehoert! Ohne Vers und Reim gesprochen und auf unseren Fall angewendet: der consensus sapientium besteht darin, dass der consensus gentium einer Narrheit gilt. 111. Ursprung des religioesen Cultus'. - Versetzen wir uns in die Zeiten zurueck, in welchen das religioese Leben am kraeftigsten aufbluehte, so finden wir eine Grundueberzeugung vor, welche wir jetzt nicht mehr theilen und derentwegen wir ein fuer alle Mal die Thore zum religioesen Leben uns verschlossen sehen: sie betrifft die Natur und den Verkehr mit ihr. Man weiss in jenen Zeiten noch Nichts von Naturgesetzen; weder fuer die Erde noch fuer den Himmel giebt es ein Muessen; eine Jahreszeit, der Sonnenschein, der Regen kann kommen oder auch ausbleiben. Es fehlt ueberhaupt jeder Begriff der natuerlichen Causalitaet. Wenn man rudert, ist es nicht das Rudern, was das Schiff bewegt, sondern Rudern ist nur eine magische Ceremonie, durch welche man einen Daemon zwingt, das Schiff zu bewegen. Alle Erkrankungen, der Tod selbst ist Resultat magischer Einwirkungen. Es geht bei Krankwerden und Sterben nie natuerlich zu; die ganze Vorstellung vom "natuerlichen Hergang" fehlt, - sie daemmert erst bei den aelteren Griechen, das heisst in einer sehr spaeten Phase der Menschheit, in der Conception der ueber den Goettern thronenden Moira. Wenn Einer mit dem Bogen schiesst, so ist immer noch eine irrationelle Hand und Kraft dabei; versiegen ploetzlich die Quellen, so denkt man zuerst an unterirdische Daemonen und deren Tuecken; der Pfeil eines Gottes muss es sein, unter dessen unsichtbarer Wirkung ein Mensch auf einmal niedersinkt. In Indien pflegt (nach Lubbock) ein Tischler seinem Hammer, seinem Beil und den uebrigen Werkzeugen Opfer darzubringen; ein Brahmane behandelt den Stift, mit dem er schreibt, ein Soldat die Waffen, die er im Felde braucht, ein Maurer seine Kelle, ein Arbeiter seinen Pflug in gleicher Weise. Die ganze Natur ist in der Vorstellung religioeser Menschen eine Summe von Handlungen bewusster und wollender Wesen, ein ungeheurer Complex von Willkuerlichkeiten. Es ist in Bezug auf Alles, was ausser uns ist, kein Schluss gestattet, dass irgend Etwas so und so sein werde, so und so kommen muesse; das ungefaehr Sichere, Berechenbare sind wir: der Mensch ist die Regel, die Natur die Regellosigkeit, - dieser Satz enthaelt die Grundueberzeugung, welche rohe, religioes productive Urculturen beherrscht. Wir jetzigen Menschen empfinden gerade voellig umgekehrt: je reicher jetzt der Mensch sich innerlich fuehlt, je polyphoner sein Subject ist, um so gewaltiger wirkt auf ihn das Gleichmaass der Natur; wir Alle erkennen mit Goethe in der Natur das grosse Mittel der Beschwichtigung fuer die moderne Seele, wir hoeren den Pendelschlag der groessten Uhr mit einer Sehnsucht nach Ruhe, nach Heimisch- und Stillewerden an, als ob wir dieses Gleichmaass in uns hineintrinken und dadurch zum Genuss unser selbst erst kommen koennten. Ehemals war es umgekehrt: denken wir an rohe, fruehe Zustaende von Voelkern zurueck oder sehen wir die jetzigen Wilden in der Naehe, so finden wir sie auf das staerkste durch das Gesetz, das Herkommen bestimmt: das Individuum ist fast automatisch an dasselbe gebunden und bewegt sich mit der Gleichfoermigkeit eines Pendels. Ihm muss die Natur - die unbegriffene, schreckliche, geheimnissvolle Natur - als das Reich der Freiheit, der Willkuer, der hoeheren Macht erscheinen, ja gleichsam als eine uebermenschliche Stufe des Daseins, als Gott. Nun aber fuehlt jeder Einzelne solcher Zeiten und Zustaende, wie von jenen Willkuerlichkeiten der Natur seine Existenz, sein Glueck, das der Familie, des Staates, das Gelingen aller Unternehmungen abhaengen: einige Naturvorgaenge muessen zur rechten Zeit eintreten, andere zur rechten Zeit ausbleiben. Wie kann man einen Einfluss auf diese furchtbaren Unbekannten ausueben, wie kann man das Reich der Freiheit binden? so fragt er sich, so forscht er aengstlich: giebt es denn keine Mittel, jene Maechte ebenso durch ein Herkommen und Gesetz regelmaessig zu machen, wie du selber regelmaessig bist? - Das Nachdenken der magie- und wunderglaeubigen Menschen geht dahin, der Natur ein Gesetz auf zulegen -: und kurz gesagt, der religioese Cultus ist das Ergebniss dieses Nachdenkens. Das Problem, welches jene Menschen sich vorlegen, ist auf das engste verwandt mit diesem: wie kann der schwaechere Stamm dem staerkeren doch Gesetze dictiren, ihn bestimmen, seine Handlungen (im Verhalten zum schwaecheren) leiten? Man wird zuerst sich der harmlosesten Art eines Zwanges erinnern, jenes Zwanges, den man ausuebt, wenn man jemandes Neigung erworben hat. Durch Flehen und Gebete, durch Unterwerfung, durch die Verpflichtung zu regelmaessigen Abgaben und Geschenken, durch schmeichelhafte Verherrlichungen ist es also auch moeglich, auf die Maechte der Natur einen Zwang auszuueben, insofern man sie sich geneigt macht: Liebe bindet und wird gebunden. Dann kann man Vertraege schliessen, wobei man sich zu bestimmtem Verhalten gegenseitig verpflichtet, Pfaender stellt und Schwuere wechselt. Aber viel wichtiger ist eine Gattung gewaltsameren Zwanges, durch Magie und Zauberei. Wie der Mensch mit Huelfe des Zauberers einem staerkeren Feind doch zu schaden weiss und ihn vor sich in Angst erhaelt, wie der Liebeszauber in die Ferne wirkt, so glaubt der schwaechere Mensch auch die maechtigeren Geister der Natur bestimmen zu koennen. Das Hauptmittel aller Zauberei ist, dass man Etwas in Gewalt bekommt, das jemandem zu eigen ist, Haare, Naegel, etwas Speise von seinem Tisch, ja selbst sein Bild, seinen Namen. Mit solchem Apparate kann man dann zaubern; denn die Grundvoraussetzung lautet: zu allem Geistigen gehoert etwas Koerperliches; mit dessen Huelfe vermag man den Geist zu binden, zu Schaedigen, zu vernichten; das Koerperliche giebt die Handhabe ab, mit der man das Geistige fassen kann. So wie nun der Mensch den Menschen bestimmt, so bestimmt er auch irgend einen Naturgeist; denn dieser hat auch sein Koerperliches, an dem er zu fassen ist. Der Baum und, verglichen mit ihm, der Keim, aus dem er entstand, - dieses raethselhafte Nebeneinander scheint zu beweisen, dass in beiden Formen sich ein und der selbe Geist eingekoerpert habe, bald klein, bald gross. Ein Stein, der ploetzlich rollt, ist der Leib, in welchem ein Geist wirkt; liegt auf einsamer Haide ein Block, erscheint es unmoeglich, an Menschenkraft zu denken, die ihn hierher gebracht habe, so muss also der Stein sich selbst hinbewegt haben, das heisst: er muss einen Geist beherbergen. Alles, was einen Leib hat, ist der Zauberei zugaenglich, also auch die Naturgeister. Ist ein Gott geradezu an sein Bild gebunden, so kann man auch ganz directen Zwang (durch Verweigerung der Opfernahrung, Geisseln, in-Fesseln-Legen und Aehnliches) gegen ihn ausueben. Die geringen Leute in China umwinden, um die fehlende Gunst ihres Gottes zu ertrotzen, das Bild desselben, der sie in Stich gelassen hat, mit Stricken, reissen es nieder, schleifen es ueber die Strassen durch Lehm- und Duengerhaufen; "du Hund von einem Geiste, sagen sie, wir liessen dich in einem praechtigen Tempel wohnen, wir vergoldeten dich huebsch, wir fuetterten dich gut, wir brachten dir Opfer und doch bist du so undankbar." Aehnliche Gewaltmaassregeln gegen Heiligen- und Muttergottesbilder, wenn sie etwa bei Pestilenzen oder Regenmangel ihre Schuldigkeit nicht thun wollten, sind noch waehrend dieses Jahrhunderts in katholischen Laendern vorgekommen. - Durch alle diese zauberischen Beziehungen zur Natur sind unzaehlige Ceremonien in's Leben gerufen: und endlich, wenn der Wirrwarr derselben zu gross geworden ist, bemueht man sich, sie zu ordnen, zu systematisiren, so dass man den guenstigen Verlauf des gesammten Ganges der Natur, namentlich des grossen Jahreskreislaufs, sich durch einen entsprechenden Verlauf eines Proceduren-Systems zu verbuergen meint. Der Sinn des religioesen Cultus' ist, die Natur zu menschlichem Vortheil zu bestimmen und zu bannen, also ihr eine Gesetzlichkeit einzupraegen, die sie von vornherein nicht hat; waehrend in der jetzigen Zeit man die Gesetzlichkeit der Natur erkennen will, um sich in sie zu schicken. Kurz, der religioese Cultus ruht auf den Vorstellungen der Zauberei zwischen Mensch und Mensch; und der Zauberer ist aelter, als der Priester. Aber ebenso ruht er auf anderen und edleren Vorstellungen; er setzt das sympathische Verhaeltniss von Mensch zu Mensch, das Dasein von Wohlwollen, Dankbarkeit, Erhoerung Bittender, von Vertraegen zwischen Feinden, von Verleihung der Unterpfaender, von Anspruch auf Schutz des Eigenthums voraus. Der Mensch steht auch in sehr niederen Culturstufen nicht der Natur als ohnmaechtiger Sclave gegenueber, er ist nicht nothwendig der willenlose Knecht derselben: auf der griechischen Stufe der Religion, besonders im Verhalten zu den olympischen Goettern, ist sogar an ein Zusammenleben von zwei Kasten, einer vornehmeren, maechtigeren und einer weniger vornehmen zu denken; aber beide gehoeren, ihrer Herkunft nach, irgendwie zusammen und sind Einer Art, sie brauchen sich vor einander nicht zu schaemen. Das ist das Vornehme in der griechischen Religiositaet. 112. Beim Anblick gewisser antiker Opfergeraethschaften. - Wie manche Empfindungen uns verloren gehen, ist zum Beispiel an der Vereinigung des Possenhaften, selbst des Obscoenen, mit dem religioesen Gefuehl zu sehen: die Empfindung fuer die Moeglichkeit dieser Mischung schwindet, wir begreifen es nur noch historisch, dass sie existirte, bei den Demeter- und Dionysosfesten, bei den christlichen Osterspielen und Mysterien: aber auch wir kennen noch das Erhabene im Bunde mit dem Burlesken und dergleichen, das Ruehrende mit dem Laecherlichen verschmolzen: was vielleicht eine spaetere Zeit auch nicht mehr verstehen wird. 113. Christenthum als Alterthum. - Wenn wir eines Sonntag Morgens die alten Glocken brummen hoeren, da fragen wir uns: ist es nur moeglich! diess gilt einem vor zwei Jahrtausenden gekreuzigten Juden, welcher sagte, er sei Gottes Sohn. Der Beweis fuer eine solche Behauptung fehlt. - Sicherlich ist innerhalb unserer Zeiten die christliche Religion ein aus ferner Vorzeit hereinragendes Alterthum, und dass man jene Behauptung glaubt, - waehrend man sonst so streng in der Pruefung von Anspruechen ist -, ist vielleicht das aelteste Stueck dieses Erbes. Ein Gott, der mit einem sterblichen Weibe Kinder erzeugt; ein Weiser, der auffordert, nicht mehr zu arbeiten, nicht mehr Gericht zu halten, aber auf die Zeichen des bevorstehenden Weltunterganges zu achten; eine Gerechtigkeit, die den Unschuldigen als stellvertretendes Opfer annimmt; jemand, der seine juenger sein Blut trinken heisst; Gebete um Wundereingriffe; Suenden an einem Gott veruebt, durch einen Gott gebuesst; Furcht vor einem jenseits, zu welchem der Tod die Pforte ist; die Gestalt des Kreuzes als Symbol inmitten einer Zeit, welche die Bestimmung und die Schmach des Kreuzes nicht mehr kennt, - wie schauerlich weht uns diess Alles, wie aus dem Grabe uralter Vergangenheit, an! Sollte man glauben, dass so Etwas noch geglaubt wird? 114. Das Ungriechische im Christenthum. - Die Griechen sahen ueber sich die homerischen Goetter nicht als Herren und sich unter ihnen nicht als Knechte, wie die Juden. Sie sahen gleichsam nur das Spiegelbild der gelungensten Exemplare ihrer eigenen Kaste, also ein Ideal, keinen Gegensatz des eigenen Wesens. Man fuehlt sich mit einander verwandt, es besteht ein gegenseitiges Interesse, eine Art Symmachie. Der Mensch denkt vornehm von sich, wenn er sich solche Goetter giebt, und stellt sich in ein Verhaeltniss, wie das des niedrigeren Adels zum hoeheren ist; waehrend die italischen Voelker eine rechte Bauern-Religion haben, mit fortwaehrender Aengstlichkeit gegen boese und launische Machtinhaber und Quaelgeister. Wo die olympischen Goetter zuruecktraten, da war auch das griechische Leben duesterer und aengstlicher. - Das Christenthum dagegen zerdrueckte und zerbrach den Menschen vollstaendig und versenkte ihn wie in tiefen Schlamm: in das Gefuehl voelliger Verworfenheit liess es dann mit Einem Male den Glanz eines goettlichen Erbarmens hineinleuchten, so dass der Ueberraschte, durch Gnade Betaeubte, einen Schrei des Entzueckens ausstiess und fuer einen Augenblick den ganzen Himmel in sich zu tragen glaubte. Auf diesen krankhaften Excess des Gefuehls, auf die dazu noethige tiefe Kopf- und Herz-Corruption wirken alle psychologischen Erfindungen des Christenthums hin: es will vernichten, zerbrechen, betaeuben, berauschen, es will nur Eins nicht: das Maass, und desshalb ist es im tiefsten Verstande barbarisch, asiatisch, unvornehm, ungriechisch. 115. Mit Vortheil religioes sein. - Es giebt nuechterne und gewerbstuechtige Leute, denen die Religion wie ein Saum hoeheren Menschenthums angestickt ist: diese thun sehr wohl, religioes zu bleiben, es verschoenert sie. - Alle Menschen, welche sich nicht auf irgend ein Waffenhandwerk verstehen - Mund und Feder als Waffen eingerechnet - werden servil: fuer solche ist die christliche Religion sehr nuetzlich, denn die Servilitaet nimmt darin den Anschein einer christlichen Tugend an und wird erstaunlich verschoenert. - Leute, welchen ihr taegliches Leben zu leer und eintoenig vorkommt, werden leicht religioes: diess ist begreiflich und verzeihlich, nur haben sie kein Recht, Religiositaet von Denen zu fordern, denen das taegliche Leben nicht leer und eintoenig verfliesst. 116. Der Alltags-Christ. - Wenn das Christenthum mit seinen Saetzen vom raechenden Gotte, der allgemeinen Suendhaftigkeit, der Gnadenwahl und der Gefahr einer ewigen Verdammniss, Recht haette, so waere es ein Zeichen von Schwachsinn und Charakterlosigkeit, nicht Priester, Apostel oder Einsiedler zu werden und mit Furcht und Zittern einzig am eigenen Heile zu arbeiten; es waere unsinnig, den ewigen Vortheil gegen die zeitliche Bequemlichkeit so aus dem Auge zu lassen. Vorausgesetzt, dass ueberhaupt geglaubt wird, so ist der Alltags-Christ eine erbaermliche Figur, ein Mensch, der wirklich nicht bis drei zaehlen kann, und der uebrigens, gerade wegen seiner geistigen Unzurechnungsfaehigkeit, es nicht verdiente, so hart bestraft zu werden, als das Christenthum ihm verheisst. 117. Von der Klugheit des Christenthums. - Es ist ein Kunstgriff des Christenthums, die voellige Unwuerdigkeit, Suendhaftigkeit und Veraechtlichkeit des Menschen ueberhaupt so laut zu lehren, dass die Verachtung der Mitmenschen dabei nicht mehr moeglich ist. "Er mag suendigen, wie er wolle, er unterscheidet sich doch nicht wesentlich von mir: ich bin es, der in jedem Grade unwuerdig und veraechtlich ist," so sagt sich der Christ. Aber auch dieses Gefuehl hat seinen spitzigsten Stachel verloren, weil der Christ nicht an seine individuelle Veraechtlichkeit glaubt: er ist boese als Mensch ueberhaupt und beruhigt sich ein Wenig bei dem Satze: Wir Alle sind Einer Art. 118. Personenwechsel. - Sobald eine Religion herrscht, hat sie alle Die zu ihren Gegnern, welche ihre ersten juenger gewesen waeren. 119. Schicksal des Christenthums. - Das Christenthum entstand, um das Herz zu erleichtern; aber jetzt muesste es das Herz erst beschweren, um es nachher erleichtern zu koennen. Folglich wird es zu Grunde gehen. 120. Der Beweis der Lust. - Die angenehme Meinung wird als wahr angenommen: diess ist der Beweis der Lust (oder, wie die Kirche sagt, der Beweis der Kraft), auf welchen alle Religionen so stolz sind, waehrend sie sich dessen doch schaemen sollten. Wenn der Glaube nicht selig machte, so wuerde er nicht geglaubt werden: wie wenig wird er also werth sein! 121. Gefaehrliches Spiel. - Wer jetzt der religioesen Empfindung wieder in sich Raum giebt, der muss sie dann auch wachsen lassen, er kann nicht anders. Da veraendert sich allmaehlich sein Wesen, es bevorzugt das dem religioesen Element Anhaengende, Benachbarte, der ganze Umkreis des Urtheilens und Empfindens wird umwoelkt, mit religioesen Schatten ueberflogen. Die Empfindung kann nicht still stehen; man nehme sich also in Acht. 122. Die blinden Schueler. - So lange Einer sehr gut die Staerke und, Schwaeche seiner Lehre, seiner Kunstart, seiner Religion kennt, ist deren Kraft noch gering. Der Schueler und Apostel, welcher fuer die Schwaeche der Lehre, der Religion und so weiter, kein Auge hat, geblendet durch das Ansehen des Meisters und durch seine Pietaet gegen ihn, hat desshalb gewoehnlich mehr Macht, als der Meister. Ohne die blinden Schueler ist noch nie der Einfluss eines Mannes und seines Werkes gross geworden. Einer Erkenntniss zum Siege verhelfen heisst oft nur: sie so mit der Dummheit verschwistern, dass das Schwergewicht der letzteren auch den Sieg fuer die erstere erzwingt. 123. Abbruch der Kirchen. - Es ist nicht genug an Religion in der Welt, um die Religionen auch nur zu vernichten. 124. Suendlosigkeit des Menschen. - Hat man begriffen, "wie die Suende in die Welt gekommen" ist, naemlich durch Irrthuemer der Vernunft, vermoege deren die Menschen unter einander, ja der einzelne Mensch sich selbst fuer viel schwaerzer und boeser nimmt, als es thatsaechlich der Fall ist, so wird die ganze Empfindung sehr erleichtert, und Menschen und Welt erscheinen mitunter in einer Glorie von Harmlosigkeit, dass es Einem von Grund aus wohl dabei wird. Der Mensch ist inmitten der Natur immer das Kind an sich. Diess Kind traeumt wohl einmal einen schweren beaengstigenden Traum, wenn es aber die Augen aufschlaegt, so sieht es sich immer wieder im Paradiese. 125. Irreligiositaet der Kuenstler. - Homer ist unter seinen Goettern so zu Hause: und hat als Dichter ein solches Behagen an ihnen, dass er jedenfalls tief unreligioes gewesen sein muss; mit dem, was der Volksglaube ihm entgegenbrachte - einen duerftigen, rohen, zum Theil schauerlichen Aberglauben - verkehrte er so frei, wie der Bildhauer mit seinem Thon, also mit der selben Unbefangenheit, welche Aeschylus und Aristophanes besassen und durch welche sich in neuerer Zeit die grossen Kuenstler der Renaissance, sowie Shakespeare und Goethe auszeichneten. 126. Kunst und Kraft der falschen Interpretation. - Alle die Visionen, Schrecken, Ermattungen, Entzueckungen des Heiligen sind bekannte Krankheits-Zustaende, welche von ihm, auf Grund eingewurzelter religioeser und psychologischer Irrthuemer, nur ganz anders, naemlich nicht als Krankheiten, gedeutet werden. - So ist vielleicht auch das Daemonion des Sokrates ein Ohrenleiden, das er sich, gemaess seiner herrschenden moralischen Denkungsart, nur anders, als es jetzt geschehen wuerde, auslegt. Nicht anders steht es mit dem Wahnsinn und Wahnreden der Propheten und Orakelpriester; es ist immer der Grad von Wissen, Phantasie, Bestrebung, Moralitaet in Kopf und Herz der Interpreten, welcher daraus so viel gemacht hat. Zu den groessten Wirkungen der Menschen, welche man Genie's und Heilige nennt, gehoert es, dass sie sich Interpreten erzwingen, welche sie zum Heile der Menschheit missverstehen. 127. Verehrung des Wahnsinns. - Weil man bemerkte, dass eine Erregung haeufig den Kopf heller machte und glueckliche Einfaelle hervorrief, so meinte man, durch die hoechsten Erregungen werde man der gluecklichsten Einfaelle und Eingebungen theilhaftig: und so verehrte man den Wahnsinnigen als den Weisen und Orakelgebenden. Hier liegt ein falscher Schluss zu Grunde. 128. Verheissungen der Wissenschaft. - Die moderne Wissenschaft hat als Ziel: so wenig Schmerz wie moeglich, so lange leben wie moeglich, - also eine Art von ewiger Seligkeit, freilich eine sehr bescheidene im Vergleich mit den Verheissungen der Religionen. 129. Verbotene Freigebigkeit. - Es ist nicht genug Liebe und Guete in der Welt, um noch davon an eingebildete Wesen wegschenken zu duerfen. 130. Fortleben des religioesen Cultus' im Gemueth. - Die katholische Kirche, und vor ihr aller antike Cultus, beherrschte das ganze Bereich von Mitteln, durch welche der Mensch in ungewoehnliche Stimmungen versetzt wird und der kalten Berechnung des Vortheils oder dem reinen Vernunft-Denken entrissen wird. Eine durch tiefe Toene erzitternde Kirche, dumpfe, regelmaessige, zurueckhaltende Anrufe einer priesterlichen Schaar, welche ihre Spannung unwillkuerlich auf die Gemeinde uebertraegt und sie fast angstvoll lauschen laesst, wie als wenn eben ein Wunder sich vorbereitete, der Anhauch der Architektur, welche als Wohnung einer Gottheit sich in's Unbestimmte ausreckt und in allen dunklen Raeumen das Sich-Regen derselben fuerchten laesst, - wer wollte solche Vorgaenge den Menschen zurueckbringen, wenn die Voraussetzungen dazu nicht mehr geglaubt werden? Aber die Resultate von dem Allen sind trotzdem nicht verloren: die innere Welt der erhabenen, geruehrten, ahnungsvollen, tiefzerknirschten, hoffnungsseligen Stimmungen ist den Menschen vornehmlich durch den Cultus eingeboren worden; was jetzt davon in der Seele existirt, wurde damals, als er keimte, wuchs und bluehte, gross gezuechtet. 131. Religioese Nachwehen. - Glaubt man sich noch so sehr der Religion entwoehnt zu haben, so ist es doch nicht in dem Grade geschehen, dass man nicht Freude haette, religioesen Empfindungen und Stimmungen ohne begrifflichen Inhalt zu begegnen, zum Beispiel in der Musik; und wenn eine Philosophie uns die Berechtigung von metaphysischen Hoffnungen, von dem dorther zu erlangenden tiefen Frieden der Seele aufzeigt und zum Beispiel von "dem ganzen sichern Evangelium im Blick der Madonnen bei Rafael" spricht, so kommen wir solchen Ausspruechen und Darlegungen mit besonders herzlicher Stimmung entgegen: der Philosoph hat es hier leichter, zu beweisen, er entspricht mit dem, was er geben will, einem Herzen, welches gern nehmen will. Daran bemerkt man, wie die weniger bedachtsamen Freigeister eigentlich nur an den Dogmen Anstoss nehmen, aber recht wohl den Zauber der religioesen Empfindung kennen; es thut ihnen wehe, letztere fahren zu lassen, um der ersteren willen. - Die wissenschaftliche Philosophie muss sehr auf der Hut sein, nicht auf Grund jenes Beduerfnisses - eines gewordenen und folglich auch vergaenglichen Beduerfnisses - Irrthuemer einzuschmuggeln: selbst Logiker sprechen von "Ahnungen" der Wahrheit in Moral und Kunst (zum Beispiel von der Ahnung, "dass das Wesen der Dinge Eins ist"): was ihnen doch verboten sein sollte. Zwischen den sorgsam erschlossenen Wahrheiten und solchen" geahnten" Dingen bleibt unueberbrueckbar die Kluft, dass jene dem Intellect, diese dem Beduerfniss verdankt werden. Der Hunger beweist nicht, dass es zu seiner Saettigung eine Speise giebt, aber er wuenscht die Speise. "Ahnen" bedeutet nicht das Dasein einer Sache in irgend einem Grade erkennen, sondern dasselbe fuer moeglich halten, insofern man sie wuenscht oder fuerchtet; die "Ahnung" traegt keinen Schritt weit in's Land der Gewissheit. - Man glaubt unwillkuerlich, die religioes gefaerbten Abschnitte einer Philosophie seien besser bewiesen, als die anderen; aber es ist im Grunde umgekehrt, man hat nur den inneren Wunsch, dass es so sein moege, - also dass das Beseligende auch das Wahre sei. Dieser Wunsch verleitet uns, schlechte Gruende als gute einzukaufen. 132. Von dem christlichen Erloesungsbeduerfniss. - Bei sorgsamer Ueberlegung muss es moeglich sein, dem Vorgange in der Seele eines Christen, welchen man Erloesungsbeduerfniss nennt, eine Erklaerung abzugewinnen, die frei von Mythologie ist: also eine rein psychologische. Bis jetzt sind freilich die psychologischen Erklaerungen religioeser Zustaende und Vorgaenge in einigem Verrufe gewesen, insoweit eine sich frei nennende Theologie auf diesem Gebiete ihr unerspriessliches Wesen trieb: denn bei ihr war es von vornherein, sowie es der Geist ihres Stifters, Schleiermacher's, vermuthen laesst, auf die Erhaltung der christlichen Religion und das Fortbestehen der christlichen Theologen abgesehen; als welche in der psychologischen Analysis der religioesen "Thatsachen" einen neuen Ankergrund und vor Allem eine neue Beschaeftigung gewinnen sollten. Unbeirrt von solchen Vorgaengern, wagen wir folgende Auslegung des bezeichneten Phaenomens. Der Mensch ist sich gewisser Handlungen bewusst, welche in der gebraeuchlichen Rangordnung der Handlungen tief stehen, ja er entdeckt in sich einen Hang zu dergleichen Handlungen, der ihm fast so unveraenderlich wie sein ganzes Wesen erscheint. Wie gerne versuchte er sich in jener anderen Gattung von Handlungen, welche in der allgemeinen Schaetzung als die obersten und hoechsten anerkannt sind, wie gerne fuehlte er sich voll des guten Bewusstseins, welches einer selbstlosen Denkweise folgen soll! Leider aber bleibt es eben bei diesem Wunsche: die Unzufriedenheit darueber, demselben nicht genuegen zu koennen, kommt zu allen uebrigen Arten von Unzufriedenheit hinzu, welche sein Lebensloos ueberhaupt oder die Folgen jener boese genannten Handlungen in ihm erregt haben; so dass eine tiefe Verstimmung entsteht, mit dem Ausblicke nach einem Arzte, der diese, und alle ihre Ursachen, zu heben vermoechte. - Dieser Zustand wuerde nicht so bitter empfunden werden, wenn der Mensch sich nur mit anderen Menschen unbefangen vergliche: dann naemlich haette er keinen Grund, mit sich in einem besonderen Maasse unzufrieden zu sein, er truege eben nur an der allgemeinen Last der menschlichen Unbefriedigung und Unvollkommenheit. Aber er vergleicht sich mit einem Wesen, welches allein jener Handlungen faehig ist, die unegoistisch genannt werden, und im fortwaehrenden Bewusstsein einer selbstlosen Denkweise lebt, mit Gott; dadurch, dass er in diesen hellen Spiegel schaut, erscheint ihm sein Wesen so truebe, so ungewoehnlich verzerrt. Sodann aengstigt ihn der Gedanke an das selbe Wesen, insofern dieses als strafende Gerechtigkeit vor seiner Phantasie schwebt: in allen moeglichen kleinen und grossen Erlebnissen glaubt er seinen Zorn, seine Drohung zu erkennen, ja die Geisselschlaege seines Richter- und Henkerthums schon vorzuempfinden. Wer hilft ihm in dieser Gefahr, welche durch den Hinblick auf eine unermessliche Zeitdauer der Strafe an Graesslichkeit alle anderen Schrecknisse der Vorstellung ueberbietet? 133. Bevor wir diesen Zustand in seinen weiteren Folgen uns vorlegen, wollen wir es doch uns eingestehen, dass der Mensch in diesen Zustand nicht durch seine "Schuld" und "Suende", sondern durch eine Reihe von Irrthuemern der Vernunft gerathen ist, dass es der Fehler des Spiegels war, wenn ihm sein Wesen in jenem Grade dunkel und hassenswerth vorkam, und dass jener Spiegel sein Werk, das sehr unvollkommene Werk der menschlichen Phantasie und Urtheilskraft war. Erstens ist ein Wesen, welches einzig rein unegoistischer Handlungen faehig waere, noch fabelhafter als der Vogel Phoenix; es ist deutlich nicht einmal vorzustellen, schon desshalb, weil der ganze Begriff "unegoistische Handlung" bei strenger Untersuchung in die Luft verstiebt. Nie hat ein Mensch Etwas gethan, das allein fuer Andere und ohne jeden persoenlichen Beweggrund gethan waere; ja wie sollte er Etwas thun koennen, das ohne Bezug zu ihm waere, also ohne innere Noethigung (welche ihren Grund doch in einem persoenlichen Beduerfniss haben muesste)? Wie vermoechte das ego ohne ego zu handeln? - Ein Gott, der dagegen ganz Liebe ist, wie gelegentlich angenommen wird, waere keiner einzigen unegoistischen Handlung faehig: wobei man sich an einen Gedanken Lichtenberg's, der freilich einer niedrigeren Sphaere entnommen ist, erinnern sollte: "Wir koennen unmoeglich fuer Andere fuehlen, wie man zu sagen pflegt; wir fuehlen nur fuer uns. Der Satz klingt hart, er ist es aber nicht, wenn er nur recht verstanden wird. Man liebt weder Vater, noch Mutter, noch Frau, noch Kind, sondern die angenehmen Empfindungen, die sie uns machen", oder wie La Rochefoucauld sagt: "si on croit aimer sa maitresse pour l'amour d'elle, on est bien trompe'." Wesshalb Handlungen der Liebe hoeher geschaetzt werden, als andere, naemlich nicht ihres Wesens, sondern ihrer Nuetzlichkeit halber, darueber vergleiche man die schon vorher erwaehnten Untersuchungen "ueber den Ursprung der moralischen Empfindungen". Sollte aber ein Mensch wuenschen, ganz wie jener Gott, Liebe zu sein, Alles fuer Andere, Nichts fuer sich zu thun, zu wollen, so ist letzteres schon desshalb unmoeglich, weil er sehr viel fuer sich thun muss, um ueberhaupt Anderen Etwas zu Liebe thun zu koennen. Sodann setzt es voraus, dass der Andere Egoist genug ist, um jene Opfer, jenes Leben fuer ihn, immer und immer wieder anzunehmen: so dass die Menschen der Liebe und Aufopferung ein Interesse an dem Fortbestehen der liebelosen und aufopferungsunfaehigen Egoisten haben, und die hoechste Moralitaet, um bestehen zu koennen, foermlich die Existenz der Unmoralitaet erzwingen muesste (wodurch sie sich freilich selber aufheben wuerde). - Weiter. die Vorstellung eines Gottes beunruhigt und demuethigt so lange, als sie geglaubt wird, aber wie sie entstanden ist, darueber kann bei dem jetzigen Stande der voelkervergleichenden Wissenschaft kein Zweifel mehr sein; und mit der Einsicht in jene Entstehung faellt jener Glaube dahin. Es geht dem Christen, welcher sein Wesen mit dem Gotte vergleicht, so, wie dem Don Quixote, der seine eigne Tapferkeit unterschaetzt, weil er die Wunderthaten der Helden aus den Ritterromanen im Kopfe hat; der Maassstab, mit welchem in beiden Faellen gemessen wird, gehoert in's Reich der Fabel. Faellt aber die Vorstellung des Gottes weg, so auch das Gefuehl der "Suende" als eines Vergehens gegen goettliche Vorschriften, als eines Fleckens an einem gottgeweihten Geschoepfe. Dann bleibt wahrscheinlich noch jener Unmuth uebrig, welcher mit der Furcht vor Strafen der weltlichen Gerechtigkeit, oder vor der Missachtung der Menschen, sehr verwachsen und verwandt ist; der Unmuth der Gewissensbisse, der schaerfste Stachel im Gefuehl der Schuld, ist immerhin abgebrochen, wenn man einsieht, dass man sich durch seine Handlungen wohl gegen menschliches Herkommen, menschliche Satzungen und Ordnungen vergangen habe, aber damit noch nicht das "ewige Heil der Seele" und ihre Beziehung zur Gottheit gefaehrdet habe. Gelingt es dem Menschen zuletzt noch, die philosophische Ueberzeugung von der unbedingten Nothwendigkeit aller Handlungen und ihrer voelligen Unverantwortlichkeit zu gewinnen und in Fleisch und Blut aufzunehmen, so verschwindet auch jener Rest von Gewissensbissen. 134. Ist nun der Christ, wie gesagt, durch einige Irrthuemer in das Gefuehl der Selbstverachtung gerathen, also durch eine falsche unwissenschaftliche Auslegung seiner Handlungen und Empfindungen, so muss er mit hoechstem Erstaunen bemerken, wie jener Zustand der Verachtung, der Gewissensbisse, der Unlust ueberhaupt, nicht anhaelt, wie gelegentlich Stunden kommen, wo ihm dies Alles von der Seele weggeweht ist und er sich wieder frei und muthig fuehlt. In Wahrheit hat die Lust an sich selber das Wohlbehagen an der eigenen Kraft, im Bunde mit der nothwendigen Abschwaechung jeder tiefen Erregung, den Sieg davongetragen; der Mensch liebt sich wieder, er fuehlt es, - aber gerade diese Liebe, diese neue Selbstschaetzung, kommt ihm unglaublich vor, er kann in ihr allein das gaenzlich unverdiente Herabstroemen eines Gnadenglanzes von Oben sehen. Wenn er frueher in allen Begebnissen Warnungen, Drohungen, Strafen und jede Art von Anzeichen des goettlichen Zornes zu erblicken glaubte, so deutet er jetzt in seine Erfahrungen die goettliche Guete hinein: diess Ereigniss kommt ihm liebevoll, jenes wie ein huelfreicher Fingerzeig, ein drittes und namentlich seine ganze freudige Stimmung als Beweis vor, dass Gott gnaedig sei. Wie er frueher im Zustande des Unmuthes namentlich seine Handlungen falsch ausdeutete, so jetzt namentlich seine Erlebnisse; die getroestete Stimmung fasst er als Wirkung einer ausser ihm waltenden Macht auf, die Liebe, mit der er sich im Grunde selbst liebt, erscheint als goettliche Liebe; Das, was er Gnade und Vorspiel der Erloesung nennt, ist in Wahrheit Selbstbegnadigung, Selbsterloesung. 135. Also: eine bestimmte falsche Psychologie, eine gewisse Art von Phantastik in der Ausdeutung der Motive und Erlebnisse ist die nothwendige Voraussetzung davon, dass Einer zum Christen werde und das Beduerfniss der Erloesung empfinde. Mit der Einsicht in diese Verirrung der Vernunft und Phantasie hoert man auf, Christ zu sein. 136. Von der christlichen Askese und Heiligkeit. - So sehr einzelne Denker sich bemueht haben, in den seltenen Erscheinungen der Moralitaet, welche man Askese und Heiligkeit zu nennen pflegt, ein Wunderding hinzustellen, dem die Leuchte einer vernuenftigen Erklaerung in's Gesicht zu halten, beinahe schon Frevel und Entweihung sei: so stark ist hinwiederum die Verfuehrung zu diesem Frevel. Ein maechtiger Antrieb der Natur hat zu allen Zeiten dazu gefuehrt, gegen jene Erscheinungen ueberhaupt zu protestiren; die Wissenschaft, insofern sie, wie frueher gesagt, eine Nachahmung der Natur ist, erlaubt sich wenigstens gegen die behauptete Unerklaerbarkeit, ja Unnahbarkeit derselben Einsprache zu erheben. Freilich gelang es ihr bis jetzt nicht: jene Erscheinungen sind immer noch unerklaert, zum grossen Vergnuegen der erwaehnten Verehrer des moralisch-Wunderbaren. Denn, allgemein gesprochen: das Unerklaerte soll durchaus unerklaerlich, das Unerklaerliche durchaus unnatuerlich, uebernatuerlich, wunderhaft sein, - so lautet die Forderung in den Seelen aller Religioesen und Metaphysiker (auch der Kuenstler, falls sie zugleich Denker sind); waehrend der wissenschaftliche Mensch in dieser Forderung das "boese Princip" sieht. - Die allgemeine erste Wahrscheinlichkeit, auf welche man bei Betrachtung der Askese und Heiligkeit zuerst geraeth, ist diese, dass ihre Natur eine complicirte ist: denn fast ueberall, innerhalb der physischen Welt sowohl wie in der moralischen, hat man mit Glueck das angeblich Wunderbare auf das Complicirte und mehrfach Bedingte zurueckgefuehrt. Wagen wir es also, einzelne Antriebe in der Seele der Heiligen und Asketen zunaechst zu isoliren und zum Schluss sie in einander uns verwachsen zu denken. 137. Es giebt einen Trotz gegen sich selbst, zu dessen sublimirtesten Aeusserungen manche Formen der Askese gehoeren. Gewisse Menschen haben naemlich ein so hohes Beduerfniss, ihre Gewalt und Herrschsucht auszuueben, dass sie, in Ermangelung anderer Objecte, oder, weil es ihnen sonst immer misslungen ist, endlich darauf verfallen, gewisse Theile ihres eigenen Wesens, gleichsam Ausschnitte oder Stufen ihrer selbst, zu tyrannisiren. So bekennt sich mancher Denker zu Ansichten, welche ersichtlich nicht dazu dienen, seinen Ruf zu vermehren oder zu verbessern; mancher beschwoert foermlich die Missachtung Anderer auf sich herab, waehrend er es leicht haette, durch Stillschweigen ein geachteter Mann zu bleiben; andere widerrufen fruehere Meinungen und scheuen es nicht, fuerderhin inconsequent genannt zu werden: im Gegentheil, sie bemuehen sich darum und benehmen sich wie uebermuethige Reiter, welche das Pferd, erst wenn es wild geworden, mit Schweiss bedeckt, scheu gemacht ist, am liebsten moegen. So steigt der Mensch auf gefaehrlichen Wegen in die hoechsten Gebirge, um ueber seine Aengstlichkeit und seine schlotternden Kniee Hohn zu lachen; so bekennt sich der Philosoph zu Ansichten der Askese, Demuth und Heiligkeit, in deren Glanze sein eigenes Bild auf das aergste verhaesslicht wird. Dieses Zerbrechen seiner selbst, dieser Spott ueber die eigene Natur, dieses spernere se sperni, aus dem die Religionen so viel gemacht haben, ist eigentlich ein sehr hoher Grad der Eitelkeit. Die ganze Moral der Bergpredigt gehoert hierher: der Mensch hat eine wahre Wollust darin, sich durch uebertriebene Ansprueche zu vergewaltigen und dieses tyrannisch fordernde Etwas in seiner Seele nachher zu vergoettern. In jeder asketischen Moral betet der Mensch einen Theil von sich als Gott an und hat dazu noethig, den uebrigen Theil zu diabolisiren. - 138. Der Mensch ist nicht zu allen Stunden gleich moralisch, diess ist bekannt: beurtheilt man seine Moralitaet nach der Faehigkeit zu grosser aufopfernder Entschliessung und Selbstverleugnung (welche, dauernd und zur Gewohnheit geworden, Heiligkeit ist), so ist er im Affect am moralischsten; die hoehere Erregung reicht ihm ganz neue Motive dar, welcher er, nuechtern und kalt wie sonst, vielleicht nicht einmal faehig zu sein glaubte. Wie kommt diess? Wahrscheinlich aus der Nachbarschaft alles Grossen und hoch Erregenden; ist der Mensch einmal in eine ausserordentliche Spannung gebracht, so kann er ebensowohl zu einer furchtbaren Rache, als zu einer furchtbaren Brechung seines Rachebeduerfnisses sich entschliessen. Er will, unter dem Einflusse der gewaltigen Emotion, jedenfalls das Grosse, Gewaltige, Ungeheure, und wenn er zufaellig merkt, dass ihm die Aufopferung seiner selbst ebenso oder noch mehr genugthut, als die Opferung des Anderen, so waehlt er sie. Eigentlich liegt ihm also nur an der Entladung seiner Emotion; da fasst er wohl, um seine Spannung zu erleichtern, die Speere der Feinde zusammen und begraebt sie in seine Brust. Dass in der Selbstverleugnung, und nicht nur in der Rache, etwas Grosses liege, musste der Menschheit erst in langer Gewoehnung anerzogen werden; eine Gottheit, welche sich selbst opfert, war das staerkste und wirkungsvollste Symbol dieser Art von Groesse. Als die Besiegung des schwerst zu besiegenden Feindes, die ploetzliche Bemeisterung eines Affectes, - als Diess erscheint diese Verleugnung; und insofern gilt sie als der Gipfel des Moralischen. In Wahrheit handelt es sich bei ihr um die Vertauschung der einen Vorstellung mit der andern, waehrend das Gemueth seine gleiche Hoehe, seinen gleichen Fluthstand, behaelt. Ernuechterte, vom Affect ausruhende Menschen verstehen die Moralitaet jener Augenblicke nicht mehr, aber die Bewunderung Aller, die jene miterlebten, haelt sie aufrecht; der Stolz ist ihr Trost, wenn der Affect und das Verstaendniss ihrer That weicht. Also: im Grunde sind auch jene Handlungen der Selbstverleugnung nicht moralisch, insofern sie nicht streng in Hinsicht auf Andere gethan sind; vielmehr giebt der Andere dem hochgespannten Gemuethe nur eine Gelegenheit, sich zu erleichtern, durch jene Verleugnung. 139. In mancher Hinsicht sucht sich auch der Asket das Leben leicht zu machen, und zwar gewoehnlich durch die vollkommene Unterordnung unter einen fremden Willen oder unter ein umfaengliches Gesetz und Ritual; etwa in der Art, wie der Brahmane durchaus Nichts seiner eigenen Bestimmung ueberlaesst und sich in jeder Minute durch eine heilige Vorschrift bestimmt. Diese Unterordnung ist ein maechtiges Mittel, um ueber sich Herr zu werden; man ist beschaeftigt, also ohne Langeweile, und hat doch keine Anregung des Eigenwillens und der Leidenschaft dabei; nach vollbrachter That fehlt das Gefuehl der Verantwortung und damit die Qual der Reue. Man hat ein fuer alle Mal auf eigenen Willen verzichtet, und diess ist leichter, als nur gelegentlich einmal zu verzichten; sowie es auch leichter ist, einer Begierde ganz zu entsagen, als in ihr Maass zu halten. Wenn wir uns der jetzigen Stellung des Mannes zum Staate erinnern, so finden wir auch da, dass der unbedingte Gehorsam bequemer ist, als der bedingte. Der Heilige also erleichtert sich durch jenes voellige Aufgeben der Persoenlichkeit sein Leben, und man taeuscht sich, wenn man in jenem Phaenomen das hoechste Heldenstueck der Moralitaet bewundert. Es ist in jedem Falle schwerer, seine Persoenlichkeit ohne Schwanken und Unklarheit durchzusetzen, als sich von ihr in der erwaehnten Weise zu loesen; ueberdiess verlangt es viel mehr Geist und Nachdenken. 140. Nachdem ich, in vielen der schwerer erklaerbaren Handlungen, Aeusserungen jener Lust an der Emotion an sich gefunden habe, moechte ich auch in Betreff der Selbstverachtung, welche zu den Merkmalen der Heiligkeit gehoert, und ebenso in den Handlungen der Selbstquaelerei (durch Hunger und Geisselschlaege, Verrenkungen der Glieder, Erheuchelung des Wahnsinns) ein Mittel erkennen, durch welches jene Naturen gegen die allgemeine Ermuedung ihres Lebenswillens (ihrer Nerven) ankaempfen: sie bedienen sich der schmerzhaftesten Reizmittel und Grausamkeiten, um fuer Zeiten wenigstens aus jener Dumpfheit und Langenweile aufzutauchen, in welche ihre grosse geistige Indolenz und jene geschilderte Unterordnung unter einen fremden Willen sie so haeufig verfallen laesst. 141. Das gewoehnlichste Mittel, welches der Asket und Heilige anwendet, um sich das Leben doch noch ertraeglich und unterhaltend zu machen, besteht in gelegentlichem Kriegfuehren und in dem Wechsel von Sieg und Niederlage. Dazu braucht er einen Gegner und findet ihn in dem sogenannten "inneren Feinde". Namentlich nuetzt er seinen Hang zur Eitelkeit, Ehr- und Herrschsucht, sodann seine sinnlichen Begierden aus, um sein Leben wie eine fortgesetzte Schlacht und sich wie ein Schlachtfeld ansehen zu duerfen, auf dem gute und boese Geister mit wechselndem Erfolge ringen. Bekanntlich wird die sinnliche Phantasie durch die Regelmaessigkeit des geschlechtlichen Verkehrs gemaessigt, ja fast unterdrueckt, umgekehrt, durch Enthaltsamkeit oder Unordnung im Verkehre entfesselt und wuest. Die Phantasie vieler christlichen Heiligen war in ungewoehnlichem Maasse schmutzig; vermoege jener Theorie, dass diese Begierden wirkliche Daemonen seien, die in ihnen wuetheten, fuehlten sie sich nicht allzusehr verantwortlich dabei; diesem Gefuehle verdanken wir die so belehrende Aufrichtigkeit ihrer Selbstzeugnisse. Es war in ihrem Interesse, dass dieser Kampf in irgend einem Grade immer unterhalten wurde, weil durch ihn, wie gesagt, ihr oedes Leben unterhalten wurde. Damit der Kampf aber wichtig genug erscheine, um andauernde Theilnahme und Bewunderung bei den Nicht-Heiligen zu erregen, musste die Sinnlichkeit immer mehr verketzert und gebrandmarkt werden, ja die Gefahr ewiger Verdammnis wurde so eng an diese Dinge geknuepft, dass hoechstwahrscheinlich durch ganze Zeitalter hindurch die Christen mit boesem Gewissen Kinder zeugten; wodurch gewiss der Menschheit ein grosser Schade angethan worden ist. Und doch steht hier die Wahrheit ganz auf dem Kopfe: was fuer die Wahrheit besonders unschicklich ist. Zwar hatte das Christenthum gesagt: jeder Mensch sei in Suenden empfangen und geboren, und im unausstehlichen Superlativ-Christenthume des Calderon hatte sich dieser Gedanke noch einmal zusammengeknotet und verschlungen, so dass er die verdrehteste Paradoxie wagte, die es giebt, in dem bekannten Verse: die groesste Schuld des Menschen ist, dass er geboren ward. In allen pessimistischen Religionen wird der Zeugungsact als schlecht an sich empfunden, aber keineswegs ist diese Empfindung eine allgemein-menschliche; selbst nicht einmal das Urtheil aller Pessimisten ist sich hierin gleich. Empedokles zum Beispiel weiss gar Nichts vom Beschaemenden, Teuflischen, Suendhaften in allen erotischen Dingen; er sieht vielmehr auf der grossen Wiese des Unheils eine einzige heil- und hoffnungsvolle Erscheinung, die Aphrodite; sie gilt ihm als Buergschaft, dass der Streit nicht ewig herrschen, sondern einem milderen Daemon einmal das Scepter ueberreichen werde. Die christlichen Pessimisten der Praxis hatten, wie gesagt, ein Interesse daran, dass eine andere Meinung in der Herrschaft blieb; sie brauchten fuer die Einsamkeit und die geistige Wuestenei ihres Lebens einen immer lebendigen Feind: und einen allgemein anerkannten Feind, durch dessen Bekaempfung und Ueberwaeltigung sie dem Nicht-Heiligen sich immer von Neuem wieder als halb unbegreifliche, uebernatuerliche Wesen darstellten. Wenn dieser Feind endlich, in Folge ihrer Lebensweise und ihrer zerstoerten Gesundheit, die Flucht fuer immer ergriff, so verstanden sie es sofort, ihr Inneres mit neuen Daemonen bevoelkert zu sehen. Das Auf- und Niederschwanken der Wagschalen Hochmuth und Demuth unterhielt ihre gruebelnden Koepfe so gut, wie der Wechsel von Begierde und Seelenruhe. Damals diente die Psychologie dazu, alles Menschliche nicht nur zu verdaechtigen, sondern zu laestern, zu geisseln, zu kreuzigen; man wollte sich moeglichst schlecht und boese finden, man suchte die Angst um das Heil der Seele, die Verzweiflung an der eignen Kraft. Alles Natuerliche, an welches der Mensch die Vorstellung des Schlechten, Suendhaften anhaengt (wie er es zum Beispiel noch jetzt in Betreff des Erotischen gewoehnt ist), belaestigt, verduestert die Phantasie, giebt einen scheuen Blick, laesst den Menschen mit sich selber hadern und macht ihn unsicher und vertrauenslos; selbst seine Traeume bekommen einen Beigeschmack des gequaelten Gewissens. Und doch ist dieses Leiden am Natuerlichen in der Realitaet der Dinge voellig unbegruendet: es ist nur die Folge von Meinungen ueber die Dinge. Man erkennt leicht, wie die Menschen dadurch schlechter werden, dass sie das unvermeidlich-Natuerliche als schlecht bezeichnen und spaeter immer als so beschaffen empfinden. Es ist der Kunstgriff der Religion und jener Metaphysiker, welche den Menschen als boese und suendhaft von Natur wollen, ihm die Natur zu verdaechtigen und so ihn selber schlecht zu machen: denn so lernt er sich als schlecht empfinden, da er das Kleid der Natur nicht ausziehen kann. Allmaehlich fuehlt er sich, bei einem langen Leben im Natuerlichen, von einer solchen Last von Suenden bedrueckt, dass uebernatuerliche Maechte noethig werden, um diese Last heben zu koennen; und damit ist das schon besprochene Erloesungsbeduerfniss auf den Schauplatz getreten, welches gar keiner wirklichen, sondern nur einer eingebildeten Suendhaftigkeit entspricht. Man gehe die einzelnen moralischen Aufstellungen der Urkunden des Christenthums durch und man wird ueberall finden, dass die Anforderungen ueberspannt sind, damit der Mensch ihnen nicht genuegen koenne; die Absicht ist nicht, dass er moralischer werde, sondern dass er sich moeglichst suendhaft fuehle. Wenn dem Menschen diess Gefuehl nicht angenehm gewesen waere, - wozu haette er eine solche Vorstellung erzeugt und sich so lange an sie gehaengt? Wie in der antiken Welt eine unermessliche Kraft von Geist und Erfindungsgabe verwendet worden ist, um die Freude am Leben durch festliche Culte zu mehren: so ist in der Zeit des Christenthums ebenfalls unermesslich viel Geist einem andern Streben geopfert worden: der Mensch sollte auf alle Weise sich suendhaft fuehlen und dadurch ueberhaupt erregt, belebt, beseelt werden. Erregen, beleben, beseelen, um jeden Preis - ist das nicht das Losungswort einer erschlafften, ueberreifen, uebercultivirten Zeit? Der Kreis aller natuerlichen Empfindungen war hundertmal durchlaufen, die Seele war ihrer muede geworden: da erfanden der Heilige und der Asket eine neue Gattung von Lebensreizen. Sie stellten sich vor Aller Augen hin, nicht eigentlich zur Nachahmung fuer Viele, sondern als schauderhaftes und doch entzueckendes Schauspiel, welches an jenen Graenzen zwischen Welt und Ueberwelt aufgefuehrt wurde, wo Jedermann damals bald himmlische Lichtblicke, bald unheimliche, aus der Tiefe lodernde Flammenzungen zu erblicken glaubte. Das Auge des Heiligen, hingerichtet auf die in jedem Betracht furchtbare Bedeutung des kurzen Erdenlebens, auf die Naehe der letzten Entscheidung ueber endlose neue Lebensstrecken, diess verkohlende Auge, in einem halb vernichteten Leibe, machte die Menschen der alten Welt bis in alle Tiefen erzittern; hinblicken, schaudernd wegblicken, von Neuem den Reiz des Schauspiels spueren, ihm nachgeben, sich an ihm ersaettigen, bis die Seele in Gluth und Fieberfrost erbebt, - das war die letzte Lust, welche das Alterthum erfand, nachdem es selbst gegen den Anblick von Thier- und Menschenkaempfen stumpf geworden war. 142. Um das Gesagte zusammenzufassen: jener Seelenzustand, dessen sich der Heilige oder Heiligwerdende erfreut, setzt sich aus Elementen zusammen, welche wir Alle recht wohl kennen, nur dass sie sich unter dem Einfluss anderer als religioeser Vorstellungen anders gefaerbt zeigen und dann den Tadel der Menschen ebenso stark zu erfahren pflegen, wie sie, in jener Verbraemung mit Religion und letzter Bedeutsamkeit des Daseins, auf Bewunderung, ja Anbetung rechnen duerfen, - mindestens in frueheren Zeiten rechnen durften. Bald uebt der Heilige jenen Trotz gegen sich selbst, der ein naher Verwandter der Herrschsucht ist und auch dem Einsamsten noch das Gefuehl der Macht giebt; bald springt seine angeschwellte Empfindung aus dem Verlangen, seine Leidenschaften dahinschiessen zu lassen, ueber in das Verlangen, sie wie wilde Rosse zusammenstuerzen zu machen, unter dem maechtigen Druck einer stolzen Seele; bald will er ein voelliges Aufhoeren aller stoerenden, quaelenden, reizenden Empfindungen, einen wachen Schlaf, ein dauerndes Ausruhen im Schoosse einer dumpfen, thier- und pflanzenhaften Indolenz; bald sucht er den Kampf und entzuendet ihn in sich, weil ihm die Langeweile ihr gaehnendes Gesicht entgegenhaelt: er geisselt seine Selbstvergoetterung mit Selbstverachtung und Grausamkeit, er freut sich an dem wilden Aufruhre seiner Begierden, an dem scharfen Schmerz der Suende, ja an der Vorstellung des Verlorenseins, er versteht es, seinem Affect, zum Beispiel dem der aeussersten Herrschsucht, einen Fallstrick zu legen, so dass er in den der aeussersten Erniedrigung uebergeht und seine aufgehetzte Seele durch diesen Contrast aus allen Fugen gerissen wird; und zuletzt: wenn es ihn gar nach Visionen, Gespraechen mit Todten oder goettlichen Wesen geluestet, so ist es im Grunde eine seltene Art von Wollust, welche er begehrt, aber vielleicht jene Wollust, in der alle anderen in einen Knoten zusammengeschlungen sind. Novalis, eine der Autoritaeten in Fragen der Heiligkeit durch Erfahrung und Instinct, spricht das ganze Geheimniss einmal mit naiver Freude aus: "Es ist wunderbar genug, dass nicht laengst die Association von Wollust, Religion und Grausamkeit die Menschen aufmerksam auf ihre innige Verwandtschaft und gemeinschaftliche Tendenz gemacht hat." 143. Nicht Das, was der Heilige ist, sondern Das, was er in den Augen der Nicht-Heiligen bedeutet, giebt ihm seinen welthistorischen Werth. Dadurch, dass man sich ueber ihn irrte, dass man seine Seelenzustaende falsch auslegte und ihn von sich so stark als moeglich abtrennte, als etwas durchaus Unvergleichliches und fremdartig-Uebermenschliches: dadurch gewann er die ausserordentliche Kraft, mit welcher er die Phantasie ganzer Voelker, ganzer Zeiten beherrschen konnte. Er selbst kannte sich nicht; er selbst verstand die Schriftzuege seiner Stimmungen, Neigungen, Handlungen nach einer Kunst der Interpretation, welche ebenso ueberspannt und kuenstlich war, wie die pneumatische Interpretation der Bibel. Das Verschrobene und Kranke in seiner Natur, mit ihrer Zusammenkoppelung von geistiger Armuth, schlechtem Wissen, verdorbener Gesundheit, ueberreizten Nerven, blieb seinem Blick ebenso wie dem seiner Beschauer verborgen. Er war kein besonders guter Mensch, noch weniger ein besonders weiser Mensch: aber er bedeutete Etwas, das ueber menschliches Maass in Guete und Weisheit hinausreiche. Der Glaube an ihn unterstuetzte den Glauben an Goettliches und Wunderhaftes, an einen religioesen Sinn alles Daseins, an einen bevorstehenden letzten Tag des Gerichtes. In dem abendlichen Glanze einer Weltuntergangs-Sonne, welche ueber die christlichen Voelker hinleuchtete, wuchs die Schattengestalt des Heiligen in's Ungeheure: ja bis zu einer solchen Hoehe, dass selbst in unserer Zeit, die nicht mehr an Gott glaubt, es noch genug Denker giebt, welche an den Heiligen glauben. 144. Es versteht sich von selbst, dass dieser Zeichnung des Heiligen, welche nach dem Durchschnitt der ganzen Gattung entworfen ist, manche Zeichnung entgegengestellt werden kann, welche eine angenehmere Empfindung hervorbringen moechte. Einzelne Ausnahmen jener Gattung heben sich heraus, sei es durch grosse Milde und Menschenfreundlichkeit, sei es durch den Zauber ungewoehnlicher Thatkraft; andere sind im hoechsten Grade anziehend, weil bestimmte Wahnvorstellungen ueber ihr ganzes Wesen Lichtstroeme ausgiessen: wie es zum Beispiel mit dem beruehmten Stifter des Christenthums der Fall ist, der sich fuer den eingeborenen Sohn Gottes hielt und desshalb sich suendlos fuehlte; so dass er durch eine Einbildung - die man nicht zu hart beurtheilen moege, weil das ganze Alterthum von Goettersoehnen wimmelt - das selbe Ziel erreichte, das Gefuehl voelliger Suendlosigkeit, voelliger Unverantwortlichkeit, welches jetzt durch die Wissenschaft Jedermann sich erwerben kann. - Ebenfalls habe ich abgesehen von den indischen Heiligen, welche auf einer Zwischenstufe zwischen dem christlichen Heiligen und dem griechischen Philosophen stehen und insofern keinen reinen Typus darstellen: die Erkenntniss, die Wissenschaft - soweit es eine solche gab -, die Erhebung ueber die anderen Menschen durch die logische Zucht und Schulung des Denkens wurde bei den Buddhaisten als ein Kennzeichen der Heiligkeit ebenso gefordert, wie die selben Eigenschaften in der christlichen Welt, als Kennzeichen der Unheiligkeit, abgelehnt und verketzert werden. Viertes Hauptstueck. Aus der Seele der Kuenstler und Schriftsteller. 145. Das Vollkommene soll nicht geworden sein. - Wir sind gewoehnt, bei allem Vollkommenen die Frage nach dem Werden zu unterlassen: sondern uns des Gegenwaertigen zu freuen, wie als ob es auf einen Zauberschlag aus dem Boden aufgestiegen sei. Wahrscheinlich stehen wir hier noch unter der Nachwirkung einer uralten mythologischen Empfindung. Es ist uns beinahe noch so zu Muthe (zum Beispiel in einem griechischen Tempel wie der von Paestum), als ob eines Morgens ein Gott spielend aus solchen ungeheuren Lasten sein Wohnhaus gebaut habe: anderemale als ob eine Seele urploetzlich in einen Stein hineingezaubert sei und nun durch ihn reden wolle. Der Kuenstler weiss, dass sein Werk nur voll wirkt, wenn es den Glauben an eine Improvisation, an eine wundergleiche Ploetzlichkeit der Entstehung erregt; und so hilft er wohl dieser Illusion nach und fuehrt jene Elemente der begeisterten Unruhe, der blind greifenden Unordnung, des aufhorchenden Traeumens beim Beginn der Schoepfung in die Kunst ein, als Trugmittel, um die Seele des Schauers oder Hoerers so zu stimmen, dass sie an das ploetzliche Hervorspringen des Vollkommenen glaubt. - Die Wissenschaft der Kunst hat dieser Illusion, wie es sich von selbst versteht, auf das bestimmteste zu widersprechen und die Fehlschluesse und Verwoehnungen des Intellects aufzuzeigen, vermoege welcher er dem Kuenstler in das Netz laeuft. 146. Der Wahrheitssinn des Kuenstlers. - Der Kuenstler hat in Hinsicht auf das Erkennen der Wahrheiten eine schwaechere Moralitaet, als der Denker; er will sich die glaenzenden, tiefsinnigen Deutungen des Lebens durchaus nicht nehmen lassen und wehrt sich gegen nuechterne, schlichte Methoden und Resultate. Scheinbar kaempft er fuer die hoehere Wuerde und Bedeutung des Menschen; in Wahrheit will er die fuer seine Kunst wirkungsvollsten Voraussetzungen nicht aufgeben, also das Phantastische, Mythische, Unsichere, Extreme, den Sinn fuer das Symbolische, die Ueberschaetzung der Person, den Glauben an etwas Wunderartiges im Genius: er haelt also die Fortdauer seiner Art des Schaffens fuer wichtiger, als die wissenschaftliche Hingebung an das Wahre in jeder Gestalt, erscheine diese auch noch so schlicht. 147. Die Kunst als Todtenbeschwoererin. - Die Kunst versieht nebenbei die Aufgabe zu conserviren, auch wohl erloschene, verblichene Vorstellungen ein Wenig wieder aufzufaerben; sie flicht, wenn sie diese Aufgabe loest, ein Band um verschiedene Zeitalter und macht deren Geister wiederkehren. Zwar ist es nur ein Scheinleben wie ueber Graebern, welches hierdurch entsteht, oder wie die Wiederkehr geliebter Todten im Traume, aber wenigstens auf Augenblicke wird die alte Empfindung noch einmal rege und das Herz klopft nach einem sonst vergessenen Tacte. Nun muss man wegen dieses allgemeinen Nutzens der Kunst dem Kuenstler selber es nachsehen, wenn er nicht in den vordersten Reihen der Aufklaerung und der fortschreitenden Vermaennlichung der Menschheit steht: er ist zeitlebens ein Kind oder ein Juengling geblieben und auf dem Standpunct zurueckgehalten, auf welchem er von seinem Kunsttriebe ueberfallen wurde; Empfindungen der ersten Lebensstufen stehen aber zugestandenermaassen denen frueherer Zeitlaeufte naeher, als denen des gegenwaertigen Jahrhunderts. Unwillkuerlich wird es zu seiner Aufgabe, die Menschheit zu verkindlichen; diess ist sein Ruhm und seine Begraenztheit. 148. Dichter als Erleichterer des Lebens. - Die Dichter, insofern auch sie das Leben der Menschen erleichtern wollen, wenden den Blick entweder von der muehseligen Gegenwart ab oder verhelfen der Gegenwart durch ein Licht, das sie von der Vergangenheit herstrahlen machen, zu neuen Farben. Um diess zu koennen, muessen sie selbst in manchen Hinsichten rueckwaerts gewendete Wesen sein: so dass man sie als Bruecken zu ganz fernen Zeiten und Vorstellungen, zu absterbenden oder abgestorbenen Religionen und Culturen gebrauchen kann. Sie sind eigentlich immer und nothwendig Epigonen. Es ist freilich von ihren Mitteln zur Erleichterung des Lebens einiges Unguenstige zu sagen: sie beschwichtigen und heilen nur vorlaeufig, nur fuer den Augenblick; sie halten sogar die Menschen ab, an einer wirklichen Verbesserung ihrer Zustaende zu arbeiten, indem sie gerade die Leidenschaft der Unbefriedigten, welche zur That draengen, aufheben und palliativisch entladen. 149. Der langsame Pfeil der Schoenheit. - Die edelste Art der Schoenheit ist die, welche nicht auf einmal hinreisst, welche nicht stuermische und berauschende Angriffe macht (eine solche erweckt leicht Ekel), sondern jene langsam einsickernde, welche man fast unbemerkt mit sich forttraegt und die Einem im Traum einmal wiederbegegnet, endlich aber, nachdem sie lange mit Bescheidenheit an unserm Herzen gelegen, von uns ganz Besitz nimmt, unser Auge mit Thraenen, unser Herz mit Sehnsucht fuellt. - Wonach sehnen wir uns beim Anblick der Schoenheit? Darnach, schoen zu sein: wir waehnen, es muesse viel Glueck damit verbunden sein. - Aber das ist ein Irrthum. 150. Beseelung der Kunst. - Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen. Sie uebernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter Gefuehle und Stimmungen, legt sie an ihr Herz und wird jetzt selber tiefer, seelenvoller, so dass sie Erhebung und Begeisterung mitzutheilen vermag, was sie vordem noch nicht konnte. Der zum Strome angewachsene Reichthum des religioesen Gefuehls bricht immer wieder aus und will sich neue Reiche erobern: aber die wachsende Aufklaerung hat die Dogmen der Religion erschuettert und ein gruendliches Misstrauen eingefloesst: so wirft sich das Gefuehl, durch die Aufklaerung aus der religioesen Sphaere hinausgedraengt, in die Kunst; in einzelnen Faellen auch auf das politische Leben, ja selbst direct auf die Wissenschaft. Ueberall, wo man an menschlichen Bestrebungen eine hoehere duestere Faerbung wahrnimmt darf man vermuthen, dass Geistergrauen, Weihrauchduft und Kirchenschatten daran haengen geblieben sind. 151. Wodurch das Metrum verschoenert. - Das Metrum legt Flor ueber die Realitaet; es veranlasst einige Kuenstlichkeit des Geredes und Unreinheit des Denkens; durch den Schatten, den es auf den Gedanken wirft, verdeckt es bald, bald hebt es hervor. Wie Schatten noethig ist, um zu verschoenern, so ist das "Dumpfe" noethig, um zu verdeutlichen. - Die Kunst macht den Anblick des Lebens ertraeglich, dadurch dass sie den Flor des unreinen Denkens ueber dasselbe legt. 152. Kunst der haesslichen Seele. - Man zieht der Kunst viel zu enge Schranken, wenn man verlangt, dass nur die geordnete, sittlich im Gleichgewicht schwebende Seele sich in ihr aussprechen duerfe. Wie in den bildenden Kuensten, so auch giebt es in der Musik und Dichtung eine Kunst der haesslichen Seele, neben der Kunst der schoenen Seele; und die maechtigsten Wirkungen der Kunst, das Seelenbrechen, Steinebewegen und Thierevermenschlichen ist vielleicht gerade jener Kunst am meisten gelungen. 153. Die Kunst macht dem Denker das Herz schwer. - Wie stark das metaphysische Beduerfniss ist und wie sich noch zuletzt die Natur den Abschied von ihm schwer macht, kann man daraus entnehmen, dass noch im Freigeiste, wenn er sich alles Metaphysischen entschlagen hat, die hoechsten Wirkungen der Kunst leicht ein Miterklingen der lange verstummten, ja zerrissenen metaphysischen Saite hervorbringen, sei es zum Beispiel, dass er bei einer Stelle der neunten Symphonie Beethoven's sich ueber der Erde in einem Sternendome schweben fuehlt, mit dem Traume der Unsterblichkeit im Herzen: alle Sterne scheinen um ihn zu flimmern und die Erde immer tiefer hinabzusinken. - Wird er sich dieses Zustandes bewusst, so fuehlt er wohl einen tiefen Stich im Herzen und seufzt nach dem Menschen, welcher ihm die verlorene Geliebte, nenne man sie nun Religion oder Metaphysik, zurueckfuehre. In solchen Augenblicken wird sein intellectualer Charakter auf die Probe gestellt. 154. Mit dem Leben spielen. - Die Leichtigkeit und Leichtfertigkeit der homerischen Phantasie war noethig, um das uebermaessig leidenschaftliche Gemueth und den ueberscharfen Verstand des Griechen zu beschwichtigen und zeitweilig aufzuheben. Spricht bei ihnen der Verstand: wie herbe und grausam erscheint dann das Leben! Sie taeuschen sich nicht, aber sie umspielen absichtlich das Leben mit Luegen. Simonides rieth seinen Landsleuten, das Leben wie ein Spiel zu nehmen; der Ernst war ihnen als Schmerz allzubekannt (das Elend der Menschen ist ja das Thema, ueber welches die Goetter so gern singen hoeren) und sie wussten, dass einzig durch die Kunst selbst das Elend zum Genusse werden koenne. Zur Strafe fuer diese Einsicht waren sie aber von der Lust, zu fabuliren, so geplagt, dass es ihnen im Alltagsleben schwer wurde, sich von Lug und Trug frei zu halten, wie alles Poetenvolk eine solche Lust an der Luege hat und obendrein noch die Unschuld dabei. Die benachbarten Voelker fanden das wohl mitunter zum Verzweifeln. 155. Glaube an Inspiration. - Die Kuenstler haben ein Interesse daran, dass man an die ploetzlichen Eingebungen, die sogenannten Inspirationen glaubt; als ob die Idee des Kunstwerks, der Dichtung, der Grundgedanke einer Philosophie, wie ein Gnadenschein vom Himmel herableuchte. In Wahrheit producirt die Phantasie des guten Kuenstlers oder Denkers fortwaehrend, Gutes, Mittelmaessiges und Schlechtes, aber seine Urtheilskraft, hoechst geschaerft und geuebt, verwirft, waehlt aus, knuepft zusammen; wie man jetzt aus den Notizbuechern Beethoven's ersieht, dass er die herrlichsten Melodien allmaehlich zusammengetragen und aus vielfachen Ansaetzen gewissermaassen ausgelesen hat. Wer weniger streng scheidet und sich der nachbildenden Erinnerung gern ueberlaesst, der wird unter Umstaenden ein grosser Improvisator werden koennen; aber die kuenstlerische Improvisation steht tief im Verhaeltniss zum ernst und muehevoll erlesenen Kunstgedanken. Alle Grossen waren grosse Arbeiter, unermuedlich nicht nur im Erfinden, sondern auch im Verwerfen, Sichten, Umgestalten, Ordnen. 156. Nochmals die Inspiration. - Wenn sich die Productionskraft eine Zeit lang angestaut hat und am Ausfliessen durch ein Hemmnis gehindert worden ist, dann giebt es endlich einen so ploetzlichen Erguss, als ob eine unmittelbare Inspiration, ohne vorhergegangenes inneres Arbeiten, also ein Wunder sich vollziehe. Diess macht die bekannte Taeuschung aus, an deren Fortbestehen, wie gesagt, das Interesse aller Kuenstler ein wenig zu sehr haengt. Das Capital hat sich eben nur angehaeuft, es ist nicht auf einmal vom Himmel gefallen. Es giebt uebrigens auch anderwaerts solche scheinbare Inspiration, zum Beispiel im Bereiche der Guete, der Tugend, des Lasters. 157. Die Leiden des Genius' und ihr Werth. - Der kuenstlerische Genius will Freude machen, aber wenn er auf einer sehr hohen Stufe steht, so fehlen ihm leicht die Geniessenden; er bietet Speisen, aber man will sie nicht. Das giebt ihm ein unter Umstaenden laecherlich-ruehrendes Pathos; denn im Grunde hat er kein Recht, die Menschen zum Vergnuegen zu zwingen. Seine Pfeife toent, aber Niemand will tanzen: kann das tragisch sein? - Vielleicht doch. Zuletzt hat er als Compensation fuer diese Entbehrung mehr Vergnuegen beim Schaffen, als die uebrigen Menschen bei allen anderen Gattungen der Thaetigkeit haben. Man empfindet seine Leiden uebertrieben, weil der Ton seiner Klage lauter, sein Mund beredter ist; und in mitunter sind seine Leiden wirklich sehr gross, aber nur desshalb, weil sein Ehrgeiz, sein Neid so gross ist. Der wissende Genius, wie Kepler und Spinoza, ist fuer gewoehnlich nicht so begehrlich und macht von seinen wirklich groesseren Leiden und Entbehrungen kein solches Aufheben. Er darf mit groesserer Sicherheit auf die Nachwelt rechnen und sich der Gegenwart entschlagen; waehrend ein Kuenstler, der diess thut, immer ein verzweifeltes Spiel spielt, bei dem ihm wehe um's Herz werden muss. In ganz seltenen Faellen, - dann, wenn im selben Individuum der Genius des Koennens und des Erkennens und der moralische Genius sich verschmelzen - kommt zu den erwaehnten Schmerzen noch die Gattung von Schmerzen hinzu, welche als die absonderlichsten Ausnahmen in der Welt zu nehmen sind: die ausser- und ueberpersoenlichen, einem Volke, der Menschheit, der gesammten Cultur, allem leidenden Dasein zugewandten Empfindungen: welche ihren Werth durch die Verbindung mit besonders schwierigen und entlegenen Erkenntnissen erlangen (Mitleid an sich ist wenig werth). - Aber welchen Maassstab, welche Goldwage giebt es fuer deren Aechtheit? Ist es nicht fast geboten, misstrauisch gegen Alle zu sein, welche von Empfindungen dieser Art bei sich reden? 158. Verhaengniss der Groesse. - Jeder grossen Erscheinung folgt die Entartung nach, namentlich im Bereiche der Kunst. Das Vorbild des Grossen reizt die eitleren Naturen zum aeusserlichen Nachmachen oder zum Ueberbieten; dazu haben alle grossen Begabungen das Verhaengnissvolle an sich, viele schwaechere Kraefte und Keime zu erdruecken und um sich herum gleichsam die Natur zu veroeden. Der gluecklichste Fall in der Entwickelung einer Kunst ist der, dass mehrere Genie's sich gegenseitig in Schranken halten; bei diesem Kampfe wird gewoehnlich den schwaecheren und zarteren Naturen auch Luft und Licht gegoennt. 159. Die Kunst dem Kuenstler gefaehrlich. - Wenn die Kunst ein Individuum gewaltig ergreift, dann zieht es dasselbe zu Anschauungen solcher Zeiten zurueck, wo die Kunst am kraeftigsten bluehte, sie wirkt dann zurueckbildend. Der Kuenstler kommt immer mehr in eine Verehrung der ploetzlichen Erregungen, glaubt an Goetter und Daemonen, durchseelt die Natur, hasst die Wissenschaft, wird wechselnd in seinen Stimmungen, wie die Menschen des Alterthums, und begehrt einen Umsturz aller Verhaeltnisse, welche der Kunst nicht guenstig sind, und zwar diess mit der Heftigkeit und Unbilligkeit eines Kindes. An sich ist nun der Kuenstler schon ein zurueckbleibendes Wesen, weil er beim Spiel stehen bleibt, welches zur Jugend und Kindheit gehoert: dazu kommt noch, dass er allmaehlich in andere Zeiten zurueckgebildet wird. So entsteht zuletzt ein heftiger Antagonismus zwischen ihm und den gleichalterigen Menschen seiner Periode und ein truebes Ende; so wie, nach den Erzaehlungen der Alten, Homer und Aeschylus in Melancholie zuletzt lebten und starben. 160. Geschaffene Menschen. - Wenn man sagt, der Dramatiker (und der Kuenstler ueberhaupt) schaffe wirklich Charaktere, so ist diess eine schoene Taeuschung und Uebertreibung, in deren Dasein und Verbreitung die Kunst einen ihrer ungewollten, gleichsam ueberschuessigen Triumphe feiert. In der That verstehen wir von einem wirklichen lebendigen Menschen nicht viel und generalisiren sehr oberflaechlich, wenn wir ihm diesen und jenen Charakter zuschreiben: dieser unserer sehr unvollkommenen Stellung zum Menschen entspricht nun der Dichter, indem er ebenso oberflaechliche Entwuerfe zu Menschen macht (in diesem Sinne "Schafft"), als unsere Erkenntniss der Menschen oberflaechlich ist. Es ist viel Blendwerk bei diesen geschaffenen Charakteren der Kuenstler; es sind durchaus keine leibhaftigen Naturproducte, sondern aehnlich wie die gemalten Menschen ein Wenig allzu duenn, sie vertragen den Anblick aus der Naehe nicht. Gar wenn man sagt, der Charakter des gewoehnlichen lebendigen Menschen widerspreche sich haeufig, der vom Dramatiker geschaffene sei das Urbild, welches der Natur vorgeschwebt habe, so ist diess ganz falsch. Ein wirklicher Mensch ist etwas ganz und gar Nothwendiges (selbst in jenen sogenannten Widerspruechen), aber wir erkennen diese Nothwendigkeit nicht immer. Der erdichtete Mensch, das Phantasma, will etwas Nothwendiges bedeuten, doch nur vor Solchen, welche auch einen wirklichen Menschen nur in einer rohen, unnatuerlichen Simplification verstehen: so dass ein paar starke, oft wiederholte Zuege, mit sehr viel Licht darauf und sehr viel Schatten und Halbdunkel herum, ihren Anspruechen vollstaendig genuegen. Sie sind also leicht bereit, das Phantasma als wirklichen, nothwendigen Menschen zu behandeln, weil sie gewoehnt sind, beim wirklichen Menschen ein Phantasma, einen Schattenriss, eine willkuerliche Abbreviatur fuer das Ganze zu nehmen. - Dass gar der Maler und der Bildhauer die "Idee" des Menschen ausdruecke, ist eitel Phantasterei und Sinnentrug: man wird vom Auge tyrannisirt, wenn man so Etwas sagt, da dieses vom menschlichen Leibe selbst nur die Oberflaeche, die Haut sieht; der innere Leib gehoert aber eben so sehr zur Idee. Die bildende Kunst will Charaktere auf der Haut sichtbar werden lassen; die redende Kunst nimmt das Wort zu dem selben Zwecke, sie bildet den Charakter im Laute ab. Die Kunst geht von der natuerlichen Unwissenheit des Menschen ueber sein Inneres (in Leib und Charakter) aus: sie ist nicht fuer Physiker und Philosophen da. 161. Selbstueberschaetzung im Glauben an Kuenstler und Philosophen. - Wir Alle meinen, es sei die Guete eines Kunstwerks, eines Kuenstlers bewiesen, wenn er uns ergreift, erschuettert. Aber da muesste doch erst unsere eigene Guete in Urtheil und Empfindung bewiesen sein: was nicht der Fall ist. Wer hat mehr im Reiche der bildenden Kunst ergriffen und entzueckt, als Bernini, wer maechtiger gewirkt, als jener nachdemosthenische Rhetor, welcher den asianischen Stil einfuehrte und durch zwei Jahrhunderte zur Herrschaft brachte? Diese Herrschaft ueber ganze Jahrhunderte beweist Nichts fuer die Guete und dauernde Gueltigkeit eines Stils; desshalb soll man nicht zu sicher in seinem guten Glauben an irgend einen Kuenstler sein: ein solcher ist ja nicht nur der Glaube an die Wahrhaftigkeit unserer Empfindung, sondern auch an die Unfehlbarkeit unseres Urtheils, waehrend Urtheil oder Empfindung oder beides selber zu grob oder zu fein geartet, ueberspannt oder roh sein koennen. Auch die Segnungen und Beseligungen einer Philosophie, einer Religion beweisen fuer ihre Wahrheit Nichts: ebensowenig als das Glueck, welches der Irrsinnige von seiner fixen Idee her geniesst, Etwas fuer die Vernuenftigkeit dieser Idee beweist. 162. Cultus des Genius' aus Eitelkeit. - Weil wir gut von uns denken, aber doch durchaus nicht von uns erwarten, dass wir je den Entwurf eines Rafaelischen Gemaeldes oder eine solche Scene wie die eines Shakespeare'schen Drama's machen koennten, reden wir uns ein, das Vermoegen dazu sei ganz uebermaessig wunderbar, ein ganz seltener Zufall, oder, wenn wir noch religioes empfinden, eine Begnadigung von Oben. So foerdert unsere Eitelkeit, unsere Selbstliebe, den Cultus des Genius': denn nur wenn dieser ganz fern von uns gedacht ist, als ein miraculum, verletzt er nicht (selbst Goethe, der Neidlose, nannte Shakespeare seinen Stern der fernsten Hoehe; wobei man sich jenes Verses erinnern mag: "die Sterne, die begehrt man nicht"). Aber von jenen Einfluesterungen unserer Eitelkeit abgesehen, so erscheint die Thaetigkeit des Genie's durchaus nicht als etwas Grundverschiedenes von der Thaetigkeit des mechanischen Erfinders, des astronomischen oder historischen Gelehrten, des Meisters der Taktik. Alle diese Thaetigkeiten erklaeren sich, wenn man sich Menschen vergegenwaertigt, deren Denken in Einer Richtung thaetig ist, die Alles als Stoff benuetzen, die immer ihrem innern Leben und dem Anderer mit Eifer zusehen, die ueberall Vorbilder, Anreizungen erblicken, die in der Combination ihrer Mittel nicht muede werden. Das Genie thut auch Nichts, als dass es erst Steine setzen, dann bauen lernt, dass es immer nach Stoff sucht und immer an ihm herumformt. Jede Thaetigkeit des Menschen ist zum Verwundern complicirt, nicht nur die des Genie's: aber keine ist ein "Wunder." - Woher nun der Glaube, dass es allein beim Kuenstler, Redner und Philosophen Genie gebe? dass nur sie "Intuition" haben? (womit man ihnen eine Art von Wunder-Augenglas zuschreibt, mit dem sie direct in's "Wesen" sehen!) Die Menschen sprechen ersichtlich dort allein von Genius, wo ihnen die Wirkungen des grossen Intellectes am angenehmsten sind und sie wiederum nicht Neid empfinden wollen. Jemanden "goettlich" nennen heisst "hier brauchen wir nicht zu wetteifern". Sodann: alles Fertige, Vollkommene wird angestaunt, alles Werdende unterschaetzt. Nun kann Niemand beim Werke des Kuenstlers zusehen, wie es geworden ist; das ist sein Vortheil, denn ueberall, wo man das Werden sehen kann, wird man etwas abgekuehlt. Die vollendete Kunst der Darstellung weist alles Denken an das Werden ab; es tyrannisirt als gegenwaertige Vollkommenheit. Desshalb gelten die Kuenstler der Darstellung vornehmlich als genial, nicht aber die wissenschaftlichen Menschen. In Wahrheit ist jene Schaetzung und diese Unterschaetzung nur eine Kinderei der Vernunft. 163. Der Ernst des Handwerks. - Redet nur nicht von Begabung, angeborenen Talenten! Es sind grosse Maenner aller Art zu nennen, welche wenig begabt waren. Aber sie bekamen Groesse, wurden "Genie's" (wie man sagt), durch Eigenschaften, von deren Mangel Niemand gern redet, der sich ihrer bewusst ist: sie hatten Alle jenen tuechtigen Handwerker-Ernst, welcher erst lernt, die Theile vollkommen zu bilden, bis er es wagt, ein grosses Ganzes zu machen; sie gaben sich Zeit dazu, weil sie mehr Lust am Gutmachen des Kleinen, Nebensaechlichen hatten, als an dem Effecte eines blendenden Ganzen. Das Recept zum Beispiel, wie Einer ein guter Novellist werden kann, ist leicht zu geben, aber die Ausfuehrung setzt Eigenschaften voraus, ueber die man hinwegzusehen pflegt, wenn man sagt "ich habe nicht genug Talent". Man mache nur hundert und mehr Entwuerfe zu Novellen, keinen laenger als zwei Seiten, doch von solcher Deutlichkeit, dass jedes Wort darin nothwendig ist; man schreibe taeglich Anekdoten nieder, bis man es lernt, ihre praegnanteste, wirkungsvollste Form zu finden, man sei unermuedlich im Sammeln und Ausmalen menschlicher Typen und Charaktere, man erzaehle vor Allem so oft es moeglich ist und hoere erzaehlen, mit scharfem Auge und Ohr fuer die Wirkung auf die anderen Anwesenden, man reise wie ein Landschaftsmaler und Costuemzeichner, man excerpire sich aus einzelnen Wissenschaften alles Das, was kuenstlerische Wirkungen macht, wenn es gut dargestellt wird, man denke endlich ueber die Motive der menschlichen Handlungen nach, verschmaehe keinen Fingerzeig der Belehrung hierueber und sei ein Sammler von dergleichen Dingen bei Tag und Nacht. In dieser mannichfachen Uebung lasse man einige zehn Jahre voruebergehen: was dann aber in der Werkstaette geschaffen wird, darf auch hinaus in das Licht der Strasse. - Wie machen es aber die Meisten? Sie fangen nicht mit dem Theile, sondern mit dem Ganzen an. Sie thun vielleicht einmal einen guten Griff, erregen Aufmerksamkeit und thun von da an immer schlechtere Griffe, aus guten, natuerlichen Gruenden. - Mitunter, wenn Vernunft und Charakter fehlen, um einen solchen kuenstlerischen Lebensplan zu gestalten, uebernimmt das Schicksal und die Noth die Stelle derselben und fuehrt den zukuenftigen Meister schrittweise durch alle Bedingungen seines Handwerks. 164. Gefahr und Gewinn im Cultus des Genius'. - Der Glaube an grosse, ueberlegene, fruchtbare Geister ist nicht nothwendig, aber sehr haeufig noch mit jenem ganz- oder halbreligioesen Aberglauben verbunden, dass jene Geister uebermenschlichen Ursprungs seien und gewisse wunderbare Vermoegen besaessen, vermittelst deren sie ihrer Erkenntnisse auf ganz anderem Wege theilhaftig wuerden, als die uebrigen Menschen. Man schreibt ihnen wohl einen unmittelbaren Blick in das Wesen der Welt, gleichsam durch ein Loch im Mantel der Erscheinung, zu und glaubt, dass sie ohne die Muehsal und Strenge der Wissenschaft, vermoege dieses wunderbaren Seherblickes, etwas Endgueltiges und Entscheidendes ueber Mensch und Welt mittheilen koennten. So lange das Wunder im Bereiche der Erkenntniss noch Glaeubige findet, kann man vielleicht zugeben, dass dabei fuer die Glaeubigen selber ein Nutzen herauskomme, insofern diese durch ihre unbedingte Unterordnung unter die grossen Geister, ihrem eigenen Geiste fuer die Zeit der Entwickelung die beste Disciplin und Schule verschaffen. Dagegen ist mindestens fraglich, ob der Aberglaube vom Genie, von seinen Vorrechten und Sondervermoegen fuer das Genie selber von Nutzen sei, wenn er in ihm sich einwurzelt. Es ist jedenfalls ein gefaehrliches Anzeichen, wenn den Menschen jener Schauder vor sich selbst ueberfaellt, sei es nun jener beruehmte Caesaren-Schauder oder der hier in Betracht kommende Genie-Schauder; wenn der Opferduft, welchen man billigerweise allein einem Gotte bringt, dem Genie in's Gehirn dringt, so dass er zu schwanken und sich fuer etwas Uebermenschliches zu halten beginnt. Die langsamen Folgen sind: das Gefuehl der Unverantwortlichkeit, der exceptionellen Rechte, der Glaube, schon durch seinen Umgang zu begnadigen, wahnsinnige Wuth bei dem Versuche, ihn mit Anderen zu vergleichen oder gar ihn niedriger zu taxiren und das Verfehlte seines Werkes in's Licht zu setzen. Dadurch, dass er aufhoert, Kritik gegen sich selbst zu ueben, faellt zuletzt aus seinem Gefieder eine der Schwungfedern nach der anderen aus: jener Aberglaube graebt die Wurzeln seiner Kraft an und macht ihn vielleicht gar zum Heuchler, nachdem seine Kraft von ihm gewichen ist. Fuer grosse Geister selbst ist es also wahrscheinlich nuetzlicher, wenn sie ueber ihre Kraft und deren Herkunft zur Einsicht kommen, wenn sie also begreifen, welche rein menschlichen Eigenschaften in ihnen zusammengeflossen sind, welche Gluecksumstaende hinzutraten - also einmal anhaltende Energie, entschlossene Hinwendung zu einzelnen Zielen, grosser persoenlicher Muth, sodann das Glueck einer Erziehung, welche die besten Lehrer, Vorbilder, Methoden fruehzeitig darbot. Freilich, wenn ihr Ziel ist, die groesstmoegliche Wirkung zu machen, so hat die Unklarheit ueber sich selbst und jene Beigabe eines halben Wahnsinns immer viel gethan; denn bewundert und beneidet hat man zu allen Zeiten gerade jene Kraft an ihnen, vermoege deren sie die Menschen willenlos machen und zum Wahne fortreissen, dass uebernatuerliche Fuehrer vor ihnen her giengen. Ja, es erhebt und begeistert die Menschen, jemanden im Besitz uebernatuerlicher Kraefte zu glauben: insofern hat der Wahnsinn, wie Plato sagt, die groessten Segnungen ueber die Menschen gebracht. - In einzelnen seltenen Faellen mag dieses Stueck Wahnsinn wohl auch das Mittel gewesen sein, durch welches eine solche nach allen Seiten hin excessive Natur fest zusammengehalten wurde: auch im Leben der Individuen haben die Wahnvorstellungen haeufig den Werth von Heilmitteln, welche an sich Gifte sind; doch zeigt sich endlich, bei jedem "Genie", das an seine Goettlichkeit glaubt, das Gift in dem Grade, als das "Genie" alt wird: man moege sich zum Beispiel Napoleon's erinnern, dessen Wesen sicherlich gerade durch seinen Glauben an sich und seinen Stern und durch die aus ihm fliessende Verachtung der Menschen zu der maechtigen Einheit zusammenwuchs, welche ihn aus allen modernen Menschen heraushebt, bis endlich aber dieser selbe Glaube in einen fast wahnsinnigen Fatalismus uebergieng, ihn seines Schnell- und Scharfblickes beraubte und die Ursache seines Unterganges wurde. 165. Das Genie und das Nichtige. - Gerade die originellen, aus sich schoepfenden Koepfe unter den Kuenstlern koennen unter Umstaenden das ganz Leere und Schaale hervorbringen, waehrend die abhaengigeren Naturen, die sogenannten Talente, voller Erinnerungen an alles moegliche Gute stecken und auch im Zustand der Schwaeche etwas Leidliches produciren. Sind die Originellen aber von sich selber verlassen, so giebt die Erinnerung ihnen keine Huelfe: sie werden leer. 166. Das Publicum. - Von der Tragoedie begehrt das Volk eigentlich nicht mehr, als recht geruehrt zu werden, um sich einmal ausweinen zu koennen; der Artist dagegen, der die neue Tragoedie sieht, hat seine Freude an den geistreichen technischen Erfindungen und Kunstgriffen, an der Handhabung und Vertheilung des Stoffes, an der neuen Wendung alter Motive, alter Gedanken. Seine Stellung ist die aesthetische Stellung zum Kunstwerk, die des Schaffenden; die erstbeschriebene, mit alleiniger Ruecksicht auf den Stoff, die des Volkes. Von dem Menschen dazwischen ist nicht zu reden, er ist weder Volk noch Artist und weiss nicht, was er will: so ist auch seine Freude unklar und gering. 167. Artistische Erziehung des Publicums. - Wenn das selbe Motiv nicht hundertfaeltig durch verschiedene Meister behandelt wird, lernt das Publicum nicht ueber das Interesse des Stoffes hinauskommen; aber zuletzt wird es selbst die Nuancen, die zarten, neuen Erfindungen in der Behandlung dieses Motives fassen und geniessen, wenn es also das Motiv laengst aus zahlreichen Bearbeitungen kennt und dabei keinen Reiz der Neuheit, der Spannung mehr empfindet. 168. Kuenstler und sein Gefolge muessen Schritt halten. - Der Fortgang von einer Stufe des Stils zur andern muss so langsam sein, dass nicht nur die Kuenstler, sondern auch die Zuhoerer und Zuschauer diesen Fortgang mitmachen und genau wissen, was vorgeht. Sonst entsteht auf einmal jene grosse Kluft zwischen dem Kuenstler, der auf abgelegener Hoehe seine Werke schafft, und dem Publicum, welches nicht mehr zu jener Hoehe hinaufkann und endlich missmuthig wieder tiefer hinabsteigt. Denn wenn der Kuenstler sein Publicum nicht mehr hebt, so sinkt es schnell abwaerts, und zwar stuerzt es um so tiefer und gefaehrlicher, je hoeher es ein Genius getragen hat, dem Adler vergleichbar, aus dessen Faengen die in die Wolken hinaufgetragene Schildkroete zu ihrem Unheil hinabfaellt. 169. Herkunft des Komischen. - Wenn man erwaegt, dass der Mensch manche hunderttausend Jahre lang ein im hoechsten Grade der Furcht zugaengliches Thier war und dass alles Ploetzliche, Unerwartete ihn kampfbereit, vielleicht todesbereit sein hiess, ja dass selbst spaeter, in socialen Verhaeltnissen, alle Sicherheit auf dem Erwarteten, auf dem Herkommen in Meinung und Thaetigkeit beruhte, so darf man sich nicht wundern, dass bei allem Ploetzlichen, Unerwarteten in Wort und That, wenn es ohne Gefahr und Schaden hereinbricht, der Mensch ausgelassen wird, in's Gegentheil der Furcht uebergeht: das vor Angst zitternde, zusammengekruemmte Wesen schnellt empor, entfaltet sich weit, - der Mensch lacht. Diesen Uebergang aus momentaner Angst in kurz dauernden Uebermuth nennt man das Komische. Dagegen geht im Phaenomen des Tragischen der Mensch schnell aus grossem, dauerndem Uebermuth in grosse Angst ueber; da aber unter Sterblichen der grosse dauernde Uebermuth viel seltener, als der Anlass zur Angst ist, so giebt es viel mehr des Komischen, als des Tragischen in der Welt; man lacht viel oefter, als dass man erschuettert ist. 170. Kuenstler-Ehrgeiz. - Die griechischen Kuenstler, zum Beispiel die Tragiker dichteten, um zu siegen; ihre ganze Kunst ist nicht ohne Wettkampf zu denken: die hesiodische gute Eris, der Ehrgeiz, gab ihrem Genius die Fluegel. Nun verlangte dieser Ehrgeiz vor Allem, dass ihr Werk die hoechste Vortrefflichkeit vor ihren eigenen Augen erhalte, sowie sie also die Vortrefflichkeit verstanden, ohne Ruecksicht auf einen herrschenden Geschmack und die allgemeine Meinung ueber das Vortreffliche an einem Kunstwerk; und so blieben Aeschylus und Euripides lange Zeit ohne Erfolg, bis sie sich endlich Kunstrichter erzogen hatten, welche ihr Werk nach den Maassstaeben wuerdigten, welche sie selber anlegten. Somit erstreben sie den Sieg ueber Nebenbuhler nach ihrer eigenen Schaetzung, vor ihrem eigenen Richterstuhl, sie wollen wirklich vortrefflicher sein; dann fordern sie von Aussen her Zustimmung zu dieser eigenen Schaetzung, Bestaetigung ihres Urtheils. Ehre erstreben heisst hier "sich ueberlegen machen und wuenschen, dass es auch oeffentlich so erscheine". Fehlt das Erstere und wird das Zweite trotzdem begehrt, so spricht man von Eitelkeit. Fehlt das Letztere und wird es nicht vermisst, so redet man von Stolz. 171. Das Nothwendige am Kunstwerk. - Die, welche so viel von dem Nothwendigen an einem Kunstwerk reden, uebertreiben, wenn sie Kuenstler sind, in majorem artis gloriam, oder wenn sie Laien sind, aus Unkenntniss. Die Formen eines Kunstwerkes, welche seine Gedanken zum Reden bringen, also seine Art zu sprechen sind, haben immer etwas Laessliches, wie alle Art Sprache. Der Bildhauer kann viele kleine Zuege hinzuthun oder weglassen: ebenso der Darsteller, sei es ein Schauspieler oder, in Betreff der Musik, ein Virtuos oder Dirigent. Diese vielen kleinen Zuege und Ausfeilungen machen ihm heute Vergnuegen, morgen nicht, sie sind mehr des Kuenstlers als der Kunst wegen da, denn auch er bedarf, bei der Strenge und Selbstbezwingung, welche die Darstellung des Hauptgedankens von ihm fordert, gelegentlich des Zuckerbrodes und der Spielsachen, um nicht muerrisch zu werden. 172. Den Meister vergessen machen. - Der Clavierspieler, der das Werk eines Meisters zum Vortrag bringt, wird am besten gespielt haben, wenn er den Meister vergessen liess und wenn es so erschien, als ob er eine Geschichte seines Lebens erzaehle oder jetzt eben Etwas erlebe. Freilich: wenn er nichts Bedeutendes ist, wird jedermann seine Geschwaetzigkeit verwuenschen, mit der er uns aus seinem Leben erzaehlt. Also muss er verstehen, die Phantasie des Zuhoerers fuer sich einzunehmen. Daraus wiederum erklaeren sich alle Schwaechen und Narrheiten des "Virtuosenthums". 173. Corriger la fortune. - Es giebt schlimme Zufaelligkeiten im Leben grosser Kuenstler, welche zum Beispiel den Maler zwingen, sein bedeutendstes Bild nur als fluechtigen Gedanken zu skizziren oder zum Beispiel Beethoven zwangen, uns in manchen grossen Sonaten (wie in der grossen B-dur) nur den ungenuegenden Clavierauszug einer Symphonie zu hinterlassen. Hier soll der spaeterkommende Kuenstler das Leben der Grossen nachtraeglich zu corrigiren suchen: was zum Beispiel Der thun wuerde, welcher, als ein Meister aller Orchesterwirkungen, uns jene, dem Clavier-Scheintode verfallene Symphonie zum Leben erweckte. 174. Verkleinern. - Manche Dinge, Ereignisse oder Personen, vertragen es nicht, im kleinen Maassstabe behandelt zu werden. Man kann die Laokoon-Gruppe nicht zu einer Nippesfigur verkleinern; sie hat Groesse nothwendig. Aber viel seltener ist es, dass etwas von Natur Kleines die Vergroesserung vertraegt; wesshalb es Biographen immer noch eher gelingen wird, einen grossen Mann klein darzustellen, als einen kleinen gross. 175. Sinnlichkeit in der Kunst der Gegenwart. - Die Kuenstler verrechnen sich jetzt haeufig, wenn sie auf eine sinnliche Wirkung ihrer Kunstwerke hinarbeiten; denn ihre Zuschauer oder Zuhoerer haben nicht mehr ihre vollen Sinne und gerathen, ganz wider die Absicht des Kuenstlers, durch sein Kunstwerk in - eine "Heiligkeit" der Empfindung, welche der Langweiligkeit nahe verwandt ist. - Ihre Sinnlichkeit faengt vielleicht dort an, wo die des Kuenstlers gerade aufhoert, sie begegnen sich also hoechstens an Einem Puncte. 176. Shakespeare als Moralist. - Shakespeare hat ueber die Leidenschaften viel nachgedacht und wohl von seinem Temperamente her zu vielen einen sehr nahen Zugang gehabt (Dramatiker sind im Allgemeinen ziemlich boese Menschen). Aber er vermochte nicht, wie Montaigne, darueber zu reden, sondern legte die Beobachtungen ueber die Passionen den passionirten Figuren in den Mund: was zwar wider die Natur ist, aber seine Dramen so gedankenvoll macht, dass sie alle anderen leer erscheinen lassen und leicht einen allgemeinen Widerwillen gegen sie erwecken. - Die Sentenzen Schiller's (welchen fast immer falsche oder unbedeutende Einfaelle zu Grunde liegen) sind eben Theatersentenzen und wirken als solche sehr stark: waehrend die Sentenzen Shakespeare's seinem Vorbilde Montaigne Ehre machen und ganz ernsthafte Gedanken in geschliffener Form enthalten, desshalb aber fuer die Augen des Theaterpublicums zu fern und zu fein, also unwirksam sind. 177. Sich gut zu Gehoer bringen. - Man muss nicht nur verstehen, gut zu spielen, sondern auch sich gut zu Gehoer zu bringen. Die Geige in der Hand des groessten Meisters giebt nur ein Gezirp von sich, wenn der Raum zu gross ist; man kann da den Meister mit jedem Stuemper verwechseln. 178. Das Unvollstaendige als das Wirksame. - Wie Relieffiguren dadurch so stark auf die Phantasie wirken, dass sie gleichsam auf dem Wege sind, aus der Wand herauszutreten und ploetzlich, irgend wodurch gehemmt, Halt machen: so ist mitunter die reliefartig unvollstaendige Darstellung eines Gedankens, einer ganzen Philosophie wirksamer, als die erschoepfende Ausfuehrung: man ueberlaesst der Arbeit des Beschauers mehr, er wird aufgeregt, das, was in so starkem Licht und Dunkel vor ihm sich abhebt, fortzubilden, zu Ende zu denken und jenes Hemmniss selber zu ueberwinden, welches ihrem voelligen Heraustreten bis dahin hinderlich war. 179. Gegen die Originalen. - Wenn die Kunst sich in den abgetragensten Stoff kleidet, erkennt man sie am besten als Kunst. 180. Collectivgeist. - Ein guter Schriftsteller hat nicht nur seinen eigenen Geist, sondern auch noch den Geist seiner Freunde. 181. Zweierlei Verkennung. - Das Unglueck scharfsinniger und klarer Schriftsteller ist, dass man sie fuer flach nimmt und desshalb ihnen keine Muehe zuwendet: und das Glueck der unklaren, dass der Leser sich an ihnen abmueht und die Freude ueber seinen Eifer ihnen zu Gute schreibt. 182. Verhaeltniss zur Wissenschaft. - Alle Die haben kein wirkliches Interesse an einer Wissenschaft, welche erst dann anfangen, fuer sie warm zu werden, wenn sie selbst Entdeckungen in ihr gemacht haben. 183. Der Schluessel. - Der eine Gedanke, auf den ein bedeutender Mensch, zum Gelaechter und Spott der Unbedeutenden, grossen Werth legt, ist fuer ihn ein Schluessel zu verborgenen Schatzkammern, fuer jene nicht mehr, als ein Stueck alten Eisens. 184. Unuebersetzbar. - Es ist weder das Beste, noch das Schlechteste an einem Buche, was an ihm unuebersetzbar ist. 185. Paradoxien des Autors. - Die sogenannten Paradoxien des Autors, an welchen ein Leser Anstoss nimmt, stehen haeufig gar nicht im Buche des Autors, sondern im Kopfe des Lesers. 186. Witz. - Die witzigsten Autoren erzeugen das kaum bemerkbarste Laecheln. 187. Die Antithese. - Die Antithese ist die enge Pforte, durch welche sich am liebsten der Irrthum zur Wahrheit schleicht. 188. Denker als Stilisten. - Die meisten Denker schreiben schlecht, weil sie uns nicht nur ihre Gedanken, sondern auch das Denken der Gedanken mittheilen. 189. Gedanken im Gedicht. - Der Dichter fuehrt seine Gedanken festlich daher, auf dem Wagen des Rhythmus': gewoehnlich desshalb, weil diese zu Fuss nicht gehen koennen. 190. Suende wider den Geist des Lesers. - Wenn der Autor sein Talent verleugnet, blos um sich dem Leser gleich zu stellen, so begeht er die einzige Todsuende, welche ihm Jener nie verzeiht: im Fall er naemlich Etwas davon merkt. Man darf dem Menschen sonst alles Boese nachsagen: aber in der Art, wie man es sagt, muss man seine Eitelkeit wieder aufzurichten wissen. 191. Graenze der Ehrlichkeit. - Auch dem ehrlichsten Schriftsteller entfaellt ein Wort zu viel, wenn er eine Periode abrunden will. 192. Der beste Autor. - Der beste Autor wird der sein, welcher sich schaemt, Schriftsteller zu werden. 193. Drakonisches Gesetz gegen Schriftsteller. - Man sollte einen Schriftsteller als einen Missethaeter ansehen, der nur in den seltensten Faellen Freisprechung oder Begnadigung verdient: das waere ein Mittel gegen das Ueberhandnehmen der Buecher. 194. Die Narren der modernen Cultur. - Die Narren der mittelalterlichen Hoefe entsprechen unseren Feuilletonisten; es ist die selbe Gattung Menschen, halbvernuenftig, witzig, uebertrieben, albern, mitunter nur dazu da, das Pathos der Stimmung durch Einfaelle, durch Geschwaetz zu mildern und den allzu schweren, feierlichen Glockenklang grosser Ereignisse durch Geschrei zu uebertaeuben; ehemals im Dienste der Fuersten und Adeligen, jetzt im Dienste von Parteien (wie in Partei-Sinn und Partei-Zucht ein guter Theil der alten Unterthaenigkeit im Verkehr des Volkes mit dem Fuersten jetzt noch fortlebt). Der ganze moderne Litteratenstand steht aber den Feuilletonisten sehr nahe, es sind die "Narren der modernen Cultur", welche man milder beurtheilt, wenn man sie als nicht ganz zurechnungsfaehig nimmt. Schriftstellerei als Lebensberuf zu betrachten, sollte billigerweise als eine Art Tollheit gelten. 195. Den Griechen nach. - Der Erkenntniss steht es gegenwaertig sehr im Wege, dass alle Worte durch hundertjaehrige Uebertreibung des Gefuehls dunstig und aufgeblasen geworden sind. Die hoehere Stufe der Cultur, welche sich unter die Herrschaft (wenn auch nicht unter die Tyrannei) der Erkenntniss stellt, hat eine grosse Ernuechterung des Gefuehls und eine starke Concentration aller Worte vonnoethen; worin uns die Griechen im Zeitalter des Demosthenes vorangegangen sind. Das Ueberspannte bezeichnet alle modernen Schriften; und selbst wenn sie einfach geschrieben sind, so werden die Worte in denselben noch zu excentrisch gefuehlt. Strenge Ueberlegung, Gedraengtheit, Kaelte, Schlichtheit, selbst absichtlich bis an die Graenze hinab, ueberhaupt An-sich-halten des Gefuehls und Schweigsamkeit, - das kann allein helfen. - Uebrigens ist diese kalte Schreib- und Gefuehlsart, als Gegensatz, jetzt sehr reizvoll: und darin liegt freilich eine neue Gefahr. Denn die scharfe Kaelte ist so gut ein Reizmittel, als ein hoher Waermegrad. 196. Gute Erzaehler schlechte Erklaerer. - Bei guten Erzaehlern steht oft eine bewunderungswuerdige psychologische Sicherheit und Consequenz, soweit diese in den Handlungen ihrer Personen hervortreten kann, in einem geradezu laecherlichen Gegensatz zu der Ungeuebtheit ihres psychologischen Denkens: so dass ihre Cultur in dem einen Augenblicke ebenso ausgezeichnet hoch, als im naechsten bedauerlich tief erscheint. Es kommt gar zu haeufig vor, dass sie ihre eigenen Helden und deren Handlungen ersichtlich falsch erklaeren, - es ist daran kein Zweifel, so unwahrscheinlich die Sache klingt. Vielleicht hat der groesste Clavierspieler nur wenig ueber die technischen Bedingungen und die specielle Tugend, Untugend, Nutzbarkeit und Erziehbarkeit jedes Fingers (daktylische Ethik) nachgedacht, und macht grobe Fehler, wenn er von solchen Dingen redet. 197. Die Schriften von Bekannten und ihre Leser. - Wir lesen Schriften von Bekannten (Freunden und Feinden) doppelt, insofern fortwaehrend unsere Erkenntniss daneben fluestert: "das ist von ihm, ein Merkmal seines inneren Wesens, seiner Erlebnisse, seiner Begabung", und wiederum eine andere Art Erkenntniss dabei festzustellen sucht, was der Ertrag jenes Werkes an sich ist, welche Schaetzung es ueberhaupt, abgesehen von seinem Verfasser, verdient, welche Bereicherung des Wissens es mit sich bringt. Diese beiden Arten des Lesens und Erwaegens stoeren sich, wie das sich von selbst versteht, gegenseitig. Auch eine Unterhaltung mit einem Freunde wird dann erst gute Fruechte der Erkenntniss zeitigen, wenn Beide endlich nur noch an die Sache denken, und vergessen, dass sie Freunde sind. 198. Rhythmische Opfer. - Gute Schriftsteller veraendern den Rhythmus mancher Periode blos desshalb, weil sie den gewoehnlichen Lesern nicht die Faehigkeit zuerkennen, den Tact, welchem die Periode in ihrer ersten Fassung folgte, zu begreifen: desshalb erleichtern sie es ihnen, indem sie bekannteren Rhythmen den Vorzug geben. - Diese Ruecksicht auf das rhythmische Unvermoegen der jetzigen Leser hat schon manche Seufzer entlockt, denn ihr ist viel schon zum Opfer gefallen. - Ob es guten Musikern nicht aehnlich ergeht? 199. Das Unvollstaendige als kuenstlerisches Reizmittel. - Das Unvollstaendige ist oft wirksamer als die Vollstaendigkeit, so namentlich in der Lobrede: fuer ihre Zwecke braucht man gerade eine anreizende Unvollstaendigkeit, als ein irrationales Element, welches der Phantasie des Hoerers ein Meer vorspiegelt und gleich einem Nebel die gegenueberliegende Kueste, also die Begraenztheit des zu lobenden Gegenstandes, verdeckt. Wenn man die bekannten Verdienste eines Menschen erwaehnt und dabei ausfuehrlich und breit ist, so laesst diess immer den Argwohn aufkommen, es seien die einzigen Verdienste. Der vollstaendig Lobende stellt sich ueber den Gelobten, er scheint ihn zu uebersehen. Desshalb wirkt das Vollstaendige abschwaechend. 200. Vorsicht im Schreiben und Lehren. - Wer erst geschrieben hat und die Leidenschaft des Schreibens in sich fuehlt, lernt fast aus Allem, was er treibt und erlebt, nur Das noch heraus, was schriftstellerisch mittheilbar ist. Er denkt nicht mehr an sich, sondern an den Schriftsteller und sein Publicum; er will die Einsicht, aber nicht zum eigenen Gebrauche. Wer Lehrer ist, ist meistens unfaehig, etwas Eigenes noch fuer sein eigenes Wohl zu treiben, er denkt immer an das Wohl seiner Schueler und jede Erkenntniss erfreut ihn nur, so weit er sie lehren kann. Er betrachtet sich zuletzt als einen Durchweg des Wissens und ueberhaupt als Mittel, so dass er den Ernst fuer sich verloren hat. 201. Schlechte Schriftsteller nothwendig. - Es wird immer schlechte Schriftsteller geben muessen, denn sie entsprechen dem Geschmack der unentwickelten, unreifen Altersclassen; diese haben so gut ihr Beduerfniss wie die reifern. Waere das menschliche Leben laenger, so wuerde die Zahl der reif gewordenen Individuen ueberwiegend oder mindestens gleich gross mit der der unreifen ausfallen; so aber sterben bei Weitem die meisten zu jung, das heisst es giebt immer viel mehr unentwickelte Intellecte mit schlechtem Geschmack. Diese begehren ueberdiess, mit der groesseren Heftigkeit der Jugend, nach Befriedigung ihres Beduerfnisses, und sie erzwingen sich schlechte Autoren. 202. Zu nah und zu fern. - Der Leser und der Autor verstehen sich haeufig desshalb nicht, weil der Autor sein Thema zu gut kennt und es beinahe langweilig findet, so dass er sich die Beispiele erlaesst, die er zu Hunderten weiss; der Leser aber ist der Sache fremd und findet sie leicht schlecht begruendet, wenn ihm die Beispiele vorenthalten werden. 203. Eine verschwundene Vorbereitung zur Kunst. - An Allem, was das Gymnasium trieb, war das Werthvollste die Uebung im lateinischen Stil: diese war eben eine Kunstuebung, waehrend alle anderen Beschaeftigungen nur das Wissen zum Zweck hatten. Den deutschen Aufsatz voranzustellen, ist Barbarei, denn wir haben keinen mustergueltigen, an oeffentlicher Beredtsamkeit emporgewachsenen deutschen Stil; will man aber durch den deutschen Aufsatz die Uebung im Denken foerdern, so ist es gewiss besser, wenn man einstweilen von Stil dabei ueberhaupt absieht, also zwischen der Uebung im Denken und der im Darstellen scheidet. Letztere sollte sich auf mannichfache Fassung eines gegebenen Inhaltes beziehen und nicht auf selbstaendiges Erfinden eines Inhaltes. Die blose Darstellung bei gegebenem Inhalte war die Aufgabe des lateinischen Stils, fuer welchen die alten Lehrer eine laengst verloren gegangene Feinheit des Gehoers besassen. Wer ehemals gut in einer modernen Sprache schreiben lernte, verdankte es dieser Uebung (jetzt muss man sich nothgedrungen zu den aelteren Franzosen in die Schule schicken); aber noch mehr: er bekam einen Begriff von der Hoheit und Schwierigkeit der Form und wurde fuer die Kunst ueberhaupt auf dem einzig richtigen Wege vorbereitet, durch Praxis. 204. Dunkles und Ueberhelles neben einander. - Schriftsteller, welche im Allgemeinen ihren Gedanken keine Deutlichkeit zu geben verstehen, werden im Einzelnen mit Vorliebe die staerksten, uebertriebensten Bezeichnungen und Superlative waehlen: dadurch entsteht eine Lichtwirkung, wie bei Fackelbeleuchtung auf verworrenen Waldwegen. 205. Schriftstellerisches Malerthum. - Einen bedeutenden Gegenstand wird man am besten darstellen, wenn man die Farben zum Gemaelde aus dem Gegenstande selber, wie ein Chemiker, nimmt und sie dann wie ein Artist verbraucht: so dass man die Zeichnung aus den Graenzen und Uebergaengen der Farben erwachsen laesst. So bekommt das Gemaelde Etwas von dem hinreissenden Naturelement, welches den Gegenstand selber bedeutend macht. 206. Buecher, welche tanzen lehren. - Es giebt Schriftsteller, welche dadurch, dass sie Unmoegliches als moeglich darstellen und vom Sittlichen und Genialen so reden, als ob beides nur eine Laune, ein Belieben sei, ein Gefuehl von uebermuethiger Freiheit hervorbringen, wie wenn der Mensch sich auf die Fussspitzen stellte und vor innerer Lust durchaus tanzen muesste. 207. Nicht fertig gewordene Gedanken. - Ebenso wie nicht nur das Mannesalter, sondern auch Jugend und Kindheit einen Werth an sich haben und gar nicht nur als Durchgaenge und Bruecken zu schaetzen sind, so haben auch die nicht fertig gewordenen Gedanken ihren Werth. Man muss desshalb einen Dichter nicht mit subtiler Auslegung quaelen und sich an der Unsicherheit seines Horizontes vergnuegen, wie als ob der Weg zu mehreren Gedanken noch offen sei. Man steht an der Schwelle; man wartet wie bei der Ausgrabung eines Schatzes: es ist, als ob ein Gluecksfund von Tiefsinn eben gemacht werden sollte. Der Dichter nimmt Etwas von der Lust des Denkers beim Finden eines Hauptgedankens vorweg und macht uns damit begehrlich, so dass wir nach diesem haschen; der aber gaukelt an unserm Kopf vorueber und zeigt die schoensten Schmetterlingsfluegel - und doch entschluepft er uns. 208. Das Buch fast zum Menschen geworden. - Jeden Schriftsteller ueberrascht es von Neuem, wie das Buch, sobald es sich von ihm geloest hat, ein eigenes Leben fuer sich weiterlebt; es ist ihm zu Muthe, als waere der eine Theil eines Insectes losgetrennt und gienge nun seinen eigenen Weg weiter. Vielleicht vergisst er es fast ganz, vielleicht erhebt er sich ueber die darin niedergelegten Ansichten, vielleicht selbst versteht er es nicht mehr und hat jene Schwingen verloren, auf denen er damals flog, als er jenes Buch aussann: waehrenddem sucht es sich seine Leser, entzuendet Leben, beglueckt, erschreckt, erzeugt neue Werke, wird die Seele von Vorsaetzen und Handlungen - kurz: es lebt wie ein mit Geist und Seele ausgestattetes Wesen und ist doch kein Mensch. - Das gluecklichste Loos hat der Autor gezogen, welcher, als alter Mann, sagen kann, dass Alles, was von lebenzeugenden, kraeftigenden, erhebenden, aufklaerenden Gedanken und Gefuehlen in ihm war, in seinen Schriften noch fortlebe und dass er selber nur noch die graue Asche bedeute, waehrend das Feuer ueberall hin gerettet und weiter getragen sei. - Erwaegt man nun gar, dass jede Handlung eines Menschen, nicht nur ein Buch, auf irgend eine Art Anlass zu anderen Handlungen, Entschluessen, Gedanken wird, dass Alles, was geschieht, unloesbar fest sich mit Allem, was geschehen wird, verknotet, so erkennt man die wirkliche Unsterblichkeit, die es giebt, die der Bewegung: was einmal bewegt hat, ist in dem Gesammtverbande alles Seienden, wie in einem Bernstein ein Insect, eingeschlossen und verewigt. 209. Freude im Alter. - Der Denker und ebenso der Kuenstler, welcher sein besseres Selbst in Werke gefluechtet hat, empfindet eine fast boshafte Freude, wenn er sieht, wie sein Leib und Geist langsam von der Zeit angebrochen und zerstoert werden, als ob er aus einem Winkel einen Dieb an seinem Geldschranke arbeiten saehe, waehrend er weiss, dass dieser leer ist und alle Schaetze gerettet sind. 210. Ruhige Fruchtbarkeit. - Die geborenen Aristokraten des Geistes sind nicht zu eifrig; ihre Schoepfungen erscheinen und fallen an einem ruhigen Herbstabend vom Baume, ohne hastig begehrt, gefoerdert, durch Neues verdraengt zu werden. Das unablaessige Schaffenwollen ist gemein und zeigt Eifersucht, Neid, Ehrgeiz an. Wenn man Etwas ist, so braucht man eigentlich Nichts zu machen, - und thut doch sehr viel. Es giebt ueber dem "productiven" Menschen noch eine hoehere Gattung. 211. Achilles und Homer. - Es ist immer wie zwischen Achilles und Homer: der Eine hat das Erlebniss, die Empfindung, der Andere beschreibt sie. Ein wirklicher Schriftsteller giebt dem Affect und der Erfahrung Anderer nur Worte, er ist Kuenstler, um aus dem Wenigen, was er empfunden hat, viel zu errathen. Kuenstler sind keineswegs die Menschen der grossen Leidenschaft, aber haeufig geben sie sich als solche in der unbewussten Empfindung, dass man ihrer gemalten Leidenschaft mehr traut, wenn ihr eigenes Leben fuer ihre Erfahrung auf diesem Gebiete spricht. Man braucht sich ja nur gehen zu lassen, sich nicht zu beherrschen, seinem Zorn, seiner Begierde offenen Spielraum zu goennen, sofort schreit alle Welt: wie leidenschaftlich ist er! Aber mit der tiefwuehlenden, das Individuum anzehrenden und oft verschlingenden Leidenschaft hat es Etwas auf sich: wer sie erlebt, beschreibt sie gewiss nicht in Dramen, Toenen oder Romanen. Kuenstler sind haeufig zuegellose Individuen, soweit sie eben nicht Kuenstler sind: aber das ist etwas Anderes. 212. Alte Zweifel ueber die Wirkung der Kunst. - Sollten Mitleid und Furcht wirklich, wie Aristoteles will, durch die Tragoedie entladen werden, so dass der Zuhoerer kaelter und ruhiger nach Hause zurueckkehre? Sollten Geistergeschichten weniger furchtsam und aberglaeubisch machen? Es ist bei einigen physischen Vorgaengen, zum Beispiel bei dem Liebesgenuss, wahr, dass mit der Befriedigung eines Beduerfnisses eine Linderung und zeitweilige Herabstimmung des Triebes eintritt. Aber die Furcht und das Mitleid sind nicht in diesem Sinne Beduerfnisse bestimmter Organe, welche erleichtert werden wollen. Und auf die Dauer wird selbst jeder Trieb durch Uebung in seiner Befriedigung gestaerkt, trotz jener periodischen Linderungen. Es waere moeglich, dass Mitleid und Furcht in jedem einzelnen Falle durch die Tragoedie gemildert und entladen wuerden: trotzdem koennten sie im Ganzen durch die tragische Einwirkung ueberhaupt groesser werden, und Plato behielte doch Recht, wenn er meint, dass man durch die Tragoedie insgesammt aengstlicher und ruehrseliger werde. Der tragische Dichter selbst wuerde dann nothwendig eine duestere, furchtvolle Weltbetrachtung und eine weiche, reizbare, thraenensuechtige Seele bekommen, desgleichen wuerde es zu Plato's Meinung stimmen, wenn die tragischen Dichter und ebenso die ganzen Stadtgemeinden, welche sich besonders an ihnen ergoetzen, zu immer groesserer Maass- und Zuegellosigkeit ausarten. - Aber welches Recht hat unsere Zeit ueberhaupt, auf die grosse Frage Plato's nach dem moralischen Einfluss der Kunst eine Antwort zu geben? Haetten wir selbst die Kunst, - wo haben wir den Einfluss, irgend einen Einfluss der Kunst? 213. Freude am Unsinn. - Wie kann der Mensch Freude am Unsinn haben? So weit naemlich auf der Welt gelacht wird, ist diess der Fall; ja man kann sagen, fast ueberall wo es Glueck giebt, giebt es Freude am Unsinn. Das Umwerfen der Erfahrung in's Gegentheil, des Zweckmaessigen in's Zwecklose, des Nothwendigen in's Beliebige, doch so, dass dieser Vorgang keinen Schaden macht und nur einmal aus Uebermuth vorgestellt wird, ergoetzt, denn es befreit uns momentan von dem Zwange des Nothwendigen, Zweckmaessigen und Erfahrungsgemaessen, in denen wir fuer gewoehnlich unsere unerbittlichen Herren sehen; wir spielen und lachen dann, wenn das Erwartete (das gewoehnlich bange macht und spannt) sich, ohne zu schaedigen, entladet. Es ist die Freude der Sclaven am Saturnalienfeste. 214. Veredelung der Wirklichkeit. - Dadurch, dass die Menschen in dem aphrodisischen Triebe eine Gottheit sahen und ihn mit anbetender Dankbarkeit in sich wirkend fuehlten, ist im Verlaufe der Zeit jener Affect mit hoeheren Vorstellungsreihen durchzogen und dadurch thatsaechlich sehr veredelt worden. So haben sich einige Voelker, vermoege dieser Kunst des Idealisirens, aus Krankheiten grosse Huelfsmaechte der Cultur geschaffen: zum Beispiel die Griechen, welche in frueheren Jahrhunderten an grossen Nerven-Epidemien (in der Art der Epilepsie und des Veitstanzes) litten und daraus den herrlichen Typus der Bacchantin herausgebildet haben. - Die Griechen besassen naemlich Nichts weniger, als eine vierschroetige Gesundheit; - ihr Geheimniss war, auch die Krankheit, wenn sie nur Macht hatte, als Gott zu verehren. 215. Musik. - Die Musik ist nicht an und fuer sich so bedeutungsvoll fuer unser Inneres, so tief erregend, dass sie als unmittelbare Sprache des Gefuehls gelten duerfte; sondern ihre uralte Verbindung mit der Poesie hat so viel Symbolik in die rhythmische Bewegung, in Staerke und Schwaeche des Tones gelegt, dass wir jetzt waehnen, sie spraeche direct zu in Inneren und kaeme aus dem Inneren. Die dramatische Musik ist erst moeglich, wenn sich die Tonkunst ein ungeheures Bereich symbolischer Mittel erobert hat, durch Lied, Oper und hundertfaeltige Versuche der Tonmalerei. Die "absolute Musik" ist entweder Form an sich, im rohen Zustand der Musik, wo das Erklingen in Zeitmaass und verschiedener Staerke ueberhaupt Freude macht, oder die ohne Poesie schon zum Verstaendniss redende Symbolik der Formen, nachdem in langer Entwickelung beide Kuenste verbunden waren und endlich die musicalische Form ganz mit Begriffs- und Gefuehlsfaeden durchsponnen ist. Menschen, welche in der Entwickelung der Musik zurueckgeblieben sind, koennen das selbe Tonstueck rein formalistisch empfinden, wo die Fortgeschrittenen Alles symbolisch verstehen. An sich ist keine Musik tief und bedeutungsvoll, sie spricht nicht vom "Willen", vom "Dinge an sich"; das konnte der Intellect erst in einem Zeitalter waehnen, welches den ganzen Umfang des inneren Lebens fuer die musicalische Symbolik erobert hatte. Der Intellect selber hat diese Bedeutsamkeit erst in den Klang hineingelegt, wie er in die Verhaeltnisse von Linien und Massen bei der Architektur ebenfalls Bedeutsamkeit gelegt hat, welche aber an sich den mechanischen Gesetzen ganz fremd ist. 216. Gebaerde und Sprache. - Aelter als die Sprache ist das Nachmachen von Gebaerden, welches unwillkuerlich vor sich geht und jetzt noch, bei einer allgemeinen Zurueckdraengung der Gebaerdensprache und gebildeten Beherrschung der Muskeln, so stark ist, dass wir ein bewegtes Gesicht nicht ohne Innervation unseres Gesichts ansehen koennen (man kann beobachten, dass fingirtes Gaehnen bei Einem, der es sieht, natuerliches Gaehnen hervorruft). Die nachgeahmte Gebaerde leitete Den, der nachahmte, zu der Empfindung zurueck, welche sie im Gesicht oder Koerper des Nachgeahmten ausdrueckte. So lernte man sich verstehen: so lernt noch das Kind die Mutter verstehen. Im Allgemeinen moegen schmerzhafte Empfindungen wohl auch durch Gebaerden ausgedrueckt worden sein, welche Schmerz ihrerseits verursachen (zum Beispiel durch Haar ausraufen, die-Brust-schlagen, gewaltsame Verzerrungen und Anspannungen der Gesichtsmuskeln). Umgekehrt: Gebaerden der Lust waren selber lustvoll und eigneten sich dadurch leicht zum Mittheilen des Verstaendnisses (Lachen als Aeusserung des Gekitzeltwerdens, welches lustvoll ist, diente wiederum zum Ausdruck anderer lustvoller Empfindungen). - Sobald man sich in Gebaerden verstand, konnte wiederum eine Symbolik der Gebaerde entstehen: ich meine, man konnte ueber eine Tonzeichensprache sich verstaendigen, so zwar, dass man zuerst Ton und Gebaerde (zu der er symbolisch hinzutrat), spaeter nur den Ton hervorbrachte. - Es scheint sich da in frueher Zeit das Selbe oftmals ereignet zu haben, was jetzt vor unseren Augen und Ohren in der Entwickelung der Musik, namentlich der dramatischen Musik, vor sich geht: waehrend zuerst die Musik, ohne erklaerenden Tanz und Mimus (Gebaerdensprache), leeres Geraeusch ist, wird durch lange Gewoehnung an jenes Nebeneinander von Musik und Bewegung das Ohr zur sofortigen Ausdeutung der Tonfiguren eingeschult und kommt endlich auf eine Hoehe des schnellen Verstaendnisses, wo es der sichtbaren Bewegung gar nicht mehr bedarf und den Tondichter ohne dieselbe versteht. Man redet dann von absoluter Musik, das heisst von Musik, in der Alles ohne weitere Beihuelfe sofort symbolisch verstanden wird. 217. Die Entsinnlichung der hoeheren Kunst. - Unsere Ohren sind, vermoege der ausserordentlichen Uebung des Intellects durch die Kunstentwickelung der neuen Musik, immer intellectualer geworden. Desshalb ertragen wir jetzt viel groessere Tonstaerke, viel mehr "Laerm", weil wir viel besser eingeuebt sind, auf die Vernunft in ihm hin zu horchen, als unsere Vorfahren. Thatsaechlich sind nun alle unsere Sinne eben dadurch, dass sie sogleich nach der Vernunft, also nach dem "es bedeutet" und nicht mehr nach dem "es ist" fragen, etwas abgestumpft worden: wie sich eine solche Abstumpfung zum Beispiel in der unbedingten Herrschaft der Temperatur der Toene verraeth; denn jetzt gehoeren Ohren, welche die feineren Unterscheidungen, zum Beispiel zwischen cis und des, noch machen, zu den Ausnahmen. In dieser Hinsicht ist unser Ohr vergroebert worden. Sodann ist die haessliche, den Sinnen urspruenglich feindselige Seite der Welt fuer die Musik erobert worden; ihr Machtbereich, namentlich zum Ausdruck des Erhabenen, Furchtbaren, Geheimnissvollen, hat sich damit erstaunlich erweitert; unsere Musik bringt jetzt Dinge zum Reden, welche frueher keine Zunge hatten. In aehnlicher Weise haben einige Maler das Auge intellectualer gemacht und sind weit ueber Das hinausgegangen, was man frueher Farben- und Formenfreude nannte. Auch hier ist die urspruenglich als haesslich geltende Seite der Welt vom kuenstlerischen Verstande erobert worden. - Was ist von alledem die Consequenz? je gedankenfaehiger Auge und Ohr werden, um so mehr kommen sie an die Graenze, wo sie unsinnlich werden: die Freude wird in's Gehirn verlegt, die Sinnesorgane selbst werden stumpf und schwach, das Symbolische tritt immer mehr an Stelle des Seienden, - und so gelangen wir auf diesem Wege so sicher zur Barbarei, wie auf irgend einem anderen. Einstweilen heisst es noch: die Welt ist haesslicher als je, aber sie bedeutet eine schoenere Welt als je gewesen. Aber je mehr der Ambraduft der Bedeutung sich zerstreut und verfluechtigt, um so seltener werden Die, welche ihn noch wahrnehmen: und die Uebrigen bleiben endlich bei dem Haesslichen stehen und suchen es direct zu geniessen, was ihnen aber immer misslingen muss. So giebt es in Deutschland eine doppelte Stroemung der musicalischen Entwickelung: hier eine Schaar von Zehntausend mit immer hoeheren, zarteren Anspruechen und immer mehr nach dem "es bedeutet" hinhoerend, und dort die ungeheuere Ueberzahl, welche alljaehrlich immer unfaehiger wird, das Bedeutende auch in der Form der sinnlichen Haesslichkeit zu verstehen und desshalb nach dem an sich Haesslichen und Ekelhaften, das heisst dem niedrig Sinnlichen, in der Musik mit immer mehr Behagen greifen lernt. 218. Der Stein ist mehr Stein als frueher. - Wir verstehen im Allgemeinen Architektur nicht mehr, wenigstens lange nicht in der Weise, wie wir Musik verstehen. Wir sind aus der Symbolik der Linien und Figuren herausgewachsen, wie wir der Klangwirkungen der Rhetorik entwoehnt sind, und haben diese Art von Muttermilch der Bildung nicht mehr vom ersten Augenblick unseres Lebens an eingesogen. An einem griechischen oder christlichen Gebaeude bedeutete urspruenglich Alles Etwas, und zwar in Hinsicht auf eine hoehere Ordnung der Dinge: diese Stimmung einer unausschoepflichen Bedeutsamkeit lag um das Gebaeude gleich einem zauberhaften Schleier. Schoenheit kam nur nebenbei in das System hinein, ohne die Grundempfindung des Unheimlich-Erhabenen, des durch Goetternaehe und Magie Geweihten, wesentlich zu beeintraechtigen; Schoenheit milderte hoechstens das Grauen, - aber dieses Grauen war ueberall die Voraussetzung. - Was ist uns jetzt die Schoenheit eines Gebaeudes? Das Selbe wie das schoene Gesicht einer geistlosen Frau: etwas Maskenhaftes. 219. Religioese Herkunft der neueren Musik. - Die seelenvolle Musik entsteht in dem wiederhergestellten Katholicismus nach dem tridentinischen Concil, durch Palestrina, welcher dem neu erwachten innigen und tief bewegten Geiste zum Klange verhalf; spaeter, mit Bach, auch im Protestantismus, soweit dieser durch die Pietisten vertieft und von seinem urspruenglich dogmatischen Grundcharakter losgebunden worden war. Voraussetzung und nothwendige Vorstufe fuer beide Entstehungen ist die Befassung mit Musik, wie sie dem Zeitalter der Renaissance und Vor-Renaissance zu eigen war, namentlich jene gelehrte Beschaeftigung mit Musik, jene im Grunde wissenschaftliche Lust an den Kunststuecken der Harmonik und Stimmfuehrung. Andererseits musste auch die Oper vorhergegangen sein: in welcher der Laie seinen Protest gegen eine zu gelehrt gewordene kalte Musik zu erkennen gab und der Polyhymnia wieder eine Seele schenken wollte. - Ohne jene tief religioese Umstimmung, ohne das Ausklingen des innerlichst-erregten Gemuethes waere die Musik gelehrt oder opernhaft geblieben; der Geist der Gegenreformation ist der Geist der modernen Musik (denn jener Pietismus in Bach's Musik ist auch eine Art Gegenreformation). So tief sind wir dem religioesen Leben verschuldet. - Die Musik war die Gegenrenaissance im Gebiete der Kunst, zu ihr gehoert die spaetere Malerei des Murillo, zu ihr vielleicht auch der Barockstil: mehr jedenfalls als die Architektur der Renaissance oder des Alterthums. Und noch jetzt duerfte man fragen: wenn unsere neuere Musik die Steine bewegen koennte, wuerde sie diese zu einer antiken Architektur zusammensetzen? Ich zweifle sehr. Denn Das, was in dieser Musik regiert, der Affect, die Lust an erhoehten, weit gespannten Stimmungen, das Lebendig-werden-wollen um jeden Preis, der rasche Wechsel der Empfindung, die starke Reliefwirkung in Licht und Schatten, die Nebeneinanderstellung der Ekstase und des Naiven, - das hat Alles schon einmal in den bildenden Kuensten regiert und neue Stilgesetze geschaffen: - es war aber weder im Alterthum noch in der Zeit der Renaissance. 220. Das Jenseits in der Kunst. - Nicht ohne tiefen Schmerz gesteht man sich ein, dass die Kuenstler aller Zeiten in ihrem hoechsten Aufschwunge gerade jene Vorstellungen zu einer himmlischen Verklaerung hinaufgetragen haben, welche wir jetzt als falsch erkennen: sie sind die Verherrlicher der religioesen und philosophischen Irrthuemer der Menschheit, und sie haetten diess nicht sein koennen ohne den Glauben an die absolute Wahrheit derselben. Nimmt nun der Glaube an eine solche Wahrheit ueberhaupt ab, verblassen die Regenbogenfarben um die aeussersten Enden des menschlichen Erkennens und Waehnens: so kann jene Gattung von Kunst nie wieder aufbluehen, welche, wie die divina commedia, die Bilder Rafael's, die Fresken Michelangelo's, die gothischen Muenster, nicht nur eine kosmische, sondern auch eine metaphysische Bedeutung der Kunstobjecte voraussetzt. Es wird eine ruehrende Sage daraus werden, dass es eine solche Kunst, einen solchen Kuenstlerglauben gegeben habe. 221. Die Revolution in der Poesie. - Der strenge Zwang, welchen sich die franzoesischen Dramatiker auferlegten, in Hinsicht auf Einheit der Handlung, des Ortes und der Zeit, auf Stil, Vers- und Satzbau, Auswahl der Worte und Gedanken, war eine so wichtige Schule, wie die des Contrapuncts und der Fuge in der Entwickelung der modernen Musik oder wie die Gorgianischen Figuren in der griechischen Beredtsamkeit. Sich so zu binden, kann absurd erscheinen; trotzdem giebt es kein anderes Mittel, um aus dem Naturalisiren herauszukommen, als sich zuerst auf das allerstaerkste (vielleicht allerwillkuerlichste) zu beschraenken. Man lernt so allmaehlich mit Grazie selbst auf den schmalen Stegen schreiten, welche schwindelnde Abgruende ueberbruecken, und bringt die hoechste Geschmeidigkeit der Bewegung als Ausbeute mit heim: wie die Geschichte der Musik vor den Augen aller Jetztlebenden beweist. Hier sieht man, wie Schritt vor Schritt die Fesseln lockerer werden, bis sie endlich ganz abgeworfen scheinen koennen: dieser Schein ist das hoechste Ergebniss einer nothwendigen Entwickelung in der Kunst. In der modernen Dichtkunst gab es keine so glueckliche allmaehliche Herauswickelung aus den selbstgelegten Fesseln. Lessing machte die franzoesische Form, das heisst die einzige moderne Kunstform, zum Gespoett in Deutschland und verwies auf Shakespeare, und so verlor man die Stetigkeit jener Entfesselung und machte einen Sprung in den Naturalismus - das heisst in die Anfaenge der Kunst zurueck. Aus ihm versuchte sich Goethe zu retten, indem er sich immer von Neuem wieder auf verschiedene Art zu binden wusste; aber auch der Begabteste bringt es nur zu einem fortwaehrenden Experimentiren, wenn der Faden der Entwickelung einmal abgerissen ist. Schiller verdankt die ungefaehre Sicherheit seiner Form dem unwillkuerlich verehrten, wenn auch verleugneten Vorbilde der franzoesischen Tragoedie und hielt sich ziemlich unabhaengig von Lessing (dessen dramatische Versuche er bekanntlich ablehnte). Den Franzosen selber fehlten nach Voltaire auf einmal die grossen Talente, welche die Entwickelung der Tragoedie aus dem Zwange zu jenem Scheine der Freiheit fortgefuehrt haetten; sie machten spaeter nach deutschem Vorbilde auch den Sprung in eine Art von Rousseau'schem Naturzustand der Kunst und experimentirten. Man lese nur von Zeit zu Zeit Voltaire's Mahomet, um sich klar vor die Seele zu stellen, was durch jenen Abbruch der Tradition ein fuer alle Mal der europaeischen Cultur verloren gegangen ist. Voltaire war der letzte der grossen Dramatiker, welcher seine vielgestaltige, auch den groessten tragischen Gewitterstuermen gewachsene Seele durch griechisches Maass baendigte, - er vermochte Das, was noch kein Deutscher vermochte, weil die Natur des Franzosen der griechischen viel verwandter ist, als die Natur des Deutschen -; wie er auch der letzte grosse Schriftsteller war, der in der Behandlung der Prosa-Rede griechisches Ohr, griechische Kuenstler-Gewissenhaftigkeit, griechische Schlichtheit und Anmuth hatte; ja wie er einer der letzten Menschen gewesen ist, welche die hoechste Freiheit des Geistes und eine schlechterdings unrevolutionaere Gesinnung in sich vereinigen koennen, ohne inconsequent und feige zu sein. Seitdem ist der moderne Geist mit seiner Unruhe, seinem Hass gegen Maass und Schranke, auf allen Gebieten zur Herrschaft gekommen, zuerst entzuegelt durch das Fieber der Revolution und dann wieder sich Zuegel anlegend, wenn ihn Angst und Grauen vor sich selber anwandelte, - aber die Zuegel der Logik, nicht mehr des kuenstlerischen Maasses. Zwar geniessen wir durch jene Entfesselung eine Zeit lang die Poesien aller Voelker, alles an verborgenen Stellen Aufgewachsene, Urwuechsige, Wildbluehende, Wunderlich-Schoene und Riesenhaft-Unregelmaessige, vom Volksliede an bis zum "grossen Barbaren" Shakespeare hinauf; wir schmecken die Freuden der Localfarbe und des Zeitcostuems, die allen kuenstlerischen Voelkern bisher fremd waren; wir benutzen reichlich die "barbarischen Avantagen" unserer Zeit, welche Goethe gegen Schiller geltend machte, um die Formlosigkeit seines Faust in das guenstigste Licht zu stellen. Aber auf wie lange noch? Die hereinbrechende Fluth von Poesien aller Stile aller Voelker muss ja allmaehlich das Erdreich hinwegschwemmen, auf dem ein stilles verborgenes Wachsthum noch moeglich gewesen waere; alle Dichter muessen ja experimentirende Nachahmer, wagehalsige Copisten werden, mag ihre Kraft von Anbeginn noch so gross sein; das Publicum endlich, welches verlernt hat, in der Baendigung der darstellenden Kraft, in der organisirenden Bewaeltigung aller Kunstmittel die eigentlich kuenstlerische That zu sehen, muss immer mehr die Kraft um der Kraft willen, die Farbe um der Farbe willen, den Gedanken um des Gedankens willen, ja die Inspiration um der Inspiration willen schaetzen, es wird demgemaess die Elemente und Bedingungen des Kunstwerks gar nicht, wenn nicht isolirt, geniessen und zu guterletzt die natuerliche Forderung stellen, dass der Kuenstler isolirt sie ihm auch darreichen muesse. Ja, man hat die "unvernuenftigen" Fesseln der franzoesisch-griechischen Kunst abgeworfen, aber unvermerkt sich daran gewoehnt, alle Fesseln, alle Beschraenkung unvernuenftig zu finden; - und so bewegt sich die Kunst ihrer Aufloesung entgegen und streift dabei - was freilich hoechst belehrend ist - alle Phasen ihrer Anfaenge, ihrer Kindheit, ihrer Unvollkommenheit, ihrer einstmaligen Wagnisse und Ausschreitungen: sie interpretirt, im Zu-Grunde-gehen, ihre Entstehung, ihr Werden. Einer der Grossen, auf dessen Instinct man sich wohl verlassen kann und dessen Theorie Nichts weiter, als ein dreissig Jahre Mehr von Praxis fehlte, - Lord Byron hat einmal ausgesprochen: "Was die Poesie im Allgemeinen anlangt, so bin ich, je mehr ich darueber nachdenke, immer fester der Ueberzeugung, dass wir allesammt auf dem falschen Wege sind, Einer wie der Andere. Wir folgen Alle einem innerlich falschen revolutionaeren System, - unsere oder die naechste Generation wird noch zu der selben Ueberzeugung gelangen." Es ist diess der selbe Byron, welcher sagt: "Ich betrachte Shakespeare als das schlechteste Vorbild, wenn auch als den ausserordentlichsten Dichter." Und sagt im Grunde Goethe's gereifte kuenstlerische Einsicht aus der zweiten Haelfte seines Lebens nicht genau das Selbe? - jene Einsicht, mit welcher er einen solchen Vorsprung ueber eine Reihe von Generationen gewann, dass man im Grossen und Ganzen behaupten kann, Goethe habe noch gar nicht gewirkt und seine Zeit werde erst kommen? Gerade weil seine Natur ihn lange Zeit in der Bahn der poetischen Revolution festhielt, gerade weil er am gruendlichsten auskostete, was Alles indirect durch jenen Abbruch der Tradition an neuen Funden, Aussichten, Huelfsmitteln entdeckt und gleichsam unter den Ruinen der Kunst ausgegraben worden war, so wiegt seine spaetere Umwandelung und Bekehrung so viel: sie bedeutet, dass er das tiefste Verlangen empfand, die Tradition der Kunst wieder zu gewinnen und den stehen gebliebenen Truemmern und Saeulengaengen des Tempels mit der Phantasie des Auges wenigstens die alte Vollkommenheit und Ganzheit anzudichten, wenn die Kraft des Armes sich viel zu schwach erweisen sollte, zu bauen, wo so ungeheure Gewalten schon zum Zerstoeren noethig waren. So lebte er in der Kunst als in der Erinnerung an die wahre Kunst: sein Dichten war zum Huelfsmittel der Erinnerung, des Verstaendnisses alter, laengst entrueckter Kunstzeiten geworden. Seine Forderungen waren zwar in Hinsicht auf die Kraft des neuen Zeitalters unerfuellbar; der Schmerz darueber wurde aber reichlich durch die Freude aufgewogen, dass sie einmal erfuellt gewesen sind und dass auch wir noch an dieser Erfuellung theilnehmen koennen. Nicht Individuen, sondern mehr oder weniger idealische Masken; keine Wirklichkeit, sondern eine allegorische Allgemeinheit; Zeitcharaktere, Localfarben zum fast Unsichtbaren abgedaempft und mythisch gemacht; das gegenwaertige Empfinden und die Probleme der gegenwaertigen Gesellschaft auf die einfachsten Formen zusammengedraengt, ihrer reizenden, spannenden, pathologischen Eigenschaften entkleidet, in jedem andern als dem artistischen Sinne wirkungslos gemacht; keine neuen Stoffe und Charaktere, sondern die alten, laengst gewohnten in immerfort waehrender Neubeseelung und Umbildung: das ist die Kunst, so wie sie Goethe spaeter verstand, so wie sie die Griechen, ja auch die Franzosen uebten. 222. Was von der Kunst uebrig bleibt. - Es ist wahr, bei gewissen metaphysischen Voraussetzungen hat die Kunst viel groesseren Werth, zum Beispiel wenn der Glaube gilt, dass der Charakter unveraenderlich sei und das Wesen der Welt sich in allen Charakteren und Handlungen fortwaehrend ausspreche: da wird das Werk des Kuenstlers zum Bild des ewig Beharrenden, waehrend fuer unsere Auffassung der Kuenstler seinem Bilde immer nur Gueltigkeit fuer eine Zeit geben kann, weil der Mensch im Ganzen geworden und wandelbar und selbst der einzelne Mensch nichts Festes und Beharrendes ist. - Ebenso steht es bei einer andern metaphysischen Voraussetzung: gesetzt, dass unsere sichtbare Welt nur Erscheinung waere, wie es die Metaphysiker annehmen, so kaeme die Kunst der wirklichen Welt ziemlich nahe zu stehen: denn zwischen der Erscheinungswelt und der Traumbild-Welt des Kuenstlers gaebe es dann gar zu viel Aehnliches; und die uebrigbleibende Verschiedenheit stellte sogar die Bedeutung der Kunst hoeher, als die Bedeutung der Natur, weil die Kunst das Gleichfoermige, die Typen und Vorbilder der Natur darstellte. - Jene Voraussetzungen sind aber falsch: welche Stellung bleibt nach dieser Erkenntniss jetzt noch der Kunst? Vor Allem hat sie durch Jahrtausende hindurch gelehrt, mit Interesse und Lust auf das Leben in jeder Gestalt zu sehen und unsere Empfindung so weit zu bringen, dass wir endlich rufen: "wie es auch sei, das Leben, es ist gut." Diese Lehre der Kunst, Lust am Dasein zu haben und das Menschenleben wie ein Stueck Natur, ohne zu heftige Mitbewegung, als Gegenstand gesetzmaessiger Entwickelung anzusehen, - diese Lehre ist in uns hineingewachsen, sie kommt jetzt als allgewaltiges Beduerfniss des Erkennens wieder an's Licht. Man koennte die Kunst aufgeben, wuerde damit aber nicht die von ihr gelernte Faehigkeit einbuessen: ebenso wie man die Religion aufgegeben hat, nicht aber die durch sie erworbenen Gemueths-Steigerungen und Erhebungen. Wie die bildende Kunst und die Musik der Maassstab des durch die Religion wirklich erworbenen und hinzugewonnenen Gefuehls-Reichthumes ist, so wuerde nach einem Verschwinden der Kunst die von ihr gepflanzte Intensitaet und Vielartigkeit der Lebensfreude immer noch Befriedigung fordern. Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwickelung des kuenstlerischen. 223. Abendroethe der Kunst. - Wie man sich im Alter der Jugend erinnert und Gedaechtnissfeste feiert, so steht bald die Menschheit zur Kunst im Verhaeltniss einer ruehrenden Erinnerung an die Freuden der Jugend. Vielleicht dass niemals frueher die Kunst so tief und seelenvoll erfasst wurde, wie jetzt, wo die Magie des Todes dieselbe zu umspielen scheint. Man denke an jene griechische Stadt in Unteritalien, welche an Einem Tage des Jahres noch ihre griechischen Feste feierte, unter Wehmuth und Thraenen darueber, dass immer mehr die auslaendische Barbarei ueber ihre mitgebrachten Sitten triumphire; niemals hat man wohl das Hellenische so genossen, nirgendswo diesen goldenen Nektar mit solcher Wollust geschluerft, als unter diesen absterbenden Hellenen. Den Kuenstler wird man bald als ein herrliches Ueberbleibsel ansehen und ihm, wie einem wunderbaren Fremden, an dessen Kraft und Schoenheit das Glueck frueherer Zeiten hieng, Ehren erweisen, wie wir sie nicht leicht Unseresgleichen goennen. Das Beste an uns ist vielleicht aus Empfindungen frueherer Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt auf unmittelbarem Wege kaum mehr kommen koennen; die Sonne ist schon hinuntergegangen, aber der Himmel unseres Lebens glueht und leuchtet noch von ihr her, ob wir sie schon nicht mehr sehen. Fuenftes Hauptstueck. Anzeichen hoeherer und niederer Cultur. 224. Veredelung durch Entartung. - Aus der Geschichte ist zu lernen, dass der Stamm eines Volkes sich am besten erhaelt, in welchem die meisten Menschen lebendigen Gemeinsinn in Folge der Gleichheit ihrer gewohnten und undiscutirbaren Grundsaetze, also in Folge ihres gemeinsamen Glaubens haben. Hier erstarkt die gute, tuechtige Sitte, hier wird die Unterordnung des Individuums gelernt und dem Charakter Festigkeit schon als Angebinde gegeben und nachher noch anerzogen. Die Gefahr dieser starken, auf gleichartige, charaktervolle Individuen gegruendeten Gemeinwesen ist die allmaehlich durch Vererbung gesteigerte Verdummung, welche nun einmal aller Stabilitaet wie ihr Schatten folgt. Es sind die ungebundneren, viel unsichereren und moralisch schwaecheren Individuen, an denen das geistige Fortschreiten in solchen Gemeinwesen haengt: es sind die Menschen, welche Neues und ueberhaupt Vielerlei versuchen. Unzaehlige dieser Art gehen, ihrer Schwaeche wegen, ohne sehr ersichtliche Wirkung zu Grunde; aber im Allgemeinen, zumal wenn sie Nachkommen haben, lockern sie auf und bringen von Zeit zu Zeit dem stabilen Elemente eines Gemeinwesens eine Wunde bei. Gerade an dieser wunden und schwach gewordenen Stelle wird dem gesammten Wesen etwas Neues gleichsam inoculirt; seine Kraft im Ganzen muss aber stark genug sein, um dieses Neue in sein Blut aufzunehmen und sich zu assimiliren. Die abartenden Naturen sind ueberall da von hoechster Bedeutung, wo ein Fortschritt erfolgen soll. Jedem Fortschritt im Grossen muss eine theilweise Schwaechung vorhergehen. Die staerksten Naturen halten den Typus fest, die schwaecheren helfen ihn fortbilden. - Etwas Aehnliches ergiebt sich fuer den einzelnen Menschen; selten ist eine Entartung, eine Verstuemmelung, selbst ein Laster und ueberhaupt eine koerperliche oder sittliche Einbusse ohne einen Vortheil auf einer anderen Seite. Der kraenkere Mensch zum Beispiel wird vielleicht, inmitten eines kriegerischen und unruhigen Stammes, mehr Veranlassung haben, fuer sich zu sein und dadurch ruhiger und weiser zu werden, der Einaeugige wird Ein staerkeres Auge haben, der Blinde wird tiefer in's Innere schauen und jedenfalls schaerfer hoeren. Insofern scheint mir der beruehmte Kampf um's Dasein nicht der einzige Gesichtspunct zu sein, aus dem das Fortschreiten oder Staerkerwerden eines Menschen, einer Rasse erklaert werden kann. Vielmehr muss zweierlei zusammen kommen: einmal die Mehrung der stabilen Kraft durch Bindung der Geister in Glauben und Gemeingefuehl; sodann die Moeglichkeit, zu hoeheren Zielen zu gelangen, dadurch dass entartende Naturen und, in Folge derselben, theilweise Schwaechungen und Verwundungen der stabilen Kraft vorkommen; gerade die schwaechere Natur, als die zartere und freiere, macht alles Fortschreiten ueberhaupt moeglich. Ein Volk, das irgendwo anbroeckelt und schwach wird, aber im Ganzen noch stark und gesund ist, vermag die Infection des Neuen aufzunehmen und sich zum Vortheil einzuverleiben. Bei dem einzelnen Menschen lautet die Aufgabe der Erziehung so: ihn so fest und sicher hinzustellen, dass er als Ganzes gar nicht mehr aus seiner Bahn abgelenkt werden kann. Dann aber hat der Erzieher ihm Wunden beizubringen oder die Wunden, welche das Schicksal ihm schlaegt, zu benutzen, und wenn so der Schmerz und das Beduerfniss entstanden sind, so kann auch in die verwundeten Stellen etwas Neues und Edles inoculirt werden. Seine gesammte Natur wird es in sich hineinnehmen und spaeter, in ihren Fruechten, die Veredelung spueren lassen. - Was den Staat betrifft, so sagt Macchiavelli, dass "die Form der Regierungen von sehr geringer Bedeutung ist, obgleich halbgebildete Leute anders denken. Das grosse Ziel der Staatskunst sollte Dauer sein, welche alles Andere aufwiegt, indem sie weit werthvoller ist, als Freiheit". Nur bei sicher begruendeter und verbuergter groesster Dauer ist stetige Entwickelung und veredelnde Inoculation ueberhaupt moeglich. Freilich wird gewoehnlich die gefaehrliche Genossin aller Dauer, die Autoritaet, sich dagegen wehren. 225. Freigeist ein relativer Begriff. - Man nennt Den einen Freigeist, welcher anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft, Umgebung, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden Zeitansichten erwartet. Er ist die Ausnahme, die gebundenen Geister sind die Regel; diese werfen ihm vor, dass seine freien Grundsaetze ihren Ursprung entweder in der Sucht, aufzufallen, haben oder gar auf freie Handlungen, das heisst auf solche, welche mit der gebundenen Moral unvereinbar sind, schliessen lassen. Bisweilen sagt man auch, diese oder jene freien Grundsaetze seien aus Verschrobenheit und Ueberspanntheit des Kopfes herzuleiten; doch spricht so nur die Bosheit, welche selber an Das nicht glaubt, was sie sagt, aber damit schaden will: denn das Zeugniss fuer die groessere Guete und Schaerfe seines Intellectes ist dem Freigeist gewoehnlich in's Gesicht geschrieben, so lesbar, dass es die gebundenen Geister gut genug verstehen. Aber die beiden andern Ableitungen der Freigeisterei sind redlich gemeint; in der That entstehen auch viele Freigeister auf die eine oder die andere Art. Desshalb koennten aber die Saetze, zu denen sie auf jenen Wegen gelangten, doch wahrer und zuverlaessiger sein, als die der gebundenen Geister. Bei der Erkenntniss der Wahrheit kommt es darauf an, dass man sie hat, nicht darauf, aus welchem Antrieb man sie gesucht, auf welchem Wege man sie gefunden hat. Haben die Freigeister Recht, so haben die gebundenen Geister Unrecht, gleichgueltig, ob die ersteren aus Unmoralitaet zur Wahrheit gekommen sind, die anderen aus Moralitaet bisher an der Unwahrheit festgehalten haben. - Uebrigens gehoert es nicht zum Wesen des Freigeistes, dass er richtigere Ansichten hat, sondern vielmehr, dass er sich von dem Herkoemmlichen geloest hat, sei es mit Glueck oder mit einem Misserfolg. Fuer gewoehnlich wird er aber doch die Wahrheit oder mindestens den Geist der Wahrheitsforschung auf seiner Seite haben: er fordert Gruende, die Anderen Glauben. 226. Herkunft des Glaubens. - Der gebundene Geist nimmt seine Stellung nicht aus Gruenden ein, sondern aus Gewoehnung; er ist zum Beispiel Christ, nicht weil er die Einsicht in die verschiedenen Religionen und die Wahl zwischen ihnen gehabt haette; er ist Englaender, nicht weil er sich fuer England entschieden hat, sondern er fand das Christenthum und das Englaenderthum vor und nahm sie an ohne Gruende, wie jemand, der in einem Weinlande geboren wurde, ein Weintrinker wird. Spaeter, als er Christ und Englaender war, hat er vielleicht auch einige Gruende zu Gunsten seiner Gewoehnung ausfindig gemacht; man mag diese Gruende umwerfen, damit wirft man ihn in seiner ganzen Stellung nicht um. Man noethige zum Beispiel einen gebundenen Geist, seine Gruende gegen die Bigamie vorzubringen, dann wird man erfahren, ob sein heiliger Eifer fuer die Monogamie auf Gruenden oder auf Angewoehnung beruht. Angewoehnung geistiger Grundsaetze ohne Gruende nennt man Glauben. 227. Aus den Folgen auf Grund und Ungrund zurueckgeschlossen. - Alle Staaten und Ordnungen der Gesellschaft: die Staende, die Ehe, die Erziehung, das Recht, alles diess hat seine Kraft und Dauer allein in dem Glauben der gebundenen Geister an sie, - also in der Abwesenheit der Gruende, mindestens in der Abwehr des Fragens nach Gruenden. Das wollen die gebundenen Geister nicht gern zugeben und sie fuehlen wohl, dass es ein Pudendum ist. Das Christenthum, das sehr unschuldig in seinen intellectuellen Einfaellen war, merkte von diesem Pudendum Nichts, forderte Glauben und Nichts als Glauben und wies das Verlangen nach Gruenden mit Leidenschaft ab; es zeigte auf den Erfolg des Glaubens hin: ihr werdet den Vortheil des Glaubens schon spueren, deutete es an, ihr sollt durch ihn selig werden. Thatsaechlich verfaehrt der Staat ebenso und jeder Vater erzieht in gleicher Weise seinen Sohn: halte diess nur fuer wahr, sagt er, du wirst spueren, wie gut diess thut. Diess bedeutet aber, dass aus dem persoenlichen Nutzen, den eine Meinung eintraegt, ihre Wahrheit erwiesen werden soll, die Zutraeglichkeit einer Lehre soll fuer die intellectuelle Sicherheit und Begruendetheit Gewaehr leisten. Es ist diess so, wie wenn der Angeklagte vor Gericht spraeche: mein Vertheidiger sagt die ganze Wahrheit, denn seht nur zu, was aus seiner Rede folgt: ich werde freigesprochen. - Weil die gebundenen Geister ihre Grundsaetze ihres Nutzens wegen haben, so vermuthen sie auch beim Freigeist, dass er mit seinen Ansichten ebenfalls seinen Nutzen suche und nur Das fuer wahr halte, was ihm gerade frommt. Da ihm aber das Entgegengesetzte von dem zu nuetzen scheint, was seinen Landes- oder Standesgenossen nuetzt, so nehmen diese an, dass seine Grundsaetze ihnen gefaehrlich sind; sie sagen oder fuehlen: er darf nicht Recht haben, denn er ist uns schaedlich. 228. Der starke, gute Charakter. - Die Gebundenheit der Ansichten, durch Gewoehnung zum Instinct geworden, fuehrt zu dem, was man Charakterstaerke nennt. Wenn jemand aus wenigen, aber immer aus den gleichen Motiven handelt, so erlangen seine Handlungen eine grosse Energie; stehen diese Handlungen im Einklange mit den Grundsaetzen der gebundenen Geister, so werden sie anerkannt und erzeugen nebenbei in Dem, der sie thut, die Empfindung des guten Gewissens. Wenige Motive, energisches Handeln und gutes Gewissen machen Das aus, was man Charakterstaerke nennt. Dem Charakterstarken fehlt die Kenntniss der vielen Moeglichkeiten und Richtungen des Handelns; sein Intellect ist unfrei, gebunden, weil er ihm in einem gegebenen Falle vielleicht nur zwei Moeglichkeiten zeigt; zwischen diesen muss er jetzt gemaess seiner ganzen Natur mit Nothwendigkeit waehlen, und er thut diess leicht und schnell, weil er nicht zwischen fuenfzig Moeglichkeiten zu waehlen hat. Die erziehende Umgebung will jeden Menschen unfrei machen, indem sie ihm immer die geringste Zahl von Moeglichkeiten vor Augen stellt. Das Individuum wird von seinen Erziehern behandelt, als ob es zwar etwas Neues sei, aber eine Wiederholung werden solle. Erscheint der Mensch zunaechst als etwas Unbekanntes, nie Dagewesenes, so soll er zu etwas Bekanntem, Dagewesenem gemacht werden. Einen guten Charakter nennt man an einem Kinde das Sichtbarwerden der Gebundenheit durch das Dagewesene; indem das Kind sich auf die Seite der gebundenen Geister stellt, bekundet es zuerst seinen erwachenden Gemeinsinn; auf der Grundlage dieses Gemeinsinns aber wird es spaeter seinem Staate oder Stande nuetzlich. 229. Maass der Dinge bei den gebundenen Geistern. - Von vier Gattungen der Dinge sagen die gebundenen Geister, sie seien im Rechte. Erstens: alle Dinge, welche Dauer haben, sind im Recht; zweitens: alle Dinge, welche uns nicht laestig fallen, sind im Recht; drittens: alle Dinge, welche uns Vortheil bringen, sind im Recht; viertens: alle Dinge, fuer welche wir Opfer gebracht haben, sind im Recht. Letzteres erklaert zum Beispiel, wesshalb ein Krieg, der wider Willen des Volkes begonnen wurde, mit Begeisterung fortgefuehrt wird, sobald erst Opfer gebracht sind. - Die Freigeister, welche ihre Sache vor dem Forum der gebundenen Geister fuehren, haben nachzuweisen, dass es immer Freigeister gegeben hat, also dass die Freigeisterei Dauer hat, sodann, dass sie nicht laestig fallen wollen, und endlich, dass sie den gebundenen Geistern im Ganzen Vortheil bringen; aber weil sie von diesem Letzten die gebundenen Geister nicht ueberzeugen koennen, nuetzt es ihnen Nichts, den ersten und zweiten Punct bewiesen zu haben. 230. Esprit fort. - Verglichen mit Dem, welcher das Herkommen auf seiner Seite hat und keine Gruende fuer sein Handeln braucht, ist der Freigeist immer schwach, namentlich im Handeln; denn er kennt zu viele Motive und Gesichtspuncte und hat desshalb eine unsichere, ungeuebte Hand. Welche Mittel giebt es nun, um ihn doch verhaeltnissmaessig stark zu machen, so dass er sich wenigstens durchsetzt und nicht wirkungslos zu Grunde geht? Wie entsteht der starke Geist (esprit fort)? Es ist diess in einem einzelnen Falle die Frage nach der Erzeugung des Genius'. Woher kommt die Energie, die unbeugsame Kraft, die Ausdauer, mit welcher der Einzelne, dem Herkommen entgegen, eine ganz individuelle Erkenntniss der Welt zu erwerben trachtet? 231. Die Entstehung des Genie's. - Der Witz des Gefangenen, mit welchem er nach Mitteln zu seiner Befreiung sucht, die kaltbluetigste und langwierigste Benuetzung jedes kleinsten Vortheils kann lehren, welcher Handhabe sich mitunter die Natur bedient, um das Genie - ein Wort, das ich bitte, ohne allen mythologischen und religioesen Beigeschmack zu verstehen - zu Stande zu bringen: sie faengt es in einen Kerker ein und reizt seine Begierde, sich zu befreien, auf das aeusserste. - Oder mit einem anderen Bilde: jemand, der sich auf seinem Wege im Walde voellig verirrt hat, aber mit ungemeiner Energie nach irgend einer Richtung hin in's Freie strebt, entdeckt mitunter einen neuen Weg, welchen Niemand kennt: so entstehen die Genies, denen man Originalitaet nachruehmt. - Es wurde schon erwaehnt, dass eine Verstuemmelung, Verkrueppelung, ein erheblicher Mangel eines Organs haeufig die Veranlassung dazu giebt, dass ein anderes Organ sich ungewoehnlich gut entwickelt, weil es seine eigene Function und noch eine andere zu versehen hat. Hieraus ist der Ursprung mancher glaenzenden Begabung zu errathen. - Aus diesen allgemeinen Andeutungen ueber die Entstehung des Genius' mache man die Anwendung auf den speciellen Fall, die Entstehung des vollkommenen Freigeistes. 232. Vermuthung ueber den Ursprung der Freigeisterei. - Ebenso wie die Gletscher zunehmen, wenn in den Aequatorialgegenden die Sonne mit groesserer Gluth als frueher auf die Meere niederbrennt, so mag auch wohl eine sehr starke, um sich greifende Freigeisterei Zeugniss dafuer sein, dass irgendwo die Gluth der Empfindung ausserordentlich gewachsen ist. 233. Die Stimme der Geschichte. - Im Allgemeinen scheint die Geschichte ueber die Erzeugung des Genius' folgende Belehrung zu geben: misshandelt und quaelt die Menschen, - so ruft sie den Leidenschaften Neid, Hass und Wetteifer zu - treibt sie zum Aeussersten, den Einen wider den Andern, das Volk gegen das Volk, und zwar durch Jahrhunderte hindurch, dann flammt vielleicht, gleichsam aus einem bei Seite fliegenden Funken der dadurch entzuendeten furchtbaren Energie, auf einmal das Licht des Genius' empor; der Wille, wie ein Ross durch den Sporn des Reiters wild gemacht, bricht dann aus und springt auf ein anderes Gebiet ueber. - Wer zum Bewusstsein ueber die Erzeugung des Genius' kaeme und die Art, wie die Natur gewoehnlich verfaehrt, auch praktisch durchfuehren wollte, wuerde gerade so boese und ruecksichtslos wie die Natur sein muessen. - Aber vielleicht haben wir uns verhoert. 234. Werth der Mitte des Wegs. - Vielleicht ist die Erzeugung des Genius' nur einem begraenzten Zeitraume der Menschheit vorbehalten. Denn man darf von der Zukunft der Menschheit nicht zugleich alles Das erwarten, was ganz bestimmte Bedingungen irgend welcher Vergangenheit allein hervorzubringen vermochten; zum Beispiel nicht die erstaunlichen Wirkungen des religioesen Gefuehles. Dieses selbst hat seine Zeit gehabt und vieles sehr Gute kann nie wieder wachsen, weil es allein aus ihm wachsen konnte. So wird es nie wieder einen religioes umgraenzten Horizont des Lebens und der Cultur geben. Vielleicht ist selbst der Typus des Heiligen nur bei einer gewissen Befangenheit des Intellectes moeglich, mit der es, wie es scheint, fuer alle Zukunft vorbei ist. Und so ist die Hoehe der Intelligenz vielleicht einem einzelnen Zeitalter der Menschheit aufgespart gewesen: sie trat hervor - und tritt hervor, denn wir leben noch in diesem Zeitalter -, als eine ausserordentliche, lang angesammelte Energie des Willens sich ausnahmsweise auf geistige Ziele durch Vererbung uebertrug. Es wird mit jener Hoehe vorbei sein, wenn diese Wildheit und Energie nicht mehr gross gezuechtet werden. Die Menschheit kommt vielleicht auf der Mitte ihres Weges, in der mittleren Zeit ihrer Existenz, ihrem eigentlichen Ziele naeher, als am Ende. Es koennten Kraefte, durch welche zum Beispiel die Kunst bedingt ist, geradezu aussterben; die Lust am Luegen, am Ungenauen, am Symbolischen, am Rausche, an der Ekstase koennte in Missachtung kommen. Ja, ist das Leben erst im vollkommenen Staate geordnet, so ist aus der Gegenwart gar kein Motiv zur Dichtung mehr zu entnehmen, und es wuerden allein die zurueckgebliebenen Menschen sein, welche nach dichterischer Unwirklichkeit verlangten. Diese wuerden dann jedenfalls mit Sehnsucht rueckwaerts schauen, nach den Zeiten des unvollkommenen Staates, der halb-barbarischen Gesellschaft nach unseren Zeiten. 235. Genius und idealer Staat in Widerspruch. - Die Socialisten begehren fuer moeglichst Viele ein Wohlleben herzustellen. Wenn die dauernde Heimath dieses Wohllebens, der vollkommene Staat, wirklich erreicht waere, so wuerde durch dieses Wohlleben der Erdboden, aus dem der grosse Intellect und ueberhaupt das maechtige Individuum waechst, zerstoert sein: ich meine die starke Energie. Die Menschheit wuerde zu matt geworden sein, wenn dieser Staat erreicht ist, um den Genius noch erzeugen zu koennen. Muesste man somit nicht wuenschen, dass das Leben seinen gewaltsamen Charakter behalte und dass immer von Neuem wieder wilde Kraefte und Energien hervorgerufen werden? Nun will das warme, mitfuehlende Herz gerade die Beseitigung jenes gewaltsamen und wilden Charakters, und das waermste Herz, das man sich denken kann, wuerde eben darnach am leidenschaftlichsten verlangen: waehrend doch gerade seine Leidenschaft aus jenem wilden und gewaltsamen Charakter des Lebens ihr Feuer, ihre Waerme, ja ihre Existenz genommen hat; das waermste Herz will also Beseitigung seines Fundamentes, Vernichtung seiner selbst, das heisst doch: es will etwas Unlogisches, es ist nicht intelligent. Die hoechste Intelligenz und das waermste Herz koennen nicht in einer Person beisammen sein, und der Weise, welcher ueber das Leben das Urtheil spricht, stellt sich auch ueber die Guete und betrachtet diese nur als Etwas, das bei der Gesammtrechnung des Lebens mit abzuschaetzen ist. Der Weise muss jenen ausschweifenden Wuenschen der unintelligenten Guete widerstreben, weil ihm an dem Fortleben seines Typus' und an dem endlichen Entstehen des hoechsten Intellectes gelegen ist; mindestens wird er der Begruendung des "vollkommenen Staates" nicht foerderlich sein, insofern in ihm nur ermattete Individuen Platz haben. Christus dagegen, den wir uns einmal als das waermste Herz denken wollen, foerderte die Verdummung der Menschen, stellte sich auf die Seite der geistig Armen und hielt die Erzeugung des groessten Intellectes auf: und diess war consequent. Sein Gegenbild, der vollkommene Weise - diess darf man wohl vorhersagen - wird ebenso nothwendig der Erzeugung eines Christus hinderlich sein. - Der Staat ist eine kluge Veranstaltung zum Schutz der Individuen gegen einander: uebertreibt man seine Veredelung, so wird zuletzt das Individuum durch ihn geschwaecht, ja aufgeloest, - also der urspruengliche Zweck des Staates am gruendlichsten vereitelt. 236. Die Zonen der Cultur. - Man kann gleichnissweise sagen, dass die Zeitalter der Cultur den Guerteln der verschiedenen Klimate entsprechen, nur dass diese hinter einander und nicht, wie die geographischen Zonen, neben einander liegen. Im Vergleich mit der gemaessigten Zone der Cultur, in welche ueberzugehen unsere Aufgabe ist, macht die vergangene im Ganzen und Grossen den Eindruck eines tropischen Klima's. Gewaltsame Gegensaetze, schroffer Wechsel von Tag und Nacht, Gluth und Farbenpracht, die Verehrung alles Ploetzlichen, Geheimnissvollen, Schrecklichen, die Schnelligkeit der hereinbrechenden Unwetter, ueberall das verschwenderische Ueberstroemen der Fuellhoerner der Natur: und dagegen, in unserer Cultur, ein heller, doch nicht leuchtender Himmel, reine, ziemlich gleich verbleibende Luft, Schaerfe, ja Kaelte gelegentlich: so heben sich beide Zonen gegen einander ab. Wenn wir dort sehen, wie die wuethendsten Leidenschaften durch metaphysische Vorstellungen mit unheimlicher Gewalt niedergerungen und zerbrochen werden, so ist es uns zu Muthe, als ob vor unsern Augen in den Tropen wilde Tiger unter den Windungen ungeheurer Schlangen zerdrueckt wuerden; unserem geistigen Klima fehlen solche Vorkommnisse, unsere Phantasie ist gemaessigt, selbst im Traume kommt uns Das nicht bei, was fruehere Voelker im Wachen sahen. Aber sollten wir ueber diese Veraenderung nicht gluecklich sein duerfen, selbst zugegeben, dass die Kuenstler durch das Verschwinden der tropischen Cultur wesentlich beeintraechtigt sind und uns Nicht-Kuenstler ein Wenig zu nuechtern finden? Insofern haben Kuenstler wohl das Recht, den "Fortschritt" zu leugnen, denn in der That: ob die letzten drei Jahrtausende in den Kuensten einen fortschreitenden Verlauf zeigen, das laesst sich mindestens bezweifeln; ebenso wird ein metaphysischer Philosoph, wie Schopenhauer, keinen Anlass haben, den Fortschritt zu erkennen, wenn er die letzten vier Jahrtausende in Bezug auf metaphysische Philosophie und Religion ueberblickt. - Uns gilt aber die Existenz der gemaessigten Zone der Cultur selbst als Fortschritt. 237. Renaissance und Reformation. - Die italiaenische Renaissance bar - in sich alle die positiven Gewalten, welchen man die moderne Cultur verdankt - also Befreiung des Gedankens, Missachtung der Autoritaeten, Sieg der Bildung ueber den Duenkel der Abkunft, - Begeisterung fuer die Wissenschaft und die wissenschaftliche Vergangenheit der Menschen, Entfesselung des Individuums, eine Gluth der Wahrhaftigkeit und Abneigung gegen Schein und blosen Effect (welche Gluth in einer ganzen Fuelle kuenstlerischer Charaktere hervorloderte, die Vollkommenheit in ihren Werken und Nichts als Vollkommenheit mit hoechster sittlicher Reinheit von sich forderten); ja, die Renaissance hatte positive Kraefte, welche in unserer bisherigen modernen Cultur noch nicht wieder so maechtig geworden sind. Es war das goldene Zeitalter dieses Jahrtausends, trotz aller Flecken und Laster. Dagegen hebt sich nun die deutsche Reformation ab als ein energischer Protest zurueckgebliebener Geister, welche die Weltanschauung des Mittelalters noch keineswegs satt hatten und die Zeichen seiner Aufloesung, die ausserordentliche Verflachung und Veraeusserlichung des religioesen Lebens, anstatt mit Frohlocken, wie sich gebuehrt, mit tiefem Unmuthe empfanden. Sie warfen mit ihrer nordischen Kraft und Halsstarrigkeit die Menschen wieder zurueck, erzwangen die Gegenreformation, das heisst ein katholisches Christenthum der Nothwehr, mit den Gewaltsamkeiten eines Belagerungszustandes und verzoegerten um zwei bis drei Jahrhunderte ebenso das voellige Erwachen und Herrschen der Wissenschaften, als sie das voellige In-Eins-Verwachsen des antiken und des modernen Geistes vielleicht fuer immer unmoeglich machten. Die grosse Aufgabe der Renaissance konnte nicht zu Ende gebracht werden, der Protest des inzwischen zurueckgebliebenen deutschen Wesens (welches im Mittelalter Vernunft genug gehabt hatte, um immer und immer wieder zu seinem Heile ueber die Alpen zu steigen) verhinderte diess. Es lag in dem Zufall einer ausserordentlichen Constellation der Politik, dass damals Luther erhalten blieb und jener Protest Kraft gewann: denn der Kaiser schuetzte ihn, um seine Neuerung gegen den Papst als Werkzeug des Druckes zu verwenden, und ebenfalls beguenstigte ihn im Stillen der Papst, um die protestantischen Reichsfuersten als Gegengewicht gegen den Kaiser zu benutzen. Ohne diess seltsame Zusammenspiel der Absichten waere Luther verbrannt worden wie Huss - und die Morgenroethe der Aufklaerung vielleicht etwas frueher und mit schoenerem Glanze, als wir jetzt ahnen koennen, aufgegangen. 238. Gerechtigkeit gegen den werdenden Gott. - Wenn sich die ganze Geschichte der Cultur vor den Blicken aufthut als ein Gewirr von boesen und edlen, wahren und falschen Vorstellungen und es Einem beim Anblick dieses Wellenschlags fast seekrank zu Muthe wird, so begreift man, was fuer ein Trost in der Vorstellung eines werdenden Gottes liegt: dieser enthuellt sich immer mehr in den Verwandelungen und Schicksalen der Menschheit, es ist nicht Alles blinde Mechanik, sinn- und zweckloses Durcheinanderspielen von Kraeften. Die Vergottung des Werdens ist ein metaphysischer Ausblick - gleichsam von einem Leuchtthurm am Meere der Geschichte herab -, an welchem eine allzuviel historisirende Gelehrtengeneration ihren Trost fand; darueber darf man nicht boese werden, so irrthuemlich jene Vorstellung auch sein mag. Nur wer, wie Schopenhauer, die Entwickelung leugnet, fuehlt auch Nichts von dem Elend dieses historischen Wellenschlags und darf desshalb, weil er von jenem werdenden Gotte und dem Beduerfniss seiner Annahme Nichts weiss, Nichts fuehlt, billigerweise seinen Spott auslassen. 239. Die Fruechte nach der Jahreszeit. - Jede bessere Zukunft, welche man der Menschheit anwuenscht, ist nothwendigerweise auch in manchem Betracht eine schlechtere Zukunft: denn es ist Schwaermerei, zu glauben, dass eine hoehere neue Stufe der Menschheit alle die Vorzuege frueherer Stufen in sich vereinigen werde und zum Beispiel auch die hoechste Gestaltung der Kunst erzeugen muesse. Vielmehr hat jede Jahreszeit ihre Vorzuege und Reize fuer sich und schliesst die der anderen aus. Das, was aus der Religion und in ihrer Nachbarschaft gewachsen ist, kann nicht wieder wachsen, wenn diese zerstoert ist; hoechstens koennen verirrte, spaet kommende Absenker zur Taeuschung darueber verleiten, ebenso wie die zeitweilig ausbrechende Erinnerung an die alte Kunst: ein Zustand, der wohl das Gefuehl des Verlustes, der Entbehrung verraeth, aber kein Beweis fuer die Kraft ist, aus der eine neue Kunst geboren werden koennte. 240. Zunehmende Severitaet der Welt. - je hoeher die Cultur eines Menschen steigt, um so mehr Gebiete entziehen sich dem Scherz, dem Spotte. Voltaire war fuer die Erfindung der Ehe und der Kirche von Herzen dem Himmel dankbar: als welcher damit so gut fuer unsere Aufheiterung gesorgt habe. Aber er und seine Zeit, und vor ihm das sechszehnte Jahrhundert, haben diese Themen zu Ende gespottet; es ist Alles, was jetzt Einer auf diesem Gebiete noch witzelt, verspaetet und vor Allem gar zu wohlfeil, als dass es die Kaeufer begehrlich machen koennte. Jetzt fragt man nach den Ursachen; es ist das Zeitalter des Ernstes. Wem liegt jetzt noch daran, die Differenzen zwischen Wirklichkeit und anspruchsvollem Schein, zwischen dem, was der Mensch ist und was er vorstellen will, in scherzhaftem Lichte zu sehen; das Gefuehl dieser Contraste wirkt alsbald ganz anders, wenn man nach den Gruenden sucht. Je gruendlicher Jemand das Leben versteht, desto weniger wird er spottet, nur dass er zuletzt vielleicht noch ueber die "Gruendlichkeit seines Verstehens" spottet. 241. Genius der Cultur. - Wenn jemand einen Genius der Cultur imaginiren wollte, wie wuerde dieser beschaffen sein? Er handhabt die Luege, die Gewalt, den ruecksichtslosesten Eigennutz so sicher als seine Werkzeuge, dass er nur ein boeses daemonisches Wesen zu nennen waere; aber seine Ziele, welche hie und da durchleuchten, sind gross und gut. Es ist ein Centaur, halb Thier, halb Mensch und hat noch Engelsfluegel dazu am Haupte. 242. Wunder-Erziehung. - Das Interesse in der Erziehung wird erst von dem Augenblick an grosse Staerke bekommen, wo man den Glauben an einen Gott und seine Fuersorge aufgiebt: ebenso wie die Heilkunst erst erbluehen konnte, als der Glaube an Wunder-Curen aufhoerte. Bis jetzt glaubt aber alle Welt noch an die Wunder-Erziehung: aus der groessten Unordnung, Verworrenheit der Ziele, Ungunst der Verhaeltnisse sah man ja die fruchtbarsten, maechtigsten Menschen erwachsen: wie konnte diess doch mit rechten Dingen zugehen? - jetzt wird man, bald auch in diesen Faellen, naeher zusehen, sorgsamer pruefen: Wunder wird man dabei niemals entdecken. Unter gleichen Verhaeltnissen gehen fortwaehrend zahlreiche Menschen zu Grunde, das einzelne gerettete Individuum ist dafuer gewoehnlich staerker geworden, weil es diese schlimmen Umstaende vermoege unverwuestlicher eingeborener Kraft ertrug und diese Kraft noch geuebt und vermehrt hat: so erklaert sich das Wunder. Eine Erziehung, welche an kein Wunder mehr glaubt, wird auf dreierlei zu achten haben: erstens, wie viel Energie ist vererbt? zweitens, wodurch kann noch neue Energie entzuendet werden? drittens, wie kann das Individuum jenen so ueberaus vielartigen Anspruechen der Cultur angepasst werden, ohne dass diese es beunruhigen und seine Einartigkeit zersplittern, - kurz, wie kann das Individuum in den Contrapunct der privaten und oeffentlichen Cultur eingereiht werden, wie kann es zugleich die Melodie fuehren und als Melodie begleiten? 243. Die Zukunft des Arztes. - Es giebt jetzt keinen Beruf, der eine so hohe Steigerung zuliesse, wie der des Arztes; namentlich nachdem die geistlichen Aerzte, die sogenannten Seelsorger ihre Beschwoerungskuenste nicht mehr unter oeffentlichem Beifall treiben duerfen und ein Gebildeter ihnen aus dem Wege geht. Die hoechste geistige Ausbildung eines Arztes ist jetzt nicht erreicht, wenn er die besten neuesten Methoden kennt und auf sie eingeuebt ist und jene fliegenden Schluesse von Wirkungen auf Ursachen zu machen versteht, derentwegen die Diagnostiker beruehmt sind: er muss ausserdem eine Beredtsamkeit haben, die sich jedem Individuum anpasst und ihm das Herz aus dem Leibe zieht, eine Maennlichkeit, deren Anblick schon den Kleinmuth (den Wurmfrass aller Kranken) verscheucht, eine Diplomaten-Geschmeidigkeit im Vermitteln zwischen Solchen, welche Freude zu ihrer Genesung noethig haben und Solchen, die aus Gesundheitsgruenden Freude machen muessen (und koennen), die Feinheit eines Polizeiagenten und Advocaten, die Geheimnisse einer Seele zu verstehen, ohne sie zu verrathen, - kurz ein guter Arzt bedarf jetzt der Kunstgriffe und Kunstvorrechte aller andern Berufsclassen: so ausgeruestet, ist er dann im Stande, der ganzen Gesellschaft ein Wohlthaeter zu werden, durch Vermehrung guter Werke, geistiger Freude und Fruchtbarkeit, durch Verhuetung von boesen Gedanken, Vorsaetzen, Schurkereien (deren ekler Quell so haeufig der Unterleib ist), durch Herstellung einer geistig-leiblichen Aristokratie (als Ehestifter und Eheverhinderer), durch wohlwollende Abschneidung aller sogenannten Seelenqualen und Gewissensbisse: so erst wird er aus einem "Medicinmann" ein Heiland und braucht doch keine Wunder zu thun, hat auch nicht noethig, sich kreuzigen zu lassen. 244. In der Nachbarschaft des Wahnsinns. - Die Summe der Empfindungen, Kenntnisse, Erfahrungen, also die ganze Last der Cultur, ist so gross geworden, dass eine Ueberreizung der Nerven- und Denkkraefte die allgemeine Gefahr ist, ja dass die cultivirten Classen der europaeischen Laender durchweg neurotisch sind und fast jede ihrer groesseren Familien in einem Gliede dem Irrsinn nahe gerueckt ist. Nun kommt man zwar der Gesundheit jetzt auf alle Weise entgegen; aber in der Hauptsache bleibt eine Verminderung jener Spannung des Gefuehls, jener niederdrueckenden Cultur-Last vonnoethen, welche, wenn sie selbst mit schweren Einbussen erkauft werden sollte, uns doch zu der grossen Hoffnung einer neuen Renaissance Spielraum giebt. Man hat dem Christenthum, den Philosophen, Dichtern, Musikern eine Ueberfuelle tief erregter Empfindungen zu danken: damit diese uns nicht ueberwuchern, muessen wir den Geist der Wissenschaft beschwoeren, welcher im Ganzen etwas kaelter und skeptischer macht und namentlich den Gluthstrom des Glaubens an letzte endgueltige Wahrheiten abkuehlt; er ist vornehmlich durch das Christenthum so wild geworden. 245. Glockenguss der Cultur. - Die Cultur ist entstanden wie eine Glocke, innerhalb eines Mantels von groeberem, gemeinerem Stoffe: Unwahrheit, Gewaltsamkeit, unbegraenzte Ausdehnung aller einzelnen Ich's, aller einzelnen Voelker, waren dieser Mantel. Ist es an der Zeit, ihn jetzt abzunehmen? Ist das Fluessige erstarrt, sind die guten, nuetzlichen Triebe, die Gewohnheiten des edleren Gemuethes so sicher und allgemein geworden, dass es keiner Anlehnung an Metaphysik und die Irrthuemer der Religionen mehr bedarf, keiner Haerten und Gewaltsamkeiten als maechtigster Bindemittel zwischen Mensch und Mensch, Volk und Volk? - Zur Beantwortung dieser Frage ist kein Wink eines Gottes uns mehr huelfreich: unsere eigene Einsicht muss da entscheiden. Die Erdregierung des Menschen im Grossen hat der Mensch selber in die Hand zu nehmen, seine "Allwissenheit" muss ueber dem weiteren Schicksal der Cultur mit scharfem Auge wachen. 246. Die Cyklopen der Cultur. - Wer jene zerfurchten Kessel sieht, in denen Gletscher gelagert haben, haelt es kaum fuer moeglich, dass eine Zeit kommt, wo an der selben Stelle ein Wiesen- und Waldthal mit Baechen darin sich hinzieht. So ist es auch in der Geschichte der Menschheit; die wildesten Kraefte brechen Bahn, zunaechst zerstoerend, aber trotzdem war ihre Thaetigkeit noethig, damit spaeter eine mildere Gesittung hier ihr Haus aufschlage. Die schrecklichen Energien - Das, was man das Boese nennt - sind die cyklopischen Architekten und Wegebauer der Humanitaet. 247. Kreislauf des Menschenthums. - Vielleicht ist das ganze Menschenthum nur eine Entwickelungsphase einer bestimmten Thierart von begraenzter Dauer. so dass der Mensch aus dem Affen geworden ist und wieder zum Affen werden wird, waehrend Niemand da ist, der an diesem verwunderlichen Komoedienausgang irgend ein Interesse nehme. So wie mit dem Verfalle der roemischen Cultur und seiner wichtigsten Ursache, der Ausbreitung des Christenthums, eine allgemeine Verhaesslichung des Menschen innerhalb des roemischen Reiches ueberhand nahm, so koennte auch durch den einstmaligen Verfall der allgemeinen Erdcultur eine viel hoeher gesteigerte Verhaesslichung und endlich Verthierung des Menschen, bis in's Affenhafte, herbeigefuehrt werden. - Gerade weil wir diese Perspective in's Auge fassen koennen, sind wir vielleicht im Stande, einem solchen Ende der Zukunft vorzubeugen. 248. Trostrede eines desperaten Fortschritts. - Unsere Zeit macht den Eindruck eines Interim-Zustandes; die alten Weltbetrachtungen, die alten Culturen sind noch theilweise vorhanden, die neuen noch nicht sicher und gewohnheitsmaessig und daher ohne Geschlossenheit und Consequenz. Es sieht aus, als ob Alles chaotisch wuerde, das Alte verloren gienge, das Neue nichts tauge und immer schwaechlicher werde. Aber so geht es dem Soldaten, welcher marschiren lernt; er ist eine Zeit lang unsicherer und unbeholfener als je, weil die Muskeln bald nach dem alten System, bald nach dem neuen bewegt werden und noch keines entschieden den Sieg behauptet. Wir schwanken, aber es ist noethig, dadurch nicht aengstlich zu werden und das Neu-Errungene etwa preiszugeben. Ueberdiess koennen wir in's Alte nicht zurueck, wir haben die Schiffe verbrannt; es bleibt nur uebrig, tapfer zu sein, mag nun dabei diess oder jenes herauskommen. - Schreiten wir nur zu, kommen wir nur von der Stelle! Vielleicht sieht sich unser Gebahren doch einmal wie Fortschritt an; wenn aber nicht, so mag Friedrich's des Grossen Wort auch zu uns gesagt sein und zwar zum Troste: Ah, mon cher Sulzer, vous ne connaissez pas assez cette race maudite, ae laquelle nous appartenons. 249. An der Vergangenheit der Cultur leiden. - Wer sich das Problem der Cultur klar gemacht hat, leidet dann an einem aehnlichen Gefuehle wie Der, welcher einen durch unrechtmaessige Mittel erworbenen Reichthum ererbt hat, oder wie der Fuerst, der durch Gewaltthat seiner Vorfahren regiert. Er denkt mit Trauer an seinen Ursprung und ist oft beschaemt, oft reizbar. Die ganze Summe von Kraft, Lebenswillen, Freude, welche er seinem Besitze zuwendet, balancirt sich oft mit einer tiefen Muedigkeit: er kann seinen Ursprung nicht vergessen. Die Zukunft sieht er wehmuethig an, seine Nachkommen, er weiss es voraus, werden an der Vergangenheit leiden wie er. 250. Manieren. - Die guten Manieren verschwinden in dem Maasse, in welchem der Einfluss des Hofes und einer abgeschlossenen Aristokratie nachlaesst: man kann diese Abnahme von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlich beobachten, wenn man ein Auge fuer die oeffentlichen Acte hat: als welche ersichtlich immer poebelhafter werden. Niemand versteht mehr, auf geistreiche Art zu huldigen und zu schmeicheln; daraus ergiebt sich die laecherliche Thatsache, dass man in Faellen, wo man gegenwaertig Huldigungen darbringen muss (zum Beispiel einem grossen Staatsmanne oder Kuenstler), die Sprache des tiefsten Gefuehls, der treuherzigen, ehrenfesten Biederkeit borgt - aus Verlegenheit und Mangel an Geist und Grazie. So scheint die oeffentliche festliche Begegnung der Menschen immer ungeschickter, aber gefuehlvoller und biederer, ohne diess zu sein. - Sollte es aber mit den Manieren immerfort bergab gehen? Es scheint mir vielmehr, dass die Manieren eine tiefe Curve machen und wir uns ihrem niedrigsten Stande naehern. Wenn erst die Gesellschaft ihrer Absichten und Principien sicherer geworden ist, so dass diese formbildend wirken (waehrend jetzt die angelernten Manieren frueherer formbildender Zustaende immer schwaecher vererbt und angelernt werden), so wird es Manieren des Umgangs, Gebaerden und Ausdruecke des Verkehrs geben, welche so nothwendig und schlicht natuerlich erscheinen muessen, als es diese Absichten und Principien sind. Die bessere Vertheilung der Zeit und Arbeit, die zur Begleiterin jeder schoenen Mussezeit umgewandelte gymnastische Uebung, das vermehrte und strenger gewordene Nachdenken, welches selbst dem Koerper Klugheit und Geschmeidigkeit giebt, bringt diess Alles mit sich. - Hier koennte man nun freilich mit einigem Spotte unserer Gelehrten gedenken, ob denn sie, die doch Vorlaeufer jener neuen Cultur sein wollen, sich in der That durch bessere Manieren auszeichnen? Es ist diess wohl nicht der Fall, obgleich ihr Geist willig genug dazu sein mag: aber ihr Fleisch ist schwach. Die Vergangenheit ist noch zu maechtig in ihren Muskeln: sie stehen noch in einer unfreien Stellung und sind zur Haelfte weltliche Geistliche, zur Haelfte abhaengige Erzieher vornehmer Leute und Staende, und ueberdiess durch Pedanterie der Wissenschaft, durch veraltete geistlose Methoden verkrueppelt und unlebendig gemacht. Sie sind also, jedenfalls ihrem Koerper nach und oft auch zu Dreiviertel ihres Geistes, immer noch die Hoeflinge einer alten, ja greisenhaften Cultur und als solche selber greisenhaft; der neue Geist, der gelegentlich in diesen alten Gehaeusen rumort, dient einstweilen nur dazu, sie unsicherer und aengstlicher zu machen. In ihnen gehen sowohl die Gespenster der Vergangenheit, als die Gespenster der Zukunft um: was Wunder, wenn sie dabei nicht die beste Miene machen, nicht die gefaelligste Haltung haben? 251. Zukunft der Wissenschaft. - Die Wissenschaft giebt Dem, welcher in ihr arbeitet und sucht, viel Vergnuegen, Dem, welcher ihre Ergebnisse lernt, sehr wenig. Da allmaehlich aber alle wichtigen Wahrheiten der Wissenschaft alltaeglich und gemein werden muessen, so hoert auch dieses wenige Vergnuegen auf: so wie wir beim Lernen des so bewunderungswuerdigen Einmaleins laengst aufgehoert haben, uns zu freuen. Wenn nun die Wissenschaft immer weniger Freude durch sich macht und immer mehr Freude, durch Verdaechtigung der troestlichen Metaphysik, Religion und Kunst, nimmt: so verarmt jene groesste Quelle der Lust, welcher die Menschheit fast ihr gesammtes Menschenthum verdankt. Desshalb muss eine hoehere Cultur dem Menschen ein Doppelgehirn, gleichsam zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissenschaft, sodann um Nicht-Wissenschaft zu empfinden: neben einander liegend, ohne Verwirrung, trennbar, abschliessbar; es ist diess eine Forderung der Gesundheit. Im einen Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator: mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muss geheizt werden, mit Huelfe der erkennenden Wissenschaft muss den boesartigen und gefaehrlichen Folgen einer Ueberheizung vorgebeugt werden. - Wird dieser Forderung der hoeheren Cultur nicht genuegt, so ist der weitere Verlauf der menschlichen Entwickelung fast mit Sicherheit vorherzusagen: das Interesse am Wahren hoert auf, je weniger es Lust gewaehrt; die Illusion, der Irrthum, die Phantastik erkaempfen sich Schritt um Schritt, weil sie mit Lust verbunden sind, ihren ehemals behaupteten Boden: der Ruin der Wissenschaften, das Zuruecksinken in Barbarei ist die naechste Folge; von Neuem muss die Menschheit wieder anfangen, ihr Gewebe zu weben, nachdem sie es, gleich Penelope, des Nachts zerstoert hat. Aber wer buergt uns dafuer, dass sie immer wieder die Kraft dazu findet? 252. Die Lust am Erkennen. - Wesshalb ist das Erkennen, das Element des Forschers und Philosophen, mit Lust verknuepft? Erstens und vor Allem, weil man sich dabei seiner Kraft bewusst wird, also aus dem selben Grunde, aus dem gymnastische Uebungen auch ohne Zuschauer lustvoll sind. Zweitens, weil man, im Verlauf der Erkenntniss, ueber aeltere Vorstellungen und deren Vertreter, hinauskommt, Sieger wird oder wenigstens es zu sein glaubt. Drittens, weil wir uns durch eine noch so kleine neue Erkenntniss ueber Alle erhaben und uns als die Einzigen fuehlen, welche hierin das Richtige wissen. Diese drei Gruende zur Lust sind die wichtigsten, doch giebt es, je nach der Natur des Erkennenden, noch viele Nebengruende. - Ein nicht unbetraechtliches Verzeichniss von solchen giebt, an einer Stelle, wo man es nicht suchen wuerde, meine paraenetische Schrift ueber Schopenhauer: mit deren Aufstellungen sich jeder erfahrene Diener der Erkenntniss zufrieden geben kann, sei es auch, dass er den ironischen Anflug, der auf jenen Seiten zu liegen scheint, wegwuenschen wird. Denn wenn es wahr ist, dass zum Entstehen des Gelehrten "eine Menge sehr menschlicher Triebe und Triebchen zusammengegossen werden muss", dass der Gelehrte zwar ein sehr edles, aber kein reines Metall ist und "aus einem verwickelten Geflecht sehr verschiedener Antriebe und Reize besteht": so gilt doch das Selbe ebenfalls von Entstehung und Wesen des Kuenstlers, Philosophen, moralischen Genie's - und wie die in jener Schrift glorificirten grossen Namen lauten. Alles Menschliche verdient in Hinsicht auf seine Entstehung die ironische Betrachtung: desshalb ist die Ironie in der Welt so ueberfluessig. 253. Treue als Beweis der Stichhaltigkeit. - Es ist ein vollkommenes Zeichen fuer die Guete einer Theorie, wenn ihr Urheber vierzig Jahre lang kein Misstrauen gegen sie bekommt; aber ich behaupte, dass es noch keinen Philosophen gegeben hat, welcher auf die Philosophie, die seine Jugend erfand, nicht endlich mit Geringschaetzung - mindestens mit Argwohn - herabgesehen haette. - Vielleicht hat er aber nicht oeffentlich von dieser Umstimmung gesprochen, aus Ehrsucht oder - wie es bei edlen Naturen wahrscheinlicher ist - aus zarter Schonung seiner Anhaenger. 254. Zunahme des Interessanten. - Im Verlaufe der hoeheren Bildung wird dem Menschen Alles interessant, er weiss die belehrende Seite einer Sache rasch zu finden und den Punct anzugeben, wo eine Luecke seines Denkens mit ihr ausgefuellt oder ein Gedanke durch sie bestaetigt werden kann. Dabei verschwindet immer mehr die Langeweile, dabei auch die uebermaessige Erregbarkeit des Gemuethes. Er geht zuletzt wie ein Naturforscher unter Pflanzen, so unter Menschen herum und nimmt sich selber als ein Phaenomen wahr, welches nur seinen erkennenden Trieb stark anregt. 255. Aberglauben im Gleichzeitigen. - Etwas Gieichzeitiges haengt zusammen, meint man. Ein Verwandter stirbt in der Ferne, zu gleicher Zeit traeumen wir von ihm, - also! Aber zahllose Verwandte sterben und wir traeumen nicht von ihnen. Es ist wie bei den Schiffbruechigen, welche Geluebde thun: man sieht spaeter im Tempel die Votivtafeln Derer, welche zu Grunde giengen, nicht. - Ein Mensch stirbt, eine Eule kraechzt, eine Uhr steht still, alles in Einer Nachtstunde: sollte da nicht ein Zusammenhang sein? Eine solche Vertraulichkeit mit der Natur, wie diese Ahnung sie annimmt, schmeichelt den Menschen. - Diese Gattung des Aberglaubens findet sich in verfeinerter Form bei Historikern und Culturmalern wieder, welche vor allem sinnlosen Nebeneinander, an dem doch das Leben der Einzelnen und der Voelker so reich ist, eine Art Wasserscheu zu haben pflegen. 256. Das Koennen, nicht das Wissen, durch die Wissenschaft geuebt. - Der Werth davon, dass man zeitweilig eine strenge Wissenschaft streng betrieben hat, beruht nicht gerade auf deren Ergebnissen: denn diese werden, im Verhaeltniss zum Meere des Wissenswerthen, ein verschwindend kleiner Tropfen sein. Aber es ergiebt einen Zuwachs an Energie, an Schlussvermoegen, an Zaehigkeit der Ausdauer; man hat gelernt, einen Zweck zweckmaessig zu erreichen. Insofern ist es sehr schaetzbar, in Hinsicht auf Alles, was man spaeter treibt, einmal ein wissenschaftlicher Mensch gewesen zu sein. 257. Jugendreiz der Wissenschaft. - Das Forschen nach Wahrheit hat jetzt noch den Reiz, dass sie sich ueberall stark gegen den grau und langweilig gewordenen Irrthum abhebt; dieser Reiz verliert sich immer mehr; jetzt zwar leben wir noch im Jugendzeitalter der Wissenschaft und pflegen der Wahrheit wie einem schoenen Maedchen nachzugehen; wie aber, wenn sie eines Tages zum aeltlichen, muerrisch blickenden Weibe geworden ist? Fast in allen Wissenschaften ist die Grundeinsicht entweder erst in juengster Zeit gefunden oder wird noch gesucht; wie anders reizt diess an, als wenn alles Wesentliche gefunden ist und nur noch eine kuemmerliche Herbstnachlese dem Forscher uebrig bleibt (welche Empfindung man in einigen historischen Disciplinen kennen lernen kann). 258. Die Statue der Menschheit. - Der Genius der Cultur verfaehrt wie Cellini, als dieser den Guss seiner Perseus-Statue machte: die fluessige Masse drohte, nicht auszureichen, aber sie sollte es: so warf er Schuesseln und Teller und was ihm sonst in die Haende kam, hinein. Und ebenso wirft jener Genius Irrthuemer, Laster, Hoffnungen, Wahnbilder und andere Dinge von schlechterem wie von edlerem Metalle hinein, denn die Statue der Menschheit muss herauskommen und fertig werden; was liegt daran, dass hie und da geringerer Stoff verwendet wurde? 259. Eine Cultur der Maenner. - Die griechische Cultur der classischen Zeit ist eine Cultur der Maenner. Was die Frauen anlangt, so sagt Perikles in der Grabrede Alles mit den Worten: sie seien am besten, wenn unter Maennern so wenig als moeglich von ihnen gesprochen werde. - Die erotische Beziehung der Maenner zu den Juenglingen war in einem, unserem Verstaendniss unzugaenglichen Grade die nothwendige, einzige Voraussetzung aller maennlichen Erziehung (ungefaehr wie lange Zeit alle hoehere Erziehung der Frauen bei uns erst durch die Liebschaft und Ehe herbeigefuehrt wurde), aller Idealismus der Kraft der griechischen Natur warf sich auf jenes Verhaeltniss, und wahrscheinlich sind junge Leute niemals wieder so aufmerksam, so liebevoll, so durchaus in Hinsicht auf ihr Bestes (virtus) behandelt worden, wie im sechsten und fuenften Jahrhundert, - also gemaess dem schoenen Spruche Hoelderlin's "denn liebend giebt der Sterbliche vom Besten". Je hoeher dieses Verhaeltniss genommen wurde, um so tiefer sank der Verkehr mit der Frau: der Gesichtspunct der Kindererzeugung und der Wollust - Nichts weiter kam hier in Betracht; es gab keinen geistigen Verkehr, nicht einmal eine eigentliche Liebschaft. Erwaegt man ferner, dass sie selbst vom Wettkampfe und Schauspiele jeder Art ausgeschlossen waren, so bleiben nur die religioesen Culte als einzige hoehere Unterhaltung der Weiber. - Wenn man nun allerdings in der Tragoedie Elektra und Antigone vorfuehrte, so ertrug man diess eben in der Kunst, obschon man es im Leben nicht mochte: so wie wir jetzt alles Pathetische im Leben nicht vertragen, aber in der Kunst gern sehen. - Die Weiber hatten weiter keine Aufgabe, als Schoene, machtvolle Leiber hervorzubringen, in denen der Charakter des Vaters moeglichst ungebrochen weiter lebte, und damit der ueberhand nehmenden Nervenueberreizung einer so hochentwickelten Cultur entgegenzuwirken. Diess hielt die griechische Cultur verhaeltnissmaessig so lange jung; denn in den griechischen Muettern kehrte immer wieder der griechische Genius zur Natur zurueck. 260. Das Vorurtheil Zu Gunsten der Groesse. - Die Menschen ueberschaetzen ersichtlich alles Grosse und Hervorstechende. Diess kommt aus der bewussten oder unbewussten Einsicht her, dass sie es sehr nuetzlich finden, wenn Einer alle Kraft auf Ein Gebiet wirft und aus sich gleichsam Ein monstroeses Organ macht. Sicherlich ist dem Menschen selber eine gleichmaessige Ausbildung seiner Kraefte nuetzlicher und glueckbringender; denn jedes Talent ist ein Vampyr, welcher den uebrigen Kraeften Blut und Kraft aussaugt, und eine uebertriebene Production kann den begabtesten Menschen fast zur Tollheit bringen. Auch innerhalb der Kuenste erregen die extremen Naturen viel zu sehr die Aufmerksamkeit; aber es ist auch eine viel geringere Cultur noethig, um von ihnen sich fesseln zu lassen. Die Menschen unterwerfen sich aus Gewohnheit Allem, was Macht haben will. 261. Die Tyrannen des Geistes. - Nur wohin der Strahl des mythus faellt, da leuchtet das Leben der Griechen; sonst ist es duester. Nun berauben sich die griechischen Philosophen eben dieses Mythus': ist es nicht, als ob sie aus dem Sonnenschein sich in den Schatten, in die Duesterkeit setzen wollten? Aber keine Pflanze geht dem Lichte aus dem Wege; im Grunde suchten jene Philosophen nur eine hellere Sonne, der Mythus war ihnen nicht rein, nicht leuchtend genug. Sie fanden diess Licht in ihrer Erkenntniss, in dem, was jeder von ihnen seine "Wahrheit" nannte. Damals aber hatte die Erkenntniss noch einen groesseren Glanz; sie war noch jung und wusste noch wenig von allen Schwierigkeiten und Gefahren ihrer Pfade; sie konnte damals noch hoffen, mit einem einzigen Sprung an den Mittelpunct alles Seins zu kommen und von dort aus das Raethsel der Welt zu loesen. Diese Philosophen hatten - einen handfesten Glauben an sich und ihre "Wahrheit" und warfen mit ihr alle ihre Nachbarn und Vorgaenger nieder; jeder von ihnen war ein streitbarer gewaltthaetiger Tyrann. Vielleicht war das Glueck im Glauben an den Besitz der Wahrheit nie groesser in der Welt, aber auch nie die Haerte, der Uebermuth, das Tyrannische und Boese eines solchen Glaubens. Sie waren Tyrannen, also Das, was jeder Grieche sein wollte und was jeder war, wenn er es sein konnte. Vielleicht macht nur Solon eine Ausnahme; in seinen Gedichten sagt er es, wie er die persoenliche Tyrannis verschmaeht habe. Aber er that es aus Liebe zu seinem Werke, zu seiner Gesetzgebung; und Gesetzgeber sein ist eine sublimirtere Form des Tyrannenthums. Auch Parmenides gab Gesetze, wohl auch Pythagoras und Empedokles; Anaximander gruendete eine Stadt. Plato war der fleischgewordene Wunsch, der hoechste philosophische Gesetzgeber und Staatengruender zu werden; er scheint schrecklich an der Nichterfuellung seines Wesens gelitten zu haben, und seine Seele wurde gegen sein Ende hin voll der schwaerzesten Galle. Je mehr das griechische Philosophenthum an Macht verlor, um so mehr litt es innerlich durch diese Galligkeit und Schmaehsucht; als erst die verschiedenen Secten ihre Wahrheiten auf den Strassen verfochten, da waren die Seelen aller dieser Freier der Wahrheit durch Eifer- und Geifersucht voellig verschlammt, das tyrannische Element wuethete jetzt als Gift in ihrem Koerper. Diese vielen kleinen Tyrannen haetten sich roh fressen moegen; es war kein Funke mehr von Liebe und allzuwenig Freude an ihrer eigenen Erkenntniss in ihnen uebrig geblieben. - Ueberhaupt gilt der Satz, dass Tyrannen meistens ermordet werden und dass ihre Nachkommenschaft kurz lebt, auch von den Tyrannen des Geistes. Ihre Geschichte ist kurz, gewaltsam, ihre Nachwirkung bricht ploetzlich ab. Fast von allen grossen Hellenen kann man sagen, dass sie zu spaet gekommen scheinen, so von Aeschylus, von Pindar, von Demosthenes, von Thukydides; ein Geschlecht nach ihnen - und dann ist es immer voellig vorbei. Das ist das Stuermische und Unheimliche in der griechischen Geschichte. Jetzt zwar bewundert man das Evangelium der Schildkroete. Geschichtlich denken heisst jetzt fast so viel, als ob zu allen Zeiten nach dem Satze Geschichte gemacht worden waere: "moeglichst wenig in moeglichst langer Zeit!" Ach, die griechische Geschichte laeuft so rasch! Es ist nie wieder so verschwenderisch, so maasslos gelebt worden. Ich kann mich nicht ueberzeugen, dass die Geschichte der Griechen jenen natuerlichen Verlauf genommen habe, der so an ihr geruehmt wird. Sie waren viel zu mannichfach begabt dazu, um in jener schrittweisen Manier allmaehlich zu sein, wie es die Schildkroete im Wettlauf mit Achilles ist: und das nennt man ja natuerliche Entwickelung. Bei den Griechen geht es schnell vorwaerts, aber eben so schnell abwaerts; die Bewegung der ganzen Maschine ist so gesteigert, dass ein einziger Stein, in ihre Raeder geworfen, sie zerspringen macht. Ein solcher Stein war zum Beispiel Sokrates; in einer Nacht war die bis dahin so wunderbar regelmaessige, aber freilich allzu schleunige Entwickelung der philosophischen Wissenschaft zerstoert. Es ist keine muessige Frage, ob nicht Plato, von der sokratischen Verzauberung frei geblieben, einen noch hoeheren Typus des philosophischen Menschen gefunden haette, der uns auf immer verloren ist. Man sieht in die Zeiten vor ihm wie in einer Bildner-Werkstaette solcher Typen hinein. Das sechste und fuenfte Jahrhundert scheint aber doch noch mehr und Hoeheres zu verheissen, als es selber hervorgebracht hat; aber es blieb bei dem Verheissen und Ankuendigen. Und doch giebt es kaum einen schwereren Verlust, als den Verlust eines Typus', einer neuen, bis dahin unentdeckt gebliebenen hoechsten Moeglichkeit des philosophischen Lebens. Selbst von den aelteren Typen sind die meisten schlecht ueberliefert; es scheinen mir alle Philosophen von Thales bis Demokrit ausserordentlich schwer erkennbar; wem es aber gelingt, diese Gestalten nachzuschaffen, der wandelt unter Gebilden von maechtigstem und reinstem Typus. Diese Faehigkeit ist freilich selten, sie fehlte selbst den spaeteren Griechen, welche sich mit der Kunde der aelteren Philosophie befassten; Aristoteles zumal scheint seine Augen nicht im Kopfe zu haben, wenn er vor den Bezeichneten steht. Und so scheint es, als ob diese herrlichen Philosophen umsonst gelebt haetten oder als ob sie gar nur die streit- und redelustigen Schaaren der sokratischen Schulen haetten vorbereiten sollen. Es ist hier, wie gesagt, eine Luecke, ein Bruch in der Entwickelung; irgend ein grosses Unglueck muss geschehen sein und die einzige Statue, an welcher man Sinn und Zweck jener grossen bildnerischen Voruebung erkannt haben wuerde, zerbrach oder misslang: was eigentlich geschehen ist, ist fuer immer ein Geheimniss der Werkstaette geblieben. - Das, was bei den Griechen sich ereignete - dass jeder grosse Denker im Glauben daran, Besitzer der absoluten Wahrheit zu sein, zum Tyrannen wurde, so dass auch die Geschichte des Geistes bei den Griechen jenen gewaltsamen, uebereilten und gefaehrlichen Charakter bekommen hat, den ihre politische Geschichte zeigt - diese Art von Ereignissen war damit nicht erschoepft: es hat sich vieles Gleiche bis in die neueste Zeit hinein begeben, obwohl allmaehlich seltener und jetzt schwerlich mehr mit dem reinen naiven Gewissen der griechischen Philosophen. Denn im Ganzen redet jetzt die Gegenlehre und die Skepsis zu maechtig, zu laut. Die Periode der Tyrannen des Geistes ist vorbei. In den Sphaeren der hoeheren Cultur wird es freilich immer eine Herrschaft geben muessen, - aber diese Herrschaft liegt von jetzt ab in den Haenden der Oligarchen des Geistes. Sie bilden, trotz aller raeumlichen und politischen Trennung, eine zusammengehoerige Gesellschaft, deren Mitglieder sich erkennen und anerkennen, was auch die oeffentliche Meinung und die Urtheile der auf die Masse wirkenden Tages- und Zeitschriftsteller fuer Schaetzungen der Gunst oder Abgunst in Umlauf bringen moegen. Die geistige Ueberlegenheit, welche frueher trennte und verfeindete, pflegt jetzt zu binden: wie koennten die Einzelnen sich selbst behaupten und auf eigener Bahn, allen Stroemungen entgegen, durch das Leben schwimmen, wenn sie nicht ihres Gleichen hier und dort unter gleichen Bedingungen leben saehen und deren Hand ergriffen, im Kampfe eben so sehr gegen den ochlokratischen Charakter des Halbgeistes und der Halbbildung, als gegen die gelegentlichen Versuche, mit Huelfe der Massenwirkung eine Tyrannei aufzurichten? Die Oligarchen sind einander noethig, sie haben an einander ihre beste Freude, sie verstehen ihre Abzeichen, - aber trotzdem ist ein jeder von ihnen frei, er kaempft und siegt an seiner Stelle und geht lieber unter, als sich zu unterwerfen. 262. Homer. - Die groesste Thatsache in der griechischen Bildung bleibt doch die, dass Homer so fruehzeitig panhellenisch wurde. Alle geistige und menschliche Freiheit, welche die Griechen erreichten, geht auf diese Thatsache zurueck. Aber zugleich ist es das eigentliche Verhaengniss der griechischen Bildung gewesen, denn Homer verflachte, indem er centralisirte, und loeste die ernsteren Instincte der Unabhaengigkeit auf. Von Zeit zu Zeit erhob sich aus dem tiefsten Grunde des Hellenischen der Widerspruch gegen Homer; aber er blieb immer siegreich. Alle grossen geistigen Maechte ueben neben ihrer befreienden Wirkung auch eine unterdrueckende aus; aber freilich ist es ein Unterschied, ob Homer oder die Bibel oder die Wissenschaft die Menschen tyrannisiren. 263. Begabung. - In einer so hoch entwickelten Menschheit, wie die jetzige ist, bekommt von Natur Jeder den Zugang zu vielen Talenten mit. Jeder hat angeborenes Talent, aber nur Wenigen ist der Grad von Zaehigkeit, Ausdauer, Energie angeboren und anerzogen, so dass er wirklich ein Talent wird, also wird, was er ist, das heisst: es in Werken und Handlungen entladet. 264. Der Geistreiche entweder ueberschaetzt oder unterschaetzt. - Unwissenschaftliche, aber begabte Menschen schaetzen jedes Anzeichen von Geist, sei es nun, dass er auf wahrer oder falscher Faehrte ist; sie wollen vor Allem, dass der Mensch, der mit ihnen verkehrt, sie gut mit seinem Geist unterhalte, sie ansporne, entflamme, zu Ernst und Scherz fortreisse und jedenfalls vor der Langenweile als kraeftigstes Amulet schuetze. Die wissenschaftlichen Naturen wissen dagegen, dass die Begabung, allerhand Einfaelle zu haben, auf das strengste durch den Geist der Wissenschaft gezuegelt werden muesse; nicht Das, was glaenzt, scheint, erregt, sondern die oft unscheinbare Wahrheit ist die Frucht, welche er vom Baum der Erkenntniss zu schuetteln wuenscht. Er darf, wie Aristoteles, zwischen "Langweiligen" und "Geistreichen" keinen Unterschied machen, sein Daemon fuehrt ihn durch die Wueste ebenso wie durch tropische Vegetation, damit er ueberall nur an dem Wirklichen, Haltbaren, Aechten seine Freude habe. - Daraus ergiebt sich, bei unbedeutenden Gelehrten, eine Missachtung und Verdaechtigung des Geistreichen ueberhaupt, und wiederum haben geistreiche Leute haeufig eine Abneigung gegen die Wissenschaft: wie zum Beispiel fast alle Kuenstler. 265. Die Vernunft in der Schule. - Die Schule hat keine wichtigere Aufgabe, als strenges Denken, vorsichtiges Urtheilen, consequentes Schliessen zu lehren: desshalb hat sie von allen Dingen abzusehen, die nicht fuer diese Operationen tauglich sind, zum Beispiel von der Religion. Sie kann ja darauf rechnen, dass menschliche Unklarheit, Gewoehnung und Beduerfniss spaeter doch wieder den Bogen des allzustraffen Denkens abspannen. Aber so lange ihr Einfluss reicht, soll sie Das erzwingen, was das Wesentliche und Auszeichnende am Menschen ist- "Vernunft und Wissenschaft des Menschen allerhoechste Kraft" - wie wenigstens Goethe urtheilt. - Der grosse Naturforscher von Baer findet die Ueberlegenheit aller Europaeer im Vergleich zu Asiaten in der eingeschulten Faehigkeit, dass sie Gruende fuer Das, was sie glauben, angeben koennen, wozu Diese aber voellig unfaehig sind. Europa ist in die Schule des consequenten und kritischen Denkens gegangen, Asien weiss immer noch nicht zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden und ist sich nicht bewusst, ob seine Ueberzeugungen aus eigener Beobachtung und regelrechtem Denken oder aus Phantasien stammen. - Die Vernunft in der Schule hat Europa zu Europa gemacht: im Mittelalter war es auf dem Wege, wieder zu einem Stueck und Anhaengsel Asiens zu werden, - also den wissenschaftlichen Sinn, welchen es den Griechen verdankte, einzubuessen. 266. Unterschaetzte Wirkung des gymnasialen Unterrichts. - Man sucht den Werth des Gymnasiums selten in den Dingen, welche wirklich dort gelernt und von ihm unverlierbar heimgebracht werden, sondern in denen, welche man lehrt, welche der Schueler sich aber nur mit Widerwillen aneignet, um sie, so schnell er darf, von sich abzuschuetteln. Das Lesen der Classiker - das giebt jeder Gebildete zu - ist so, wie es ueberall getrieben wird, eine monstroese Procedur: vor jungen Menschen, welche in keiner Beziehung dazu reif sind, von Lehrern, welche durch jedes Wort, oft durch ihr Erscheinen schon einen Mehlthau ueber einen guten Autor legen. Aber darin liegt der Werth, der gewoehnlich verkannt wird, - dass diese Lehrer die abstracte Sprache der hoehern Cultur reden, schwerfaellig und schwer zum Verstehen, wie sie ist, aber eine hohe Gymnastik des Kopfes; dass Begriffe, Kunstausdruecke, Methoden, Anspielungen in ihrer Sprache fortwaehrend vorkommen, welche die jungen Leute im Gespraeche ihrer Angehoerigen und auf der Gasse fast nie hoeren. Wenn die Schueler nur hoeren, so wird ihr Intellect zu einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise unwillkuerlich praeformirt. Es ist nicht moeglich, aus dieser Zucht voellig unberuehrt von der Abstraction als reines Naturkind herauszukommen. 267. Viele Sprachen lernen. - Viele Sprachen lernen fuellt das Gedaechtniss mit Worten, statt mit Thatsachen und Gedanken, aus, waehrend diess ein Behaeltniss ist, welches bei jedem Menschen nur eine bestimmt begraenzte Masse von Inhalt aufnehmen kann. Sodann schadet das Lernen vieler Sprachen, insofern es den Glauben, Fertigkeiten zu haben, erweckt und thatsaechlich auch ein gewisses verfuehrerisches Ansehen im Verkehre verleiht; es schadet sodann auch indirect dadurch, dass es dem Erwerben gruendlicher Kenntnisse und der Absicht, auf redliche Weise die Achtung der Menschen zu verdienen, entgegenwirkt. Endlich ist es die Axt, welche dem feineren Sprachgefuehl innerhalb der Muttersprache an die Wurzel gelegt wird: diess wird dadurch unheilbar beschaedigt und zu Grunde gerichtet. Die beiden Voelker, welche die groessten Stilisten erzeugten, Griechen und Franzosen, lernten keine fremden Sprachen. - Weil aber der Verkehr der Menschen immer kosmopolitischer werden muss, und zum Beispiel ein rechter Kaufmann in London jetzt schon sich in acht Sprachen schriftlich und muendlich verstaendlich zu machen hat, so ist freilich das Viele-Sprachen-lernen ein nothwendiges Uebel; welches aber zuletzt zum Aeussersten kommend, die Menschheit zwingen wird, ein Heilmittel zu finden: und in irgend einer fernen Zukunft wird es eine neue Sprache, zuerst als Handelssprache, dann als Sprache des geistigen Verkehres ueberhaupt, fuer Alle geben, so gewiss, als es einmal Luft-Schifffahrt giebt. Wozu haette auch die Sprachwissenschaft ein Jahrhundert lang die Gesetze der Sprache studirt und das Nothwendige, Werthvolle, Gelungene an jeder einzelnen Sprache abgeschaetzt! 268. Zur Kriegsgeschichte des Individuums. - Wir finden in ein einzelnes Menschenleben, welches durch mehrere Culturen geht, den Kampf zusammengedraengt, welcher sich sonst zwischen zwei Generationen, zwischen Vater und Sohn, abspielt: die Naehe der Verwandtschaft verschaerft diesen Kampf, weil jede Partei schonungslos das ihr so gut bekannte Innere der anderen Partei mit hineinzieht; und so wird dieser Kampf im einzelnen Individuum am erbittertsten sein; hier schreitet jede neue Phase ueber die frueheren mit grausamer Ungerechtigkeit und Verkennung von deren Mitteln und Zielen hinweg. 269. Um eine Viertelstunde frueher. - Man findet gelegentlich Einen, der mit seinen Ansichten ueber seiner Zeit steht, aber doch nur um so viel, dass er die Vulgaeransichten des naechsten Jahrzehnts vorwegnimmt. Er hat die oeffentliche Meinung eher, als sie oeffentlich ist, das heisst: er ist einer Ansicht, die es verdient trivial zu werden, eine Viertelstunde eher in die Arme gefallen, als Andere. Sein Ruhm pflegt aber viel lauter zu sein, als der Ruhm der wirklichen Grossen und Ueberlegenen. 270. Die Kunst, zu lesen. - jede starke Richtung ist einseitig; sie naehert sich der Richtung der geraden Linie und ist wie diese ausschliessend, das heisst sie beruehrt nicht viele andere Richtungen, wie diess schwache Parteien und Naturen in ihrem wellenhaften Hin- und Hergehen thun: das muss man also auch den Philologen nachsehen, dass sie einseitig sind. Herstellung und Reinhaltung der Texte, nebst der Erklaerung derselben, in einer Zunft jahrhundertelang fortgetrieben, hat endlich jetzt die richtigen Methoden finden lassen; das ganze Mittelalter war tief unfaehig zu einer streng philologischen Erklaerung, das heisst zum einfachen Verstehenwollen dessen, was der Autor sagt, - es war Etwas, diese Methoden zu finden, man unterschaetze es nicht! Alle Wissenschaft hat dadurch erst Continuitaet und Stetigkeit gewonnen, dass die Kunst des richtigen Lesens, das heisst die Philologie, auf ihre Hoehe kam. 271. Die Kunst, zu schliessen. - Der groesste Fortschritt, den die Menschen gemacht haben, liegt darin, dass sie richtig schliessen lernen. Das ist gar nicht so etwas Natuerliches, wie Schopenhauer annimmt, wenn er sagt: "zu schliessen sind Alle, zu urtheilen Wenige faehig", sondern ist spaet erlernt und jetzt noch nicht zur Herrschaft gelangt. Das faische Schliessen ist in aelteren Zeiten die Regel: und die Mythologien aller Voelker, ihre Magie und ihr Aberglaube, ihr religioeser Cultus, ihr Recht sind die unerschoepflichen Beweis-Fundstaetten fuer diesen Satz. 272. Jahresringe der individuellen Cultur. - Die Staerke und Schwaeche der geistigen Productivitaet haengt lange nicht so an der angeerbten Begabung, als an dem mitgegebenen Maasse von Spannkraft. Die meisten jungen Gebildeten von dreissig Jahren gehen um diese Fruehsonnenwende ihres Lebens zurueck und sind fuer neue geistige Wendungen von da an unlustig. Desshalb ist dann gleich wieder zum Heile einer fort und fort wachsenden Cultur eine neue Generation noethig, die es nun aber ebenfalls nicht weit bringt: denn um die Cultur des Vaters nachzuholen, muss der Sohn die angeerbte Energie, welche der Vater auf jener Lebensstufe, als er den Sohn zeugte, selber besass, fast aufbrauchen; mit dem kleinen Ueberschuss kommt er weiter (denn weil hier der Weg zum zweiten Mal gemacht wird, geht es ein Wenig schneller vorwaerts; der Sohn verbraucht, um das Selbe zu lernen, was der Vater wusste, nicht ganz so viel Kraft). Sehr spannkraeftige Maenner, wie zum Beispiel Goethe, durchmessen so viel als kaum vier Generationen hinter einander vermoegen; desshalb kommen sie aber zu schnell voraus, so dass die anderen Menschen sie erst in dem naechsten Jahrhundert einholen, vielleicht nicht einmal voellig, weil durch die haeufigen Unterbrechungen die Geschlossenheit der Cultur, die Consequenz der Entwickelung geschwaecht worden ist. - Die gewoehnlichen Phasen der geistigen Cultur, welche im Verlauf der Geschichte errungen ist, holen die Menschen immer schneller nach. Sie beginnen gegenwaertig in die Cultur als religioes bewegte Kinder einzutreten und bringen es vielleicht im zehnten Lebensjahre zur hoechsten Lebhaftigkeit dieser Empfindungen, gehen dann in abgeschwaechtere Formen (Pantheismus) ueber, waehrend sie sich der Wissenschaft naehern; kommen ueber Gott, Unsterblichkeit und dergleichen ganz hinaus, aber verfallen den Zaubern einer metaphysischen Philosophie. Auch diese wird ihnen endlich unglaubwuerdig; die Kunst scheint dagegen immer mehr zu gewaehren, so dass eine Zeit lang die Metaphysik kaum noch in einer Umwandelung zur Kunst oder als kuenstlerisch verklaerende Stimmung uebrig bleibt und fortlebt. Aber der wissenschaftliche Sinn wird immer gebieterischer und fuehrt den Mann hin zur Naturwissenschaft und Historie und namentlich zu den strengsten Methoden des Erkennens, waehrend der Kunst eine immer mildere und anspruchslosere Bedeutung zufaellt. Diess Alles pflegt sich jetzt innerhalb der ersten dreissig Jahre eines Mannes zu ereignen. Es ist die Recapitulation eines Pensums, an welchem die Menschheit vielleicht dreissigtausend Jahre sich abgearbeitet hat. 273. Zurueckgegangen, nicht zurueckgeblieben. - Wer gegenwaertig seine Entwickelung noch aus religioesen Empfindungen heraus anhebt und vielleicht laengere Zeit nachher in Metaphysik und Kunst weiterlebt, der hat sich allerdings ein gutes Stueck zurueckbegeben und beginnt sein Wettrennen mit anderen modernen Menschen unter unguenstigen Voraussetzungen: er verliert scheinbar Raum und Zeit. Aber dadurch, dass er sich in jenen Bereichen aufhielt, wo Gluth und Energie entfesselt werden und fortwaehrend Macht als vulcanischer Strom aus unversiegbarer Quelle stroemt, kommt er dann, sobald er sich nur zur rechten Zeit von jenen Gebieten getrennt hat, um so schneller vorwaerts, sein Fuss ist befluegelt, seine Brust hat ruhiger, laenger, ausdauernder athmen gelernt. - Er hat sich nur zurueckgezogen, um zu seinem Sprunge genuegenden Raum zu haben: so kann selbst etwas Fuerchterliches, Drohendes in diesem Rueckgange liegen. 274. Ein Ausschnitt unseres Selbst als kuenstlerisches Object. - Es ist ein Zeichen ueberlegener Cultur, gewisse Phasen der Entwickelung, welche die geringeren Menschen fast gedankenlos durchleben und von der Tafel ihrer Seele dann wegwischen, mit Bewusstsein festzuhalten und ein getreues Bild davon zu entwerfen: denn diess ist die hoehere Gattung der Malerkunst, welche nur Wenige verstehen. Dazu wird es noethig, jene Phasen kuenstlich zu isoliren. Die historischen Studien bilden die Befaehigung zu diesem Malerthum aus, denn sie fordern uns fortwaehrend auf, bei Anlass eines Stueckes Geschichte, eines Volkes - oder Menschenlebens uns einen ganz bestimmten Horizont von Gedanken, eine bestimmte Staerke von Empfindungen, das Vorwalten dieser, das Zuruecktreten jener vorzustellen. Darin, dass man solche Gedanken- und Gefuehlssysteme aus gegebenen Anlaessen schnell reconstruiren kann, wie den Eindruck eines Tempels aus einigen zufaellig stehen gebliebenen Saeulen und Mauerresten, besteht der historische Sinn. Das naechste Ergebniss desselben ist, dass wir unsere Mitmenschen als ganz bestimmte solche Systeme und Vertreter verschiedener Culturen verstehen, das heisst als nothwendig, aber als veraenderlich. Und wiederum, dass wir in unserer eigenen Entwickelung Stuecke heraustrennen und selbstaendig hinstellen koennen. 275. Cyniker und Epikureer. - Der Cyniker erkennt den Zusammenhang zwischen den vermehrten und staerkeren Schmerzen des hoeher cultivirten Menschen und der Fuelle von Beduerfnissen; er begreift also, dass die Menge von Meinungen ueber das Schoene, Schickliche, Geziemende, Erfreuende ebenso sehr reiche Genuss-, aber auch Unlustquellen entspringen lassen musste. Gemaess dieser Einsicht bildet er sich zurueck, indem er viele dieser Meinungen aufgiebt und sich gewissen Anforderungen der Cultur entzieht; damit gewinnt er ein Gefuehl der Freiheit und der Kraeftigung; und allmaehlich, wenn die Gewohnheit ihm seine Lebensweise ertraeglich macht, hat er in der That seltnere und schwaechere Unlustempfindungen, als die cultivirten Menschen, und naehert sich dem Hausthier an; ueberdiess empfindet er Alles im Reiz des Contrastes und - schimpfen kann er ebenfalls nach Herzenslust; so dass er dadurch wieder hoch ueber die Empfindungswelt des Thieres hinauskommt. - Der Epikureer hat den selben Gesichtspunct wie der Cyniker; zwischen ihm und jenem ist gewoehnlich nur ein Unterschied des Temperamentes. Sodann benutzt der Epikureer seine hoehere Cultur, um sich von den herrschenden Meinungen unabhaengig zu machen; er erhebt sich ueber dieselben, waehrend der Cyniker nur in der Negation bleibt. Er wandelt gleichsam in windstillen, wohlgeschuetzten, halbdunkelen Gaengen, waehrend ueber ihm, im Winde, die Wipfel der Baeume brausen und ihm verrathen, wie heftig bewegt da draussen die Welt ist. Der Cyniker dagegen geht gleichsam nackt draussen im Windeswehen umher und haertet sich bis zur Gefuehllosigkeit ab. 276. Mikrokosmus und Makrokosmus der Cultur. - Die besten Entdeckungen ueber die Cultur macht der Mensch in sich selbst, wenn er darin zwei heterogene Maechte waltend findet. Gesetzt, es lebe Einer eben so sehr in der Liebe zur bildenden Kunst oder zur Musik als er vom Geiste der Wissenschaft fortgerissen werde, und er sehe es als unmoeglich an, diesen Widerspruch durch Vernichtung der einen und volle Entfesselung der anderen Macht aufzuheben: so bleibt ihm nur uebrig, ein so grosses Gebaeude der Cultur aus sich zu gestalten, dass jene beiden Maechte, wenn auch an verschiedenen Enden desselben, in ihm wohnen koennen, waehrend zwischen ihnen versoehnende Mittelmaechte, mit ueberwiegender Kraft, um noethigen falls den ausbrechenden Streit zu schlichten, ihre Herberge haben. Ein solches Gebaeude der Cultur im einzelnen Individuum wird aber die groesste Aehnlichkeit mit dem Culturbau in ganzen Zeitperioden haben und eine fortgesetzte analogische Belehrung ueber denselben abgeben. Denn ueberall, wo sich die grosse Architektur der Cultur entfaltet hat, war ihre Aufgabe, die einander widerstrebenden Maechte zur Eintracht vermoege einer uebermaechtigen Ansammelung der weniger unvertraeglichen uebrigen Maechte zu zwingen, ohne sie desshalb zu unterdruecken und in Fesseln zu schlagen. 277. Glueck und Cultur. - Der Anblick der Umgebungen unserer Kindheit erschuettert uns: das Gartenhaus, die Kirche mit den Graebern, der Teich und der Wald, - diess sehen wir immer als Leidende wieder. Mitleid mit uns selbst ergreift uns, denn was haben wir seitdem Alles durchgelitten! Und hier steht jegliches noch so still, so ewig da: nur wir sind so anders, so bewegt; selbst etliche Menschen finden wir wieder, an welchen die Zeit nicht mehr ihren Zahn gewetzt hat, als an einem Eichenbaume: Bauern, Fischer, Waldbewohner - sie sind die selben. - Erschuetterung, Selbstmitleid im Angesichte der niederen Cultur ist das Zeichen der hoeheren Cultur; woraus sich ergiebt, dass durch diese das Glueck jedenfalls nicht gemehrt worden ist. Wer eben Glueck und Behagen vom Leben ernten will, der mag nur immer der hoeheren Cultur aus dem Wege gehen. 278. Gleichniss vom Tanze. - Jetzt ist es als das entscheidende Zeichen grosser Cultur zu betrachten, wenn jemand jene Kraft und Biegsamkeit besitzt, um ebenso rein und streng im Erkennen zu sein als, in andern Momenten, auch befaehigt, der Poesie, Religion und Metaphysik gleichsam hundert Schritte vorzugeben und ihre Gewalt und Schoenheit nachzuempfinden. Eine solche Stellung zwischen zwei so verschiedenen Anspruechen ist sehr schwierig, denn die Wissenschaft draengt zur absoluten Herrschaft ihrer Methode, und wird diesem Draengen nicht nachgegeben, so entsteht die andere Gefahr eines schwaechlichen Auf- und Niederschwankens zwischen verschiedenen Antrieben. Indessen: um wenigstens mit einem Gleichniss einen Blick auf die Loesung dieser Schwierigkeit zu eroeffnen, moege man sich doch daran erinnern, dass der Tanz nicht das Selbe wie ein mattes Hin- und Hertaumeln zwischen verschiedenen Antrieben ist. Die hohe Cultur wird einem kuehnen Tanze aehnlich sehen: wesshalb, wie gesagt, viel Kraft und Geschmeidigkeit noth thut. 279. Von der Erleichterung des Lebens. - Ein Hauptmittel, um sich das Leben zu erleichtern, ist das Idealisiren aller Vorgaenge desselben; man soll sich aber aus der Malerei recht deutlich machen, was idealisiren heisst. Der Maler verlangt, dass der Zuschauer nicht zu genau, zu scharf zusehe, er zwingt ihn in eine gewisse Ferne zurueck, damit er von dort aus betrachte; er ist genoethigt, eine ganz bestimmte Entfernung des Betrachters vom Bilde vorauszusetzen; ja er muss sogar ein ebenso bestimmtes Maass von Schaerfe des Auges bei seinem Betrachter annehmen; in solchen Dingen darf er durchaus nicht schwanken. Jeder also, der sein Leben idealisiren will, muss es nicht zu genau sehen wollen und seinen Blick immer in eine gewisse Entfernung zurueckbannen. Dieses Kunststueck verstand zum Beispiel Goethe. 280. Erschwerung als Erleichterung und umgekehrt. - Vieles, was auf gewissen Stufen des Menschen Erschwerung des Lebens ist, dient einer hoeheren Stufe als Erleichterung, weil solche Menschen staerkere Erschwerungen des Lebens kennen gelernt haben. Ebenso kommt das Umgekehrte vor: so hat zum Beispiel die Religion ein doppeltes Gesicht, je nachdem ein Mensch zu ihr hinaufblickt, um von ihr sich seine Last und Noth abnehmen zu lassen, oder auf sie hinabsieht, wie auf die Fessel, welche ihm angelegt ist, damit er nicht zu hoch in die Luefte steige. 281. Die hoehere Cultur wird nothwendig missverstanden. - Wer sein Instrument nur mit zwei Saiten bespannt hat, wie die Gelehrten, welche ausser dem Wissenstrieb nur noch einen anerzogenen religioesen haben, der versteht solche Menschen nicht, welche auf mehr Saiten spielen koennen. Es liegt im Wesen der hoeheren vielsaitigeren Cultur, dass sie von der niederen immer falsch gedeutet wird; wie diess zum Beispiel geschieht, wenn die Kunst als eine verkappte Form des Religioesen gilt. Ja Leute, die nur religioes sind, verstehen selbst die Wissenschaft als Suchen des religioesen Gefuehls, so wie Taubstumme nicht wissen, was Musik ist, wenn nicht sichtbare Bewegung. 282. Klagelied. - Es sind vielleicht die Vorzuege unserer Zeiten, welche ein Zuruecktreten und eine gelegentliche Unterschaetzung der vita contemplativa mit sich bringen. Aber eingestehen muss man es sich, dass unsere Zeit arm ist an grossen Moralisten, dass Pascal, Epictet, Seneca, Plutarch wenig noch gelesen werden, dass Arbeit und Fleiss - sonst im Gefolge der grossen Goettin Gesundheit - mitunter wie eine Krankheit zu Wuethen scheinen. Weil Zeit zum Denken und Ruhe im Denken fehlt, so erwaegt man abweichende Ansichten nicht mehr: man begnuegt sich, sie zu hassen. Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urtheilen gewoehnt, und jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk von der Eisenbahn aus kennen lernen. Selbstaendige und vorsichtige Haltung der Erkenntniss schaetzt man beinahe als eine Art Verruecktheit ab, der Freigeist ist in Verruf gebracht, namentlich durch Gelehrte, welche an seiner Kunst, die Dinge zu betrachten, ihre Gruendlichkeit und ihren Ameisenfleiss vermissen und ihn gern in einen einzelnen Winkel der Wissenschaft bannen moechten: waehrend er die ganz andere und hoehere Aufgabe hat, von einem einsam gelegenen Standorte aus den ganzen Heerbann der wissenschaftlichen und gelehrten Menschen zu befehligen und ihnen die Wege und Ziele der Cultur zu zeigen. - Eine solche Klage, wie die eben abgesungene, wird wahrscheinlich ihre Zeit haben und von selber einmal, bei einer gewaltigen Rueckkehr des Genius' der Meditation, verstummen. 283. Hauptmangel der thaetigen Menschen. - Den Thaetigen fehlt gewoehnlich die hoehere Thaetigkeit: ich meine die individuelle. Sie sind als Beamte, Kaufleute, Gelehrte, das heisst als Gattungswesen thaetig, aber nicht als ganz bestimmte einzelne und einzige Menschen; in dieser Hinsicht sind sie faul. - Es ist das Unglueck der Thaetigen, dass ihre Thaetigkeit fast immer ein Wenig unvernuenftig ist. Man darf zum Beispiel bei dem geldsammelnden Banquier nach dem Zweck seiner rastlosen Thaetigkeit nicht fragen: sie ist unvernuenftig. Die Thaetigen rollen, wie der Stein rollt, gemaess der Dummheit der Mechanik. - Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sclaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel fuer sich hat, ist ein Sclave, er sei uebrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter. 284. Zu Gunsten der Muessigen. - Zum Zeichen dafuer, dass die Schaetzung des beschaulichen Lebens abgenommen hat, wetteifern die Gelehrten jetzt mit den thaetigen Menschen in einer Art von hastigem Genusse, so dass sie also diese Art, zu geniessen, hoeher zu schaetzen scheinen, als die, welche ihnen eigentlich zukommt und welche in der That viel mehr Genuss ist. Die Gelehrten schaemen sich des otium. Es ist aber ein edel Ding um Musse und Muessiggehen. - Wenn Muessiggang wirklich der Anfang aller Laster ist, so befindet er sich also wenigstens in der naechsten Naehe aller Tugenden; der muessige Mensch ist immer noch ein besserer Mensch als der thaetige. - Ihr meint doch nicht, dass ich mit Musse und Muessiggehen auf euch ziele, ihr Faulthiere? - 285. Die moderne Unruhe. - Nach dem Westen zu wird die moderne Bewegtheit immer groesser, so dass den Amerikanern die Bewohner Europa's insgesammt sich als ruheliebende und geniessende Wesen darstellen, waehrend diese doch selbst wie Bienen und Wespen durcheinander fliegen. Diese Bewegtheit wird so gross, dass die hoehere Cultur ihre Fruechte nicht mehr zeitigen kann; es ist, als ob die Jahreszeiten zu rasch auf einander folgten. Aus Mangel an Ruhe laeuft unsere Civilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Thaetigen, das heisst die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehoert desshalb zu den nothwendigen Correcturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in grossem Maasse zu verstaerken. Doch hat schon jeder Einzelne, welcher in Herz und Kopf ruhig und stetig ist, das Recht zu glauben, dass er nicht nur ein gutes Temperament, sondern eine allgemein nuetzliche Tugend besitze und durch die Bewahrung dieser Tugend sogar eine hoehere Aufgabe erfuelle. 286. Inwiefern der thaetige faul ist. - Ich glaube, dass jeder ueber jedes Ding, ueber welches Meinungen moeglich sind, eine eigene Meinung haben muss, weil er selber ein eigenes, nur einmaliges Ding ist, das zu allen anderen Dingen eine neue, nie dagewesene Stellung einnimmt. Aber die Faulheit, welche im Grunde der Seele des Thaetigen liegt, verhindert den Menschen, das Wasser aus seinem eigenen Brunnen zu schoepfen. - Mit der Freiheit der Meinungen steht es wie mit der Gesundheit: beide sind individuell, von beiden kann kein allgemein gueltiger Begriff aufgestellt werden. Das, was das eine Individuum zu seiner Gesundheit noethig hat, ist fuer ein anderes schon Grund zur Erkrankung, und manche Mittel und Wege zur Freiheit des Geistes duerfen hoeher entwickelten Naturen als Wege und Mittel zur Unfreiheit gelten. 287. Censor vitae. Der Wechsel von Liebe und Hass bezeichnet fuer eine lange Zeit den inneren Zustand eines Menschen, welcher frei in seinem Urtheile ueber das Leben werden will; er vergisst nicht und traegt den Dingen Alles nach, Gutes und Boeses. Zuletzt, wenn die ganze Tafel seiner Seele mit Erfahrungen voll geschrieben ist, wird er das Dasein nicht verachten und hassen, aber es auch nicht lieben, sondern ueber ihm liegen bald mit dem Auge der Freude, bald mit dem der Trauer, und, wie die Natur, bald sommerlich, bald herbstlich gesinnt sein. 288. Nebenerfolg. - Wer ernstlich frei werden will, wird dabei ohne allen Zwang die Neigung zu Fehlern und Lastern mit verlieren; auch Aerger und Verdruss werden ihn immer seltener anfallen. Sein Wille naemlich will Nichts angelegentlicher, als Erkennen und das Mittel dazu, das heisst: den andauernden Zustand, in dem er am tuechtigsten zum Erkennen ist. 289. Werth der Krankheit. - Der Mensch, der krank zu Bette liegt, kommt mitunter dahinter, dass er fuer gewoehnlich an seinem Amte, Geschaefte oder an seiner Gesellschaft krank ist und durch sie jede Besonnenheit ueber sich verloren hat: er gewinnt diese Weisheit aus der Musse, zu welcher ihn seine Krankheit zwingt. 290. Empfindung auf dem Lande. - Wenn man nicht feste, ruhige Linien am Horizonte seines Lebens hat, Gebirgs- und Waldlinien gleichsam, so wird der innerste Wille des Menschen selber unruhig, zerstreut und begehrlich wie das Wesen des Staedters: er hat kein Glueck und giebt kein Glueck. 291. Vorsicht der freien Geister. - Freigesinnte, der Erkenntniss allein lebende Menschen werden ihr aeusserliches Lebensziel, ihre endgueltige Stellung zu Gesellschaft und Staat bald erreicht finden und zum Beispiel mit einem kleinen Amte oder einem Vermoegen, das gerade zum Leben ausreicht, gerne sich zufrieden geben; denn sie werden sich einrichten so zu leben, dass eine grosse Verwandelung der aeusseren Gueter, ja ein Umsturz der politischen Ordnungen ihr Leben nicht mit umwirft. Auf alle diese Dinge verwenden sie so wenig wie moeglich an Energie, damit sie mit der ganzen angesammelten Kraft und gleichsam mit einem langen Athem in das Element des Erkennens hinabtauchen. So koennen sie hoffen, tief zu tauchen und auch wohl auf den Grund zu sehen. - Von einem Ereigniss wird ein solcher Geist gerne nur einen Zipfel nehmen, er liebt die Dinge in der ganzen Breite und Weitschweifigkeit ihrer Falten nicht: denn er will sich nicht in diese verwickeln. - Auch er kennt die Wochentage der Unfreiheit, der Abhaengigkeit, der Dienstbarkeit. Aber von Zeit zu Zeit muss ihm ein Sonntag der Freiheit kommen, sonst wird er das Leben nicht aushalten. - Es ist wahrscheinlich, dass selbst seine Liebe zu den Menschen vorsichtig und etwas kurzathmig sein wird, denn er will sich nur, so weit es zum Zwecke der Erkenntniss noethig ist, mit der Welt der Neigungen und der Blindheit einlassen. Er muss darauf vertrauen, dass der Genius der Gerechtigkeit Etwas fuer seinen Juenger und Schuetzling sagen wird, wenn anschuldigende Stimmen ihn arm an Liebe nennen sollten. - Es giebt in seiner Lebens- und Denkweise einen verfeinerten Heroismus, welcher es verschmaeht, sich der grossen Massen-Verehrung, wie sein groeberer Bruder es thut, anzubieten und still durch die Welt und aus der Welt zu gehen pflegt. Was fuer Labyrinthe er auch durchwandert, unter welchen Felsen sich auch sein Strom zeitweilig durchgequaelt hat - kommt er an's Licht, so geht er hell, leicht und fast geraeuschlos seinen Gang und laesst den Sonnenschein bis in seinen Grund hinab spielen. 292. Vorwaerts. - Und damit vorwaerts auf der Bahn der Weisheit, guten Schrittes, guten Vertrauens! Wie du auch bist, so diene dir selber als Quell der Erfahrung! Wirf das Missvergnuegen ueber dein Wesen ab, verzeihe dir dein eignes Ich, denn in jedem Falle hast du an dir eine Leiter mit hundert Sprossen, auf welchen du zur Erkenntniss steigen kannst. Das Zeitalter, in welches du dich mit Leidwesen geworfen fuehlst, preist dich selig dieses Glueckes wegen; es ruft dir zu, dass dir jetzt noch an Erfahrungen zu Theil werde, was Menschen spaeterer Zeit vielleicht entbehren muessen. Missachte es nicht, noch religioes gewesen zu sein; ergruende es voellig, wie du noch einen aechten Zugang zur Kunst gehabt hast. Kannst du nicht gerade mit Huelfe dieser Erfahrungen ungeheuren Wegstrecken der frueheren Menschheit verstaendnisvoller nachgehen? Sind nicht gerade auf dem Boden, welcher dir mitunter so missfaellt, auf dem Boden des unreinen Denkens, viele der herrlichsten Fruechte aelterer Cultur aufgewachsen? Man muss Religion und Kunst wie Mutter und Amme geliebt haben, - sonst kann man nicht weise werden. Aber man muss ueber sie hinaus sehen, ihnen entwachsen koennen; bleibt man in ihrem Banne, so versteht man sie nicht. Ebenso muss dir die Historie vertraut sein und das vorsichtige Spiel mit den Wagschalen: "einerseits-andererseits". Wandle zurueck, in die Fussstapfen tretend, in welchen die Menschheit ihren leidvollen grossen Gang durch die Wueste der Vergangenheit machte: so bist du am gewissesten belehrt, wohin alle spaetere Menschheit nicht wieder gehen kann oder darf. Und indem du mit aller Kraft vorauserspaehen willst, wie der Knoten der Zukunft noch geknuepft wird, bekommt dein eigenes Leben den Werth eines Werkzeuges und Mittels zur Erkenntniss. Du hast es in der Hand zu erreichen, dass all dein Erlebtes: die Versuche, Irrwege, Fehler, Taeuschungen, Leidenschaften, deine Liebe und deine Hoffnung, in deinem Ziele ohne Rest aufgehn. Dieses Ziel ist, selber eine nothwendige Kette von Cultur-Ringen zu werden und von dieser Nothwendigkeit aus auf die Nothwendigkeit im Gange der allgemeinen Cultur zu schliessen. Wenn dein Blick stark genug geworden ist, den Grund in dem dunklen Brunnen deines Wesens und deiner Erkenntnisse zu sehen, so werden dir vielleicht auch in seinem Spiegel die fernen Sternbilder zukuenftiger Culturen sichtbar werden. Glaubst du, ein solches Leben mit einem solchen Ziele sei zu muehevoll, zu ledig aller Annehmlichkeiten? So hast du noch nicht gelernt, dass kein Honig suesser als der der Erkenntniss ist und dass die haengenden Wolken der Truebsal dir noch zum Euter dienen muessen, aus dem du die Milch zu deiner Labung melken wirst. Kommt das Alter, so merkst du erst recht, wie du der Stimme der Natur Gehoer gegeben, jener Natur, welche die ganze Welt durch Lust beherrscht: das selbe Leben, welches seine Spitze im Alter hat, hat auch seine Spitze in der Weisheit, in jenem milden Sonnenglanz einer bestaendigen geistigen Freudigkeit; beiden, dem Alter und der Weisheit, begegnest du auf Einem Bergruecken des Lebens, so wollte es die Natur. Dann ist es Zeit und kein Anlass zum Zuernen, dass der Nebel des Todes naht. Dem Lichte zu - deine letzte Bewegung; ein jauchzen der Erkenntniss - dein letzter Laut. Sechstes Hauptstueck. Der Mensch im Verkehr. 293. Wohlwollende Verstellung. - Es ist haeufig im Verkehre mit Menschen eine wohlwollende Verstellung noethig, als ob wir die Motive ihres Handelns nicht durchschauten. 294. Copien. - Nicht selten begegnet man Copien bedeutender Menschen; und den Meisten gefallen, wie bei Gemaelden, so auch hier, die Copien besser als die Originale. 295. Der Redner. - Man kann hoechst passend reden und doch so, dass alle Weldt ueber das Gegentheil schreit: naemlich dann, wenn man nicht zu aller Welt redet. 296. Mangel an Vertraulichkeit. - Mangel an Vertraulichkeit unter Freunden ist ein Fehler, der nicht geruegt werden kann, ohne unheilbar zu werden. 297. Zur Kunst des Schenkens. - Eine Gabe ausschlagen zu muessen, blos weil sie nicht auf die rechte Weise angeboten wurde, erbittert gegen den Geber. 298. Der gefaehrlichste Parteimann. - In jeder Partei ist Einer, der durch sein gar zu glaeubiges Aussprechen der Parteigrundsaetze die Uebrigen zum Abfall reizt. 299. Rathgeber des Kranken. Wer einem Kranken seine Rathschlaege giebt, erwirbt sich ein Gefuehl von Ueberlegenheit ueber ihn, sei es, dass sie angenommen oder dass sie verworfen werden. Desshalb hassen reizbare und stolze Kranke die Rathgeber noch mehr als ihre Krankheit. 300. Doppelte Art der Gleichheit. - Die Sucht nach Gleichheit kann sich so aeussern, dass man entweder alle Anderen zu sich hinunterziehen moechte (durch Verkleinern, Secretiren, Beinstellen) oder sich mit Allen hinauf (durch Anerkennen, Helfen, Freude an fremdem Gelingen). 301. Gegen Verlegenheit. - Das beste Mittel, sehr verlegenen Leuten zu Huelfe zu kommen und sie zu beruhigen, besteht darin, dass man sie entschieden lobt. 302. Vorliebe fuer einzelne Tugenden. - Wir legen nicht eher besonderen Werth auf den Besitz einer Tugend, bis wir deren voellige Abwesenheit an unserem Gegner wahrnehmen. 303. Warum man widerspricht. - Man widerspricht oft einer Meinung, waehrend uns eigentlich nur der Ton, mit dem sie vorgetragen wurde, unsympathisch ist. 304. Vertrauen und Vertraulichkeit. - Wer die Vertraulichkeit mit einer anderen Person geflissentlich zu erzwingen sucht, ist gewoehnlich nicht sicher darueber, ob er ihr Vertrauen besitzt. Wer des Vertrauens sicher ist, legt auf Vertraulichkeit wenig Werth. 305. Gleichgewicht der Freundschaft. - Manchmal kehrt, im Verhaeltniss von uns zu einem andern Menschen, das rechte Gleichgewicht der Freundschaft zurueck, wenn wir in unsre eigene Wagschale einige Gran Unrecht legen. 306. Die gefaehrlichsten Aerzte. - Die gefaehrlichsten Aerzte sind die, welche es dem geborenen Arzte als geborene Schauspieler mit vollkommener Kunst der Taeuschung nachmachen. 307. Wann Paradoxien am Platze sind. - Geistreichen Personen braucht man mitunter, um sie fuer einen Satz zu gewinnen, denselben nur in der Form einer ungeheuerlichen Paradoxie vorzulegen. 308. Wie muthige Leute gewonnen werden. - Muthige Leute ueberredet man dadurch zu einer Handlung, dass man dieselbe gefaehrlicher darstellt, als sie ist. 309. Artigkeiten. - Unbeliebten Personen rechnen wir die Artigkeiten, welche sie uns erweisen, zum Vergehen an. 310. Warten lassen. - Ein sicheres Mittel, die Leute aufzubringen und ihnen boese Gedanken in den Kopf zu setzen, ist, sie lange warten zu lassen. Diess macht unmoralisch. 311. Gegen die Vertraulichen. - Leute, welche uns ihr volles Vertrauen schenken, glauben dadurch ein Recht auf das unsrige zu haben. Diess ist ein Fehlschluss; durch Geschenke erwirbt man keine Rechte. 312. Ausgleichsmittel. - Es genuegt oft, einem Andern, dem man einen Nachtheil zugefuegt hat, Gelegenheit zu einem Witze ueber uns zu geben, um ihm persoenlich Genugthuung zu schaffen, ja um ihn fuer uns gut zu stimmen. 313. Eitelkeit der Zunge. - Ob der Mensch seine schlechten Eigenschaften und Laster verbirgt oder mit Offenheit sie eingesteht, so wuenscht doch in beiden Faellen seine Eitelkeit einen Vortheil dabei zu haben: man beachte nur, wie fein er unterscheidet, vor wem er jene Eigenschaften verbirgt, vor wem er ehrlich und offenherzig wird. 314. Ruecksichtsvoll. - Niemanden kraenken, Niemanden beeintraechtigen wollen kann ebensowohl das Kennzeichen einer gerechten, als einer aengstlichen Sinnesart sein. 315. Zum Disputiren erforderlich. - Wer seine Gedanken nicht auf Eis zu legen versteht, der soll sich nicht in die Hitze des Streites begeben. 316. Umgang und Anmaassung. - Man verlernt die Anmaassung, wenn man sich immer unter verdienten Menschen weiss; Allein-sein pflanzt Uebermuth. Junge Leute sind anmaassend, denn sie gehen mit Ihresgleichen um, welche alle Nichts sind, aber gerne viel bedeuten. 317. Motiv des Angriffs. - Man greift nicht nur an, um jemandem wehe zu thun, ihn zu besiegen, sondern vielleicht auch nur, um sich seiner Kraft bewusst zu werden. 318. Schmeichelei. - Personen, welche unsere Vorsicht im Verkehr mit ihnen durch Schmeicheleien betaeuben wollen, wenden ein gefaehrliches Mittel an, gleichsam einen Schlaftrunk, welcher, wenn er nicht einschlaefert, nur um so mehr wach erhaelt. 319. Guter Briefschreiber. - Der, welcher keine Buecher schreibt, viel denkt und in unzureichender Gesellschaft lebt, wird gewoehnlich ein guter Briefschreiber sein. 320. Am haesslichsten. - Es ist zu bezweifeln, ob ein Vielgereister irgendwo in der Welt haesslichere Gegenden gefunden hat, als im menschlichen Gesichte. 321. Die Mitleidigen. - Die mitleidigen, im Unglueck jederzeit huelfreichen Naturen sind selten zugleich die sich mitfreuenden: beim Glueck der Anderen haben sie Nichts zu thun, sind ueberfluessig, fuehlen sich nicht im Besitz ihrer Ueberlegenheit und zeigen desshalb leicht Missvergnuegen. 322. Verwandte eines Selbstmoerders. - Verwandte eines Selbstmoerders rechnen es ihm uebel an, dass er nicht aus Ruecksicht auf ihren Ruf am Leben geblieben ist. 323. Undank vorauszusehen. - Der, welcher etwas Grosses schenkt, findet keine Dankbarkeit; denn der Beschenkte hat schon durch das Annehmen zu viel Last. 324. In geistloser Gesellschaft. - Niemand dankt dem geistreichen Menschen die Hoeflichkeit, wenn er sich einer Gesellschaft gleichstellt, in der es nicht hoeflich ist, Geist zu zeigen. 325. Gegenwart von Zeugen. - Man springt einem Menschen, der in's Wasser faellt, noch einmal so gern nach, wenn Leute zugegen sind, die es nicht wagen. 326. Schweigen. - Die fuer beide Parteien unangenehmste Art, eine Polemik zu erwidern, ist, sich aergern und schweigen: denn der Angreifende erklaert sich das Schweigen gewoehnlich als Zeichen der Verachtung. 327. Das Geheimniss des Freundes. - Es wird Wenige geben, welche, wenn sie um Stoff zur Unterhaltung verlegen sind, nicht die geheimeren Angelegenheiten ihrer Freunde preisgeben. 328. Humanitaet. - Die Humanitaet der Beruehmtheiten des Geistes besteht darin, im Verkehre mit Unberuehmten auf eine verbindliche Art Unrecht zu behalten. 329. Der Befangene. - Menschen, die sich in der Gesellschaft nicht sicher fuehlen, benutzen jede Gelegenheit, um an einem Nahegestellten, dem sie ueberlegen sind, diese Ueberlegenheit oeffentlich, vor der Gesellschaft, zu zeigen, zum Beispiel durch Neckereien. 330. Dank. - Eine feine Seele bedrueckt es, sich Jemanden zum Dank verpflichtet zu wissen; eine grobe, sich Jemandem. 331. Merkmal der Entfremdung. - Das staerkste Anzeichen von Entfremdung der Ansichten bei zwei Menschen ist diess, dass beide sich gegenseitig einiges Ironische sagen, aber keiner von beiden das Ironische daran fuehlt. 332. Anmaassung bei Verdiensten. - Anmaassung bei Verdiensten beleidigt noch mehr, als Anmaassung von Menschen ohne Verdienst. denn schon das Verdienst beleidigt. 333. Gefahr in der Stimme. - Mitunter macht uns im Gespraeche der Klang der eigenen Stimme verlegen und verleitet uns zu Behauptungen, welche gar nicht unserer Meinung entsprechen. 334. Im Gespraeche. - Ob man im Gespraeche dem Andern vornehmlich Recht giebt oder Unrecht, ist durchaus die Sache der Angewoehnung: das Eine wie das Andere hat Sinn. 335. Furcht vor dem Naechsten. - Wir fuerchten die feindselige Stimmung des Naechsten, weil wir befuerchten, dass er durch diese Stimmung hinter unsere Heimlichkeiten kommt. 336. Durch Tadel auszeichnen. - Sehr angesehene Personen ertheilen selbst ihren Tadel so, dass sie uns damit auszeichnen wollen. Es soll uns aufmerksam machen, wie angelegentlich sie sich mit uns beschaeftigen. Wir verstehen sie ganz falsch, wenn wir ihren Tadel sachlich nehmen und uns gegen ihn vertheidigen; wir aergern sie dadurch und entfremden uns ihnen. 337. Verdruss am Wohlwollen Anderer. - Wir irren uns ueber den Grad, in welchem wir uns gehasst, gefuerchtet glauben: weil wir selber zwar gut den Grad unserer Abweichung von einer Person, Richtung, Partei kennen, jene Andern aber uns sehr oberflaechlich kennen und desshalb auch nur oberflaechlich hassen. Wir begegnen oft einem Wohlwollen, welches uns unerklaerlich ist; verstehen wir es aber, so beleidigt es uns, weil es zeigt, dass man uns nicht ernst, nicht wichtig genug nimmt. 338. Sich kreuzende Eitelkeiten. - Zwei sich begegnende Personen, deren Eitelkeit gleich gross ist, behalten hinterdrein von einander einen schlechten Eindruck, weil jede so mit dem Eindruck beschaeftigt war, den sie bei der andern hervorbringen wollte, dass die andere auf sie keinen Eindruck machte; beide merken endlich, dass ihr Bemuehen verfehlt ist und schieben je der andern die Schuld zu. 339. Unarten als gute Anzeichen. - Der ueberlegene Geist hat an den Tactlosigkeiten, Anmaassungen, ja Feindseligkeiten ehrgeiziger Juenglinge gegen ihn sein Vergnuegen; es sind die Unarten feuriger Pferde, welche noch keinen Reiter getragen haben und doch in Kurzem so stolz sein werden, ihn zu tragen. 340. Wann es rathsam ist, Unrecht zu behalten. - Man thut gut, gemachte Anschuldigungen, selbst wenn sie uns Unrecht thun, ohne Widerlegung hinzunehmen, im Fall der Anschuldigende darin ein noch groesseres Unrecht unsererseits sehen wuerde, wenn wir ihm widerspraechen und etwa gar ihn widerlegten. Freilich kann Einer auf diese Weise immer Unrecht haben und immer Recht behalten und zuletzt mit dem besten Gewissen von der Welt der unertraeglichste Tyrann und Quaelgeist werden; und was vom Einzelnen gilt, kann auch bei ganzen Classen der Gesellschaft vorkommen. 341. Zuwenig geehrt. - Sehr eingebildete Personen, denen man Zeichen von geringerer Beachtung gegeben hat, als sie erwarteten, versuchen lange, sich selbst und Andere darueber irre zu fuehren und werden spitzfindige Psychologiker, um herauszubekommen, dass der Andere sie doch genuegend geehrt hat: erreichen sie ihr Ziel nicht, reisst der Schleier der Taeuschung, so geben sie sich einer um so groesseren Wuth hin. 342. Urzustaende in der Rede nachklingend. - In der Art, wie jetzt die Maenner im Verkehre Behauptungen aufstellen, erkennt man oft einen Nachklang der Zeiten, wo dieselben sich besser auf Waffen, als auf irgend Etwas verstanden: sie handhaben ihre Behauptungen bald wie zielende Schuetzen ihr Gewehr, bald glaubt man das Sausen und Klirren der Klingen zu hoeren; und bei einigen Maennern poltert eine Behauptung herab wie ein derber Knuettel. - Frauen dagegen sprechen so, wie Wesen, welche Jahrtausende lang am Webstuhl sassen oder die Nadel fuehrten oder mit Kindern kindisch waren. 343. Der Erzaehler. - Wer Etwas erzaehlt, laesst leicht merken, ob er erzaehlt, weil ihn das Factum interessirt oder weil er durch die Erzaehlung interessiren will. Im letzteren Falle wird er uebertreiben, Superlative gebrauchen und Aehnliches thun. Er erzaehlt dann gewoehnlich schlechter, weil er nicht so sehr an die Sache, als an sich denkt. 344. Der Vorleser. - Wer dramatische Dichtungen vorliest, macht Entdeckungen ueber seinen Charakter: er findet fuer gewisse Stimmungen und Scenen seine Stimme natuerlicher, als fuer andere, etwa fuer alles Pathetische oder fuer das Scurrile, waehrend er vielleicht im gewoehnlichen Leben nur nicht Gelegenheit hatte, Pathos oder Scurrilitaet zu zeigen. 345. Eine Lustspiel-Scene, welche im Leben vorkommt. - Jemand denkt sich eine geistreiche Meinung ueber ein Thema aus, um sie in einer Gesellschaft vorzutragen. Nun wuerde man im Lustspiel anhoeren und ansehen, wie er mit allen Segeln an den Punct zu kommen und die Gesellschaft dort einzuschiffen sucht, wo er seine Bemerkung machen kann: wie er fortwaehrend die Unterhaltung nach Einem Ziele schiebt, gelegentlich die Richtung verliert, sie wiedergewinnt, endlich den Augenblick erreicht: fast versagt ihm der Athem - und da nimmt ihm Einer aus der Gesellschaft die Bemerkung vom Munde weg. Was wird er thun? Seiner eigenen Meinung opponiren? 346. Wider Willen unhoeflich. - Wenn jemand wider Willen einen Andern unhoeflich behandelt, zum Beispiel nicht gruesst, weil er ihn nicht erkennt, so wurmt ihn diess, obwohl er nicht seiner Gesinnung einen Vorwurf machen kann; ihn kraenkt die schlechte Meinung, welche er bei dem Andern erzeugt hat, oder er fuerchtet die Folgen einer Verstimmung, oder ihn schmerzt es, den Andern verletzt zu haben, - also Eitelkeit, Furcht oder Mitleid koennen rege werden, vielleicht auch alles zusammen. 347. Verraether-Meisterstueck. - Gegen den Mitverschworenen den kraenkenden Argwohn zu aeussern, ob man nicht von ihm verrathen werde, und diess gerade in dem Augenblicke, wo man selbst Verrath uebt, ist ein Meisterstueck der Bosheit, weil es den Andern persoenlich occupirt und ihn zwingt, eine Zeit lang sich sehr unverdaechtig und offen zu benehmen, so dass der wirkliche Verraether sich freie Hand gemacht hat. 348. Beleidigen und beleidigt werden. - Es ist weit angenehmer, zu beleidigen und spaeter um Verzeihung zu bitten, als beleidigt zu werden und Verzeihung zu gewaehren. Der, welcher das Erste thut, giebt ein Zeichen von Macht und nachher von Guete des Charakters. Der Andere, wenn er nicht als inhuman gelten will, muss schon verzeihen; der Genuss an der Demuethigung des Anderen ist dieser Noethigung wegen gering. 349. Im Disput. - Wenn man zugleich einer anderen Meinung widerspricht und dabei seine eigene entwickelt, so verrueckt gewoehnlich die fortwaehrende Ruecksicht auf die andere Meinung die natuerliche Haltung der eigenen: sie erscheint absichtlicher, schaerfer, vielleicht etwas uebertrieben. 350. Kunstgriff. - Wer etwas Schwieriges von einem Andern erlangen will, muss die Sache ueberhaupt nicht als Problem fassen, sondern schlicht seinen Plan hinlegen, als sei er die einzige Moeglichkeit; er muss es verstehen, wenn im Auge des Gegners der Einwand, der Widerspruch daemmert, schnell abzubrechen und ihm keine Zeit zu geben. 351. Gewissensbisse nach Gesellschaften. - Warum haben wir nach gewoehnlichen Gesellschaften Gewissensbisse? Weil wir wichtige Dinge leicht genommen haben, weil wir bei der Besprechung von Personen nicht mit voller Treue gesprochen oder weil wir geschwiegen haben, wo wir reden sollten, weil wir gelegentlich nicht aufgesprungen und fortgelaufen sind, kurz weil wir uns in der Gesellschaft benahmen, als ob wir zu ihr gehoerten. 352. Man wird falsch beurtheilt. - Wer immer darnach hinhorcht, wie er beurtheilt wird, hat immer Aerger. Denn wir werden schon von Denen, welche uns am naechsten stehen ("am besten kennen"), falsch beurtheilt. Selbst gute Freunde lassen ihre Verstimmung mitunter in einem missguenstigen Worte aus; und wuerden sie unsere Freunde sein, wenn sie uns genau kennten? - Die Urtheile der Gleichgueltigen thun sehr weh, weil sie so unbefangen, fast sachlich klingen. Merken wir aber gar, dass Jemand, der uns feind ist, uns in einem geheim gehaltenen Puncte so gut kennt, wie wir uns, wie gross ist dann erst der Verdruss! 353. Tyrannei des Portraits. - Kuenstler und Staatsmaenner, die schnell aus einzelnen Zuegen das ganze Bild eines Menschen oder Ereignisses combiniren, sind am meisten dadurch ungerecht, dass sie hinterdrein verlangen, das Ereigniss oder der Mensch muesse wirklich so sein, wie sie es malten; sie verlangen geradezu, dass Einer so begabt, so verschlagen, so ungerecht sei, wie er in ihrer Vorstellung lebt. 354. Der Verwandte als der beste Freund. - Die Griechen, die so gut wussten, was ein Freund sei, - sie allein von allen Voelkern haben eine tiefe, vielfache philosophische Eroerterung der Freundschaft; sodass ihnen zuerst, und bis jetzt zuletzt, der Freund als ein loesenswerthes Problem erschienen ist - diese selben Griechen haben die Verwandten mit einem Ausdrucke bezeichnet, welcher der Superlativ des Wortes "Freund" ist. Diess bleibt mir unerklaerlich. 355. Verkannte Ehrlichkeit. - Wenn jemand im Gespraeche sich selber citirt ("ich sagte damals", "ich pflege zu sagen"), so macht diess den Eindruck der Anmaassung, waehrend es haeufiger gerade aus der entgegengesetzten Quelle hervorgeht, mindestens aus Ehrlichkeit, welche den Augenblick nicht mit den Einfaellen schmuecken und herausputzen will, welche einem frueheren Augenblicke angehoeren. 356. Der Parasit. - Es bezeichnet einen voelligen Mangel an vornehmer Gesinnung, wenn Jemand lieber in Abhaengigkeit, auf Anderer Kosten, leben will, um nur nicht arbeiten zu muessen, gewoehnlich mit einer heimlichen Erbitterung gegen Die, von denen er abhaengt. - Eine solche Gesinnung ist viel haeufiger bei Frauen als bei Maennern, auch viel verzeihlicher (aus historischen Gruenden). 357. Auf dem Altar der Versoehnung. - Es giebt Umstaende, wo man eine Sache von einem Menschen nur so erlangt, dass man ihn beleidigt und sich verfeindet: dieses Gefuehl, einen Feind zu haben, quaelt ihn so, dass er gern das erste Anzeichen einer milderen Stimmung zur Versoehnung benuetzt und jene Sache auf dem Altar dieser Versoehnung opfert, an der ihm frueher so viel gelegen war, dass er sie um keinen Preis geben wollte. 358. Mitleid fordern als Zeichen der Anmaassung. - Es giebt Menschen, welche, wenn sie in Zorn gerathen und die Anderen beleidigen, dabei erstens verlangen, dass man ihnen Nichts uebel nehme und zweitens, dass man mit ihnen Mitleid habe, weil sie so heftigen Paroxysmen unterworfen sind. So weit geht die menschliche Anmaassung. 359. Koeder. - "Jeder Mensch hat seinen Preis", - das ist nicht wahr. Aber es findet sich wohl fuer Jeden ein Koeder, an den er anbeissen muss. So braucht man, um manche Personen fuer eine Sache zu gewinnen, dieser Sache nur den Glanz des Menschenfreundlichen, Edlen, Mildthaetigen, Aufopfernden zu geben - und welcher Sache koennte man ihn nicht geben? - Es ist das Zuckerwerk und die Naescherei ihrer Seele; andere haben anderes. 360. Verhalten beim Lobe. - Wenn gute Freunde die begabte Natur loben, so wird sie sich oefters aus Hoeflichkeit und Wohlwollen darueber erfreut zeigen, aber in Wahrheit ist es ihr gleichgueltig. Ihr eigentliches Wesen ist ganz traege dagegen und um keinen Schritt dadurch aus der Sonne oder dem Schatten, in dem sie liegt, herauszuwaelzen; aber die Menschen wollen durch Lob eine Freude machen und man wuerde sie betrueben, wenn man sich ueber ihr Lob nicht freute. 361. Die Erfahrung des Sokrates. - Ist man in einer Sache Meister geworden, so ist man gewoehnlich eben dadurch in den meisten andern Sachen ein voelliger Stuemper geblieben; aber man urtheilt gerade umgekehrt, wie diess schon Sokrates erfuhr. Diess ist der Uebelstand, welcher den Umgang mit Meistern unangenehm macht. 362. Mittel der Verthierung. - Im Kampf mit der Dummheit werden die billigsten und sanftesten Menschen zuletzt brutal. Sie sind damit vielleicht auf dem rechten Wege der Vertheidigung; denn an die dumme Stirn gehoert, als Argument, von Rechtswegen die geballte Faust. Aber weil, wie gesagt, ihr Charakter sanft und billig ist, so leiden sie durch diese Mittel der Nothwehr mehr als sie Leid zufuegen. 363. Neugierde. - Wenn die Neugierde nicht waere, wuerde wenig fuer das Wohl des Naechsten gethan werden. Aber die Neugierde schleicht sich unter dem Namen der Pflicht oder des Mitleides in das Haus des Ungluecklichen und Beduerftigen. - Vielleicht ist selbst an der vielberuehmten Mutterliebe ein gut Stueck Neugierde. 364. Verrechnung in der Gesellschaft. - Dieser wuenscht interessant zu sein durch seine Urtheile, jener durch seine Neigungen und Abneigungen, der Dritte durch seine Bekanntschaften, ein Vierter durch seine Vereinsamung - und sie verrechnen sich Alle. Denn Der, vor dem das Schauspiel aufgefuehrt wird, meint selber dabei das einzig in Betracht kommende Schauspiel zu sein. 365. Duell. - Zu Gunsten aller Ehrenhaendel und Duelle ist zu sagen, dass, wenn Einer ein so reizbares Gefuehl hat, nicht leben zu wollen, wenn Der und Der das und das ueber ihn sagt oder denkt, er ein Recht hat, die Sache auf den Tod des Einen oder des Andern ankommen zu lassen. Darueber, dass er so reizbar ist, ist gar nicht zu rechten, damit sind wir die Erben der Vergangenheit, ihrer Groesse sowohl wie ihrer Uebertreibungen, ohne welche es nie eine Groesse gab. Existirt nun ein Ehren-Kanon, welcher Blut an Stelle des Todes gelten laesst, so dass nach einem regelmaessigen Duell das Gemueth erleichtert ist, so ist diess eine grosse Wohlthat, weil sonst viele Menschenleben in Gefahr waeren. - So eine Institution erzieht uebrigens die Menschen in Vorsicht auf ihre Aeusserungen und macht den Umgang mit ihnen moeglich. 366. Vornehmheit und Dankbarkeit. - Eine vornehme Seele wird sich gern zur Dankbarkeit verpflichtet fuehlen und den Gelegenheiten, bei denen sie sich verpflichtet, nicht aengstlich aus dem Wege zu gehen; ebenso wird sie nachher gelassen in den Aeusserungen der Dankbarkeit sein; waehrend niedere Seelen sich gegen alles Verpflichtet werden straeuben oder nachher in den Aeusserungen ihrer Dankbarkeit uebertrieben und allzu sehr beflissen sind. Letzteres kommt uebrigens auch bei Personen von niederer Herkunft oder gedrueckter Stellung vor: eine Gunst, ihnen erwiesen, deucht ihnen ein Wunder von Gnade. 367. Die Stunden der Beredtsamkeit. - Der Eine hat, um gut zu sprechen, jemanden noethig, der ihm entschieden und anerkannt ueberlegen ist, der Andere kann nur vor Einem, den er ueberragt, voellige Freiheit der Rede und glueckliche Wendungen der Beredtsamkeit finden: in beiden Faellen ist es der selbe Grund; jeder von ihnen redet nur gut, wenn er sans gene redet, der Eine, weil er vor dem Hoeheren den Antrieb der Concurrenz, des Wettbewerbs nicht fuehlt, der Andere ebenfalls desshalb angesichts des Niederen. - Nun giebt es eine ganz andere Gattung von Menschen, die nur gut reden, wenn sie im Wetteifer, mit der Absicht zu siegen, reden. Welche von beiden Gattungen ist die ehrgeizigere: die, welche aus erregter Ehrsucht gut, oder die, welche aus eben diesen Motiven schlecht oder gar nicht spricht? 368. Das Talent zur Freundschaft. - Unter den Menschen, welche eine besondere Gabe zur Freundschaft haben, treten zwei Typen hervor. Der Eine ist in einem fortwaehrenden Aufsteigen und findet fuer jede Phase seiner Entwickelung einen genau zugehoerigen Freund. Die Reihe von Freunden, welche er auf diese Weise erwirbt, ist unter sich selten im Zusammenhang, mitunter in Misshelligkeit und Widerspruch: ganz dem entsprechend, dass die spaeteren Phasen in seiner Entwickelung die frueheren Phasen aufheben oder beeintraechtigen. Ein solcher Mensch mag im Scherz eine Leiter heissen. - Den andern Typus vertritt Der, welcher eine Anziehungskraft auf sehr verschiedene Charaktere und Begabungen ausuebt, so dass er einen ganzen Kreis von Freunden gewinnt; diese aber kommen dadurch selber unter einander in freundschaftliche Beziehung, trotz aller Verschiedenheit. Einen solchen Menschen nenne man einen Kreis: denn in ihm muss jene Zusammengehoerigkeit so verschiedener Anlagen und Naturen irgendwie vorgebildet sein. - Uebrigens ist die Gabe, gute Freunde zu haben, in manchem Menschen viel groesser, als die Gabe, ein guter Freund zu sein. 369. Taktik im Gespraech. - Nach einem Gespraech mit jemandem ist man am besten auf den Mitunterredner zu sprechen, wenn man Gelegenheit hatte, seinen Geist, seine Liebenswuerdigkeit vor ihm im ganzen Glanze zu zeigen. Diess benutzen kluge Menschen, welche jemanden sich guenstig stimmen wollen, indem sie bei der Unterredung ihm die besten Gelegenheiten zu einem guten Witz und dergleichen zuschieben. Es waere ein lustiges Gespraech zwischen zwei sehr Klugen zu denken, welche sich gegenseitig guenstig stimmen wollen und sich desshalb die schoenen Gelegenheiten im Gespraech hin und her zuwerfen, waehrend keiner sie annimmt: so dass das Gespraech im Ganzen geistlos und unliebenswuerdig verliefe, weil Jeder dem Andern die Gelegenheit zu Geist und Liebenswuerdigkeit zuwiese. 370. Entladung des Unmuthes. - Der Mensch, dem Etwas misslingt, fuehrt diess Misslingen lieber auf den boesen Willen eines Anderen, als auf den Zufall zurueck. Seine gereizte Empfindung wird dadurch erleichtert, eine Person und nicht eine Sache sich als Grund seines Misslingens zu denken; denn an Personen kann man sich raechen, die Unbilden des Zufalls aber muss man hinunterwuergen. Die Umgebung eines Fuersten pflegt desshalb, wenn diesem Etwas misslungen ist, einen einzelnen Menschen als angebliche Ursache ihm zu bezeichnen und im Interesse aller Hoeflinge aufzuopfern; denn der Missmuth des Fuersten wuerde sich sonst an ihnen Allen auslassen, da er ja an der Schicksalsgoettin selber keine Rache nehmen kann. 371. Die Farbe der Umgebung annehmen. - Warum ist Neigung und Abneigung so ansteckend, dass man kaum in der Naehe einer stark empfindenden Person leben kann, ohne wie ein Gefaess mit ihrem Fuer und Wider angefuellt zu werden? Erstens ist die voellige Enthaltung des Urtheils sehr schwer, mitunter fuer unsere Eitelkeit geradezu unertraeglich; sie traegt da gleiche Farbe mit der Gedanken- und Empfindungsarmuth oder mit der Aengstlichkeit, der Unmaennlichkeit: und so werden wir wenigstens dazu fortgerissen, Partei zu nehmen, vielleicht gegen die Richtung unserer Umgebung, wenn diese Stellung unserm Stolze mehr Vergnuegen macht. Gewoehnlich aber - das ist das Zweite - bringen wir uns den Uebergang von Gleichgueltigkeit zu Neigung oder Abneigung gar nicht zum Bewusstsein, sondern allmaehlich gewoehnen wir uns an die Empfindungsweise unserer Umgebung, und weil sympathisches Zustimmen und Sichverstehen so angenehm ist, tragen wir bald alle Zeichen und Parteifarben dieser Umgebung. 372. Ironie. - Die Ironie ist nur als paedagogisches Mittel am Platze, von seiten eines Lehrers im Verkehr mit Schuelern irgend welcher Art: ihr Zweck ist Demuethigung, Beschaemung, aber von jener heilsamen Art, welche gute Vorsaetze erwachen laesst und Dem, welcher uns so behandelte, Verehrung, Dankbarkeit als einem Arzte entgegenbringen heisst. Der Ironische stellt sich unwissend und zwar so gut, dass die sich mit ihm unterredenden Schueler, getaeuscht sind und in ihrem guten Glauben an ihr eigenes Besserwissen dreist werden und sich Bloessen aller Art geben; sie verlieren die Behutsamkeit und zeigen sich, wie sie sind, - bis in einem Augenblick die Leuchte, die sie dem Lehrer in's Gesicht hielten, ihre Strahlen sehr demuethigend auf sie selbst zurueckfallen laesst. - Wo ein solches Verhaeltniss, wie zwischen Lehrer und Schueler, nicht stattfindet, ist sie eine Unart, ein gemeiner Affect. Alle ironischen Schriftsteller rechnen auf die alberne Gattung von Menschen, welche sich gerne allen Anderen mit dem Autor zusammen ueberlegen fuehlen wollen, als welchen sie fuer das Mundstueck ihrer Anmaassung ansehen. - Die Gewoehnung an Ironie, ebenso wie die an Sarkasmus, verdirbt uebrigens den Charakter, sie verleiht allmaehlich die Eigenschaft einer schadenfrohen Ueberlegenheit: man ist zuletzt einem bissigen Hunde gleich, der noch das Lachen gelernt hat, ausser dem Beissen. 373. Anmaassung. - Vor Nichts soll man sich so hueten, als vor dem Aufwachsen jenes Unkrautes, welches Anmaassung heisst und uns jede gute Ernte verdirbt; denn es giebt Anmaassung in der Herzlichkeit, in der Ehrenbezeigung, in der wohlwollenden Vertraulichkeit, in der Liebkosung, im freundschaftlichen Rathe, im Eingestehen von Fehlern, in dem Mitleid fuer Andere, und alle diese schoenen Dinge erwecken Widerwillen, wenn jenes Kraut dazwischen waechst. Der Anmaassende, das heisst Der, welcher mehr bedeuten will als er ist oder gilt, macht immer eine falsche Berechnung. Zwar hat er den augenblicklichen Erfolg fuer sich, insofern die Menschen, vor denen er anmaassend ist, ihm gewoehnlich das Maass von Ehre zollen, welches er fordert, aus Angst oder Bequemlichkeit; aber sie nehmen eine schlimme Rache dafuer, insofern sie ebensoviel, als er ueber das Maass forderte, von dem Werthe subtrahiren, den sie ihm bis jetzt beilegten. Es ist Nichts, was die Menschen sich theurer bezahlen lassen, als Demuethigung. Der Anmaassende kann sein wirkliches grosses Verdienst so in den Augen der Andern verdaechtigen und klein machen, dass man mit staubigen Fuessen darauf tritt. Selbst ein stolzes Benehmen sollte man sich nur dort erlauben, wo man ganz sicher sein kann, nicht missverstanden und als anmaassend betrachtet zu werden, zum Beispiel vor Freunden und Gattinnen. Denn es giebt im Verkehre mit Menschen keine groessere Thorheit, als sich den Ruf der Anmaassung zuzuziehen; es ist noch schlimmer, als wenn man nicht gelernt hat, hoeflich zu luegen. 374. Zwiegespraech. - Das Zwiegespraech ist das vollkommene Gespraech, weil Alles, was der Eine sagt, seine bestimmte Farbe, seinen Klang, seine begleitende Gebaerde in strenger Ruecksicht auf den Anderen, mit dem gesprochen wird, erhaelt, also dem entsprechend, was beim Briefverkehr geschieht, dass ein und der selbe zehn Arten des seelischen Ausdrucks zeigt, je nachdem er bald an Diesen, bald an Jenen schreibt. Beim Zwiegespraech giebt es nur eine einzige Strahlenbrechung des Gedankens: diese bringt der Mitunterredner hervor, als der Spiegel, in welchem wir unsere Gedanken moeglichst schoen wiedererblicken wollen. Wie aber ist es bei zweien, bei dreien und mehr Mitunterrednern? Da verliert nothwendig das Gespraech an individualisirender Feinheit, die verschiedenen Ruecksichten kreuzen sich, heben sich auf; die Wendung, welche dem Einen wohlthut, ist nicht der Sinnesart des Andern gemaess. Desshalb wird der Mensch im Verkehr mit Mehreren gezwungen, sich auf sich zurueckzuziehen, die Thatsachen hinzustellen, wie sie sind, aber jenen spielenden Aether der Humanitaet den Gegenstaenden zu nehmen, welcher ein Gespraech zu den angenehmsten Dingen der Welt macht. Man hoere nur den Ton, in welchem Maenner im Verkehr mit ganzen Gruppen von Maennern zu reden pflegen, es ist als ob der Grundbass aller Rede der sei: "das bin ich, das sage ich, nun haltet davon, was ihr wollt!" Diess ist der Grund, wesshalb geistreiche Frauen bei Dem, welcher sie in der Gesellschaft kennen lernte, meistens einen befremdenden, peinlichen, abschreckenden Eindruck hinterlassen: es ist das Reden zu Vielen, vor Vielen, welches sie aller geistigen Liebenswuerdigkeit beraubt und nur das bewusste Beruhen auf sich selbst, ihre Taktik und die Absicht auf oeffentlichen Sieg in grellem Lichte zeigt: waehrend die selben Frauen im Zwiegespraeche wieder zu Weibern werden und ihre geistige Anmuth wiederfinden. 375. Nachruhm. - Auf die Anerkennung einer fernen Zukunft hoffen, hat nur Sinn, wenn man die Annahme macht, dass die Menschheit wesentlich unveraendert bleibe und dass alles Grosse nicht fuer Eine, sondern fuer alle Zeiten als gross empfunden werden muesse. Diess ist aber ein Irrthum; die Menschheit, in allem Empfinden und Urtheilen ueber Das, was schoen und gut ist, verwandelt sich sehr stark; es ist Phantasterei, von sich zu glauben, dass man eine Meile Wegs voraus sei und dass die gesammte Menschheit unsere Strasse ziehe. Zudem: ein Gelehrter, der verkannt wird, darf jetzt bestimmt darauf rechnen, dass seine Entdeckung von Anderen auch gemacht wird, und dass ihm besten Falls einmal spaeter von einem Historiker zuerkannt wird, er habe diess und jenes auch schon gewusst, sei aber nicht im Stande gewesen, seinem Satz Glauben zu verschaffen. Nicht-anerkannt-werden wird von der Nachwelt immer als Mangel an Kraft ausgelegt. - Kurz, man soll der hochmuethigen Vereinsamung nicht so leicht das Wort reden. Es giebt uebrigens Ausnahmefaelle; aber zumeist sind es unsere Fehler, Schwaechen und Narrheiten, welche die Anerkennung unserer grossen Eigenschaften verhindern. 376. Von den Freunden. - Ueberlege nur mit dir selber einmal, wie verschieden die Empfindungen, wie getheilt die Meinungen selbst unter den naechsten Bekannten sind; wie selbst gleiche Meinungen in den Koepfen deiner Freunde eine ganz andere Stellung oder Staerke haben, als in deinem; wie hundertfaeltig der Anlass kommt zum Missverstehen, zum feindseligen Auseinanderfliehen. Nach alledem wirst du dir sagen: wie unsicher ist der Boden, auf dem alle unsere Buendnisse und Freundschaften ruhen, wie nahe sind kalte Regenguesse oder boese Wetter, wie vereinsamt ist jeder Mensch! Sieht Einer diess ein und noch dazu, dass alle Meinungen und deren Art und Staerke bei seinen Mitmenschen ebenso nothwendig und unverantwortlich sind wie ihre Handlungen, gewinnt er das Auge fuer diese innere Nothwendigkeit der Meinungen aus der unloesbaren Verflechtung von Charakter, Beschaeftigung, Talent, Umgebung, - so wird er vielleicht die Bitterkeit und Schaerfe jener Empfindung los, mit der jener Weise rief: "Freunde, es giebt keine Freunde!" Er wird sich vielmehr eingestehen: ja es giebt Freunde, aber der Irrthum, die Taeuschung ueber dich fuehrte sie dir zu; und Schweigen muessen sie gelernt haben, um dir Freund zu bleiben; denn fast immer beruhen solche menschliche Beziehungen darauf, dass irgend ein paar Dinge nie gesagt werden, ja dass an sie nie geruehrt wird; kommen diese Steinchen aber in's Rollen, so folgt die Freundschaft hinterdrein und zerbricht. Giebt es Menschen, welche nicht toedtlich zu verletzen sind, wenn sie erfuehren, was ihre vertrautesten Freunde im Grunde von ihnen wissen? - Indem wir uns selbst erkennen und unser Wesen selber als eine wandelnde Sphaere der Meinungen und Stimmungen ansehen und somit ein Wenig geringschaetzen lernen, bringen wir uns wieder in's Gleichgewicht mit den Uebrigen. Es ist wahr, wir haben gute Gruende, jeden unserer Bekannten, und seien es die groessten, gering zu achten; aber eben so gute, diese Empfindung gegen uns selber zu kehren. - Und so wollen wir es mit einander aushalten, da wir es ja mit uns aushalten; und vielleicht kommt jedem auch einmal die freudigere Stunde, wo er sagt: "Freunde, es giebt keine Freunde!" so rief der sterbende Weise; "Feinde, es giebt keinen Feind!" - ruf' ich, der lebende Thor. Siebentes Hauptstueck. Weib und Kind. 377. Das vollkommene Weib. - Das vollkommene Weib ist ein hoeherer Typus des Menschen, als der vollkommene Mann: auch etwas viel Selteneres. - Die Naturwissenschaft der Thiere bietet ein Mittel, diesen Satz wahrscheinlich zu machen. 378. Freundschaft und Ehe. - Der beste Freund wird wahrscheinlich die beste Gattin bekommen, weil die gute Ehe auf dem Talent zur Freundschaft beruht. 379. Fortleben der Eltern. - Die unaufgeloesten Dissonanzen im Verhaeltniss von Charakter und Gesinnung der Eltern klingen in dem Wesen des Kindes fort und machen seine innere Leidensgeschichte aus. 380. Von der Mutter her. - Jedermann traegt ein Bild des Weibes von der Mutter her in sich: davon wird er bestimmt, die Weiber ueberhaupt zu verehren oder sie geringzuschaetzen oder gegen sie im Allgemeinen gleichgueltig zu sein. 381. Die Natur corrigiren. - Wenn man keinen guten Vater hat, so soll man sich einen anschaffen. 382. Vaeter und Soehne. - Vaeter haben viel zu thun, um es wieder gut zu machen, dass sie Soehne haben. 383. Irrthum vornehmer Frauen. - Die vornehmen Frauen denken, dass eine Sache gar nicht da ist, wenn es nicht moeglich ist, von ihr in der Gesellschaft zu sprechen. 384. Eine Maennerkrankheit. - Gegen die Maennerkrankheit der Selbstverachtung hilft es am sichersten, von einem klugen Weibe geliebt zu werden. 385. Eine Art der Eifersucht. - Muetter sind leicht eifersuechtig auf die Freunde ihrer Soehne, wenn diese besondere Erfolge haben. Gewoehnlich liebt eine Mutter sich mehr in ihrem Sohn, als den Sohn selber. 386. Vernuenftige Unvernunft. - In der Reife des Lebens und des Verstandes ueberkommt den Menschen das Gefuehl, dass sein Vater Unrecht hatte, ihn zu zeugen. 387. Muetterliche Guete. - Manche Mutter braucht glueckliche geehrte Kinder, manche unglueckliche: sonst kann sich ihre Guete als Mutter nicht zeigen. 388. Verschiedene Seufzer. - Einige Maenner haben ueber die Entfuehrung ihrer Frauen geseufzt, die meisten darueber, dass Niemand sie ihnen entfuehren wollte. 389. Liebesheirathen. - Die Ehen, welche aus Liebe geschlossen werden (die sogenannten Liebesheirathen), haben den Irrthum zum Vater und die Noth (das Beduerfniss) zur Mutter. 390. Frauenfreundschaft. - Frauen koennen recht gut mit einem Manne Freundschaft schliessen; aber um diese aufrecht zu erhalten - dazu muss wohl eine kleine physische Antipathie mithelfen. 391. Langeweile. - Viele Menschen, namentlich Frauen, empfinden die Langeweile nicht, weil sie niemals ordentlich arbeiten gelernt haben. 392. Ein Element der Liebe. - In jeder Art der weiblichen Liebe kommt auch Etwas von der muetterlichen Liebe zum Vorschein. 393. Die Einheit des Ortes und das Drama. - Wenn die Ehegatten nicht beisammen lebten, wuerden die guten Ehen haeufiger sein. 394. Gewoehnliche Folgen der Ehe. - Jeder Umgang, der nicht hebt, zieht nieder, und umgekehrt; desshalb sinken gewoehnlich die Maenner etwas, wenn sie Frauen nehmen, waehrend die Frauen etwas gehoben werden. Allzu geistige Maenner beduerfen eben so sehr der Ehe, als sie ihr wie einer widrigen Medicin widerstreben. 395. Befehlen lehren. - Kinder aus bescheidenen Familien muss man eben so sehr das Befehlen durch Erziehung lehren, wie andere Kinder das Gehorchen. 396. Verliebt werden wollen. - Verlobte, welche die Convenienz zusammengefuegt hat, bemuehen sich haeufig, verliebt zu werden, um ueber den Vorwurf der kalten, berechnenden Nuetzlichkeit hinwegzukommen. Ebenso bemuehen sich Solche, die ihres Vortheils wegen zum Christenthum umlenken, wirklich fromm zu werden; denn so wird das religioese Mienenspiel ihnen leichter. 397. Kein Stillstand in der Liebe. - Ein Musiker, der das langsame Tempo liebt, wird die selben Tonstuecke immer langsamer nehmen. So giebt es in keiner Liebe ein Stillstehen. 398. Schamhaftigkeit. - Mit der Schoenheit der Frauen nimmt im Allgemeinen ihre Schamhaftigkeit zu. 399. Ehe von gutem Bestand. - Eine Ehe, in der Jedes durch das Andere ein individuelles Ziel erreichen will, haelt gut zusammen, zum Beispiel wenn die Frau durch den Mann beruehmt, der Mann durch die Frau beliebt werden will. 400. Proteus-Natur.- Weiber werden aus Liebe ganz zu dem, als was sie in der Vorstellung der Maenner, von denen sie geliebt werden, leben. 401. Lieben und besitzen. - Frauen lieben meistens einen bedeutenden Mann so, dass sie ihn allein haben wollen. Sie wuerden ihn gern in Verschluss legen, wenn nicht ihre Eitelkeit widerriethe: diese will, dass er auch vor Anderen bedeutend erscheine. 402. Probe einer guten Ehe. - Die Guete einer Ehe bewaehrt sich dadurch, dass sie einmal eine "Ausnahme" vertraegt. 403. Mittel, Alle zu Allem zu bringen. - Man kann Jedermann so durch Unruhen, Aengste, Ueberhaeufung von Arbeit und Gedanken abmatten und schwach machen, dass er einer Sache, die den Schein des Complicirten hat, nicht mehr widersteht, sondern ihr nachgiebt, - das wissen die Diplomaten und die Weiber. 404. Ehrbarkeit und Ehrlichkeit. - Jene Maedchen, welche allein ihrem Jugendreize die Versorgung fuer's ganze Leben verdanken wollen und deren Schlauheit die gewitzigten Muetter noch souffliren, wollen ganz das Selbe wie die Hetaeren, nur dass sie klueger und unehrlicher als diese sind. 405. Masken. - Es giebt Frauen, die, wo man bei ihnen auch nachsucht, kein Inneres haben, sondern reine Masken sind. Der Mann ist zu beklagen, der sich mit solchen fast gespenstischen, nothwendig unbefriedigenden Wesen einlaesst, aber gerade sie vermoegen das Verlangen des Mannes auf das staerkste zu erregen: er sucht nach ihrer Seele - und sucht immer fort. 406. Die Ehe als langes Gespraech. - Man soll sich beim Eingehen einer Ehe die Frage vorlegen: glaubst du, dich mit dieser Frau bis in's Alter hinein gut zu unterhalten? Alles Andere in der Ehe ist transitorisch, aber die meiste Zeit des Verkehrs gehoert dem Gespraeche an. 407. Maedchentraeume. - Unerfahrene Maedchen schmeicheln sich mit der Vorstellung, dass es in ihrer Macht stehe, einen Mann gluecklich zu machen; spaeter lernen sie, dass es so viel heisst als: einen Mann geringschaetzen, wenn man annimmt, dass es nur eines Maedchens beduerfe, um ihn gluecklich zu machen. - Die Eitelkeit der Frauen verlangt, dass ein Mann mehr sei, als ein gluecklicher Gatte. 408. Aussterben von Faust und Gretchen. - Nach der sehr einsichtigen Bemerkung eines Gelehrten aehneln die gebildeten Maenner des gegenwaertigen Deutschland einer Mischung von Mephistopheles und Wagner, aber durchaus nicht Fausten: welchen die Grossvaeter (in ihrer Jugend wenigstens) in sich rumoren fuehlten. Zu ihnen passen also - um jenen Satz fortzusetzen - aus zwei Gruenden die Gretchen nicht. Und weil sie nicht mehr begehrt werden, so sterben sie, scheint es, aus. 409. Maedchen als Gymnasiasten. - Um Alles in der Welt nicht noch unsere Gymnasialbildung auf die Maedchen uebertragen! Sie, die haeufig aus geistreichen, wissbegierigen, feurigen jungen - Abbilder ihrer Lehrer macht! 410. Ohne Nebenbuhlerinnen. - Frauen merken es einem Manne leicht an, ob seine Seele schon in Besitz genommen ist; sie wollen ohne Nebenbuhlerinnen geliebt sein und verargen ihm die Ziele seines Ehrgeizes, seine politischen Aufgaben, seine Wissenschaften und Kuenste, wenn er eine Leidenschaft zu solchen Sachen hat. Es sei denn, dass er durch diese glaenze, - dann erhoffen sie, im Falle einer Liebesverbindung mit ihm, zugleich einen Zuwachs ihres Glanzes; wenn es so steht, beguenstigen sie den Liebhaber. 411. Der weibliche Intellect. - Der Intellect der Weiber zeigt sich als vollkommene Beherrschung, Gegenwaertigkeit des Geistes, Benutzung aller Vortheile. Sie vererben ihn als ihre Grundeigenschaft auf ihre Kinder, und der Vater giebt den dunkleren Hintergrund des Willens dazu. Sein Einfluss bestimmt gleichsam Rhythmus und Harmonie, mit denen das neue Leben abgespielt werden soll; aber die Melodie desselben stammt vom Weibe. - Fuer Solche gesagt, welche Etwas sich zurecht zu legen wissen: die Weiber haben den Verstand, die Maenner das Gemueth und die Leidenschaft. Dem widerspricht nicht, dass die Maenner thatsaechlich es mit ihrem Verstande so viel weiterbringen: sie haben die tieferen, gewaltigeren Antriebe; diese tragen ihren Verstand, der an sich etwas Passives ist, so weit. Die Weiber wundern sich im Stillen oft ueber die grosse Verehrung, welche die Maenner ihrem Gemuethe zollen. Wenn die Maenner vor Allem nach einem tiefen, gemuethvollen Wesen, die Weiber aber nach einem klugen, geistesgegenwaertigen und glaenzenden Wesen bei der Wahl ihres Ehegenossen suchen, so sieht man im Grunde deutlich, wie der Mann nach dem idealisirten Manne, das Weib nach dem idealisirten Weibe sucht, also nicht nach Ergaenzung, sondern nach Vollendung der eigenen Vorzuege. 412. Ein Urtheil Hesiod's bekraeftigt. - Ein Zeichen fuer die Klugheit der Weiber ist es, dass sie es fast ueberall verstanden haben, sich ernaehren zu lassen, wie Drohnen im Bienenkorbe. Man erwaege doch, was das aber urspruenglich bedeuten will und warum die Maenner sich nicht von den Frauen ernaehren lassen. Gewiss weil die maennliche Eitelkeit und Ehrsucht groesser als die weibliche Klugheit ist; denn die Frauen haben es verstanden, sich durch Unterordnung doch den ueberwiegenden Vortheil, ja die Herrschaft zu sichern. Selbst das Pflegen der Kinder koennte urspruenglich von der Klugheit der Weiber als Vorwand benutzt sein, um sich der Arbeit moeglichst zu entziehen. Auch jetzt noch verstehen sie, wenn sie wirklich thaetig sind, zum Beispiel als Haushaelterinnen, davon ein sinnverwirrendes Aufheben zu machen: so dass von den Maennern das Verdienst ihrer Thaetigkeit zehnfach ueberschaetzt zu werden pflegt. 413. Die Kurzsichtigen sind verliebt. - Mitunter genuegt schon eine staerkere Brille, um den Verliebten zu heilen; und wer die Kraft der Einbildung haette, um ein Gesicht, eine Gestalt sich zwanzig Jahre aelter vorzustellen, gienge vielleicht sehr ungestoert durch das Leben. 414. Frauen im Hass. - Im Zustande des Hasses sind Frauen gefaehrlicher, als Maenner; zuvoerderst weil sie durch keine Ruecksicht auf Billigkeit in ihrer einmal erregten feindseligen Empfindung gehemmt werden, sondern ungestoert ihren Hass bis zu den letzten Consequenzen anwachsen lassen, sodann weil sie darauf eingeuebt sind, wunde Stellen (die jeder Mensch, jede Partei hat) zu finden und dort hinein zu stechen: wozu ihnen ihr dolchspitzer Verstand treffliche Dienste leistet (waehrend die Maenner beim Anblick von Wunden zurueckhaltend, oft grossmuethig und versoehnlich gestimmt werden). 415. Liebe. - Die Abgoetterei, welche die Frauen mit der Liebe treiben, ist im Grunde und urspruenglich eine Erfindung der Klugheit, insofern sie ihre Macht durch alle jene Idealisirungen der Liebe erhoehen und sich in den Augen der Maenner als immer begehrenswerther darstellen. Aber durch die Jahrhundertelange Gewoehnung an diese uebertriebene Schaetzung der Liebe ist es geschehen, dass sie in ihr eigenes Netz gelaufen sind und jenen Ursprung vergessen haben. Sie selber sind jetzt noch mehr die Getaeuschten, als die Maenner, und leiden desshalb auch mehr an der Enttaeuschung, welche fast nothwendig im Leben jeder Frau eintreten wird - sofern sie ueberhaupt Phantasie und Verstand genug hat, um getaeuscht und enttaeuscht werden zu koennen. 416. Zur Emancipation der Frauen. - Koennen die Frauen ueberhaupt gerecht sein, wenn sie so gewohnt sind, zu lieben, gleich fuer oder wider zu empfinden? Daher sind sie auch seltener fuer Sachen, mehr fuer Personen eingenommen: sind sie es aber fuer Sachen, so werden sie sofort deren Parteigaenger und verderben damit die reine unschuldige Wirkung derselben. So entsteht eine nicht geringe Gefahr, wenn ihnen die Politik und einzelne Theile der Wissenschaft anvertraut werden (zum Beispiel Geschichte). Denn was waere seltener, als eine Frau, welche wirklich wuesste, was Wissenschaft ist? Die besten naehren sogar im Busen gegen sie eine heimliche Geringschaetzung, als ob sie irgend wodurch ihr ueberlegen waeren. Vielleicht kann diess Alles anders werden, einstweilen ist es so. 417. Die Inspiration im Urtheile der Frauen. - Jene ploetzlichen Entscheidungen ueber das Fuer und Wider, welche Frauen zu geben pflegen, die blitzschnellen Erhellungen persoenlicher Beziehungen durch ihre hervorbrechenden Neigungen und Abneigungen, kurz die Beweise der weiblichen Ungerechtigkeit sind von liebenden Maennern mit einem Glanz umgeben worden, als ob alle Frauen Inspirationen von Weisheit haetten, auch ohne den delphischen Kessel und die Lorbeerbinde: und ihre Aussprueche werden noch lange nachher wie sibyllinische Orakel interpretirt und zurechtgelegt. Wenn man aber erwaegt, dass fuer jede Person, fuer jede Sache sich etwas geltend machen laesst, aber ebenso gut auch Etwas gegen sie, dass alle Dinge nicht nur zwei-, sondern drei- und vierseitig sind, so ist es beinahe Schwer, mit solchen ploetzlichen Entscheidungen gaenzlich fehl zu greifen; ja man koennte sagen: die Natur der Dinge ist so eingerichtet, dass die Frauen immer Recht behalten. 418. Sich lieben lassen. - Weil die eine von zwei liebenden Personen gewoehnlich die liebende, die andere die geliebte Person ist, so ist der Glaube entstanden, es gaebe in jedem Liebeshandel ein gleichbleibendes Maass von Liebe: je mehr eine davon an sich reisse, um so weniger bleibe fuer die andere Person uebrig. Ausnahmsweise kommt es vor, dass die Eitelkeit jede der beiden Personen ueberredet, sie sei die, welche geliebt werden muesse; so dass sich beide lieben lassen wollen: woraus sich namentlich in der Ehe mancherlei halb drollige, halb absurde Scenen ergeben. 419. Widersprueche in weiblichen Koepfen. - Weil die Weiber so viel mehr persoenlich als sachlich sind, vertragen sich in ihrem Gedankenkreise Richtungen, die logisch mit einander in Widerspruch sind: sie pflegen sich eben fuer die Vertreter dieser Richtungen der Reihe nach zu begeistern und nehmen deren Systeme in Bausch und Bogen an; doch so, dass ueberall dort eine todte Stelle entsteht, wo eine neue Persoenlichkeit spaeter das Uebergewicht bekommt. Es kommt vielleicht vor, dass die ganze Philosophie im Kopf einer alten Frau aus lauter solchen todten Stellen besteht. 420. Wer leidet mehr? - Nach einem persoenlichen Zwiespalt und Zanke zwischen einer Frau und einem Manne leidet der eine Theil am meisten bei der Vorstellung, dem anderen Wehe gethan zu haben; waehrend jener am meisten bei der Vorstellung leidet, dem andern nicht genug Wehe gethan zu haben, wesshalb er sich bemueht, durch Thraenen, Schluchzen und verstoerte Mienen, ihm noch hinterdrein das Herz schwer zu machen. 421. Gelegenheit zu weiblicher Grossmuth. - Wenn man sich ueber die Ansprueche der Sitte einmal in Gedanken hinwegsetzt, so koennte man wohl erwaegen, ob nicht Natur und Vernunft den Mann auf mehrfache Verheirathung nach einander anweist, etwa in der Gestalt, dass er zuerst im Alter von zwei und zwanzig Jahren ein aelteres Maedchen heirathet, das ihm geistig und sittlich ueberlegen ist und seine Fuehrerin durch die Gefahren der zwanziger Jahre (Ehrgeiz, Hass, Selbstverachtung, Leidenschaften aller Art) werden kann. Die Liebe dieser wuerde spaeter ganz in das Muetterliche uebertreten, und sie ertruege es nicht nur, sondern foerderte es auf die heilsamste Weise, wenn der Mann in den dreissiger Jahren mit einem ganz jungen Maedchen eine Verbindung eingienge, dessen Erziehung er selber in die Hand naehme. - Die Ehe ist fuer die zwanziger Jahre einnoethiges, fuer die dreissiger ein nuetzliches, aber nicht noethiges Institut: fuer das spaetere Leben wird sie oft schaedlich und befoerdert die geistige Rueckbildung des Mannes. 422. Tragoedie der Kindheit. - Es kommt vielleicht nicht selten vor, dass edel- und hochstrebende Menschen ihren haertesten Kampf in der Kindheit zu bestehen haben: etwa dadurch, dass sie ihre Gesinnung gegen einen niedrig denkenden, dem Schein und der Luegnerei ergebenen Vater durchsetzen muessen, oder fortwaehrend, wie Lord Byron, im Kampfe mit einer kindischen und zornwuethigen Mutter leben. Hat man so Etwas erlebt, so wird man sein Leben lang es nicht verschmerzen, zu wissen, wer Einem eigentlich der groesste, der gefaehrlichste Feind gewesen ist. 423. Eltern-Thorheit. - Die groebsten Irrthuemer in der Beurtheilung eines Menschen werden von dessen Eltern gemacht: diess ist eine Thatsache, aber wie soll man sie erklaeren? Haben die Eltern zu viele Erfahrung von dem Kinde und koennen sie diese nicht mehr zu einer Einheit zusammenbringen? Man bemerkt, dass Reisende unter fremden Voelkern nur in der ersten Zeit ihres Aufenthaltes die allgemeinen unterscheidenden Zuege eines Volkes richtig erfassen; je mehr sie das Volk kennen lernen, desto mehr verlernen sie, das Typische und Unterscheidende an ihm zu sehen. Sobald sie nah-sichtig werden, hoeren ihre Augen auf, fern-sichtig zu sein. Sollten die Eltern desshalb falsch ueber das Kind urtheilen, weil sie ihm nie fern genug gestanden haben? - Eine ganz andere Erklaerung waere folgende: die Menschen pflegen ueber das Naechste, was sie umgiebt, nicht mehr nachzudenken, sondern es nur hinzunehmen. Vielleicht ist die gewohnheitsmaessige Gedankenlosigkeit der Eltern der Grund, wesshalb sie, einmal genoethigt ueber ihre Kinder zu urtheilen, so schief urtheilen. 424. Aus der Zukunft der Ehe. - Jene edlen, freigesinnten Frauen, welche die Erziehung und Erhebung des weiblichen Geschlechtes sich zur Aufgabe stellen, sollen einen Gesichtspunct nicht uebersehen: die Ehe in ihrer hoeheren Auffassung gedacht, als Seelenfreundschaft zweier Menschen verschiedenen Geschlechts, also so, wie sie von der Zukunft erhofft wird, zum Zweck der Erzeugung und Erziehung einer neuen Generation geschlossen, - eine solche Ehe, welche das Sinnliche gleichsam nur als ein seltenes, gelegentliches Mittel fuer einen groesseren Zweck gebraucht, bedarf wahrscheinlich, wie man besorgen muss, einer natuerlichen Beihuelfe, des Concubinats; denn wenn aus Gruenden der Gesundheit des Mannes das Eheweib auch zur alleinigen Befriedigung des geschlechtlichen Beduerfnisses dienen soll, so wird bei der Wahl einer Gattin schon ein falscher, den angedeuteten Zielen entgegengesetzter Gesichtspunct maassgebend sein: die Erzielung der Nachkommenschaft wird zufaellig, die glueckliche Erziehung hoechst unwahrscheinlich. Eine gute Gattin, welche Freundin, Gehuelfin, Gebaererin, Mutter, Familienhaupt, Verwalterin sein soll, ja vielleicht abgesondert von dem Manne ihrem eigenen Geschaeft und Amte vorzustehen hat, kann nicht zugleich Concubine sein: es hiesse im Allgemeinen zu viel von ihr verlangen. Somit koennte in Zukunft das Umgekehrte dessen eintreten, was zu Perikles' Zeiten in Athen sich begab: die Maenner, welche damals an ihren Eheweibern nicht viel mehr als Concubinen hatten, wandten sich nebenbei zu den Aspasien, weil sie nach den Reizen einer kopf- und herzbefreienden Geselligkeit verlangten, wie eine solche nur die Anmuth und geistige Biegsamkeit der Frauen zu schaffen vermag. Alle menschlichen Institutionen, wie die Ehe, gestatten nur einen maessigen Grad von praktischer Idealisirung, widrigenfalls sofort grobe Remeduren noethig werden. 425. Sturm- und Drangperiode der Frauen. - Man kann in den drei oder vier civilisirten Laendern Europa's aus den Frauen durch einige Jahrhunderte von Erziehung Alles machen, was man will, selbst Maenner, freilich nicht in geschlechtlichem Sinne, aber doch in jedem anderen Sinne. Sie werden unter einer solchen Einwirkung einmal alle maennlichen Tugenden und Staerken angenommen haben, dabei allerdings auch deren Schwaechen und Laster mit in den Kauf nehmen muessen: so viel, wie gesagt, kann man erzwingen. Aber wie werden wir den dadurch herbeigefuehrten Zwischenzustand aushalten, welcher vielleicht selber ein paar Jahrhunderte dauern kann, waehrend denen die weiblichen Narrheiten und Ungerechtigkeiten, ihr uraltes Angebinde, noch die Uebermacht ueber alles Hinzugewonnene, Angelernte behaupten? Diese Zeit wird es sein, in welcher der Zorn den eigentlich maennlichen Affect ausmacht, der Zorn darueber, dass alle Kuenste und Wissenschaften durch einen unerhoerten Dilettantismus ueberschwemmt und verschlammt sind, die Philosophie durch sinnverwirrendes Geschwaetz zu Tode geredet, die Politik phantastischer und parteiischer als je, die Gesellschaft in voller Aufloesung ist, weil die Bewahrerinnen der alten Sitte sich selber laecherlich geworden und in jeder Beziehung ausser der Sitte zu stehen bestrebt sind. Hatten naemlich die Frauen ihre groesste Macht in der Sitte, wonach werden sie greifen muessen, um eine aehnliche Fuelle der Macht wiederzugewinnen, nachdem sie die Sitte aufgegeben haben? 426. Freigeist und Ehe. - Ob die Freigeister mit Frauen leben werden? Im Allgemeinen glaube ich, dass sie, gleich den wahrsagenden Voegeln des Alterthums, als die Wahrdenkenden, Wahrheit-Redenden der Gegenwart es vorziehen muessen, allein zu fliegen. 427. Glueck der Ehe. - Alles Gewohnte zieht ein immer fester werdendes Netz von Spinneweben um uns zusammen; und alsobald merken wir, dass die Faeden zu Stricken geworden sind und dass wir selber als Spinne in der Mitte sitzen, die sich hier gefangen hat und von ihrem eigenen Blute zehren muss. Desshalb hasst der Freigeist alle Gewoehnungen und Regeln, alles Dauernde und Definitive, desshalb reisst er, mit Schmerz, das Netz um sich immer wieder auseinander: wiewohl er in Folge dessen an zahlreichen kleinen und grossen Wunden leiden wird, - denn jene Faeden muss er von sich, von seinem Leibe, seiner Seele abreissen. Er muss dort lieben lernen, wo er bisher hasste, und umgekehrt. Ja es darf fuer ihn nichts Unmoegliches sein, auf das selbe Feld Drachenzaehne auszusaeen, auf welches er vorher die Fuellhoerner seiner Guete ausstroemen liess. - Daraus laesst sich abnehmen, ob er fuer das Glueck der Ehe geschaffen ist. 428. Zunahe. - Leben wir zu nahe mit einem Menschen zusammen, so geht es uns so, wie wenn wir einen guten Kupferstich immer wieder mit blossen Fingern anfassen: eines Tages haben wir schlechtes beschmutztes Papier und Nichts weiter mehr in den Haenden. Auch die Seele eines Menschen wird durch bestaendiges Angreifen endlich abgegriffen; mindestens erscheint sie uns endlich so, - wir sehen ihre urspruengliche Zeichnung und Schoenheit nie wieder. - Man verliert immer durch den allzuvertraulichen Umgang mit Frauen und Freunden; und mitunter verliert man die Perle seines Lebens dabei. 429. Die goldene Wiege. - Der Freigeist wird immer aufathmen, wenn er sich endlich entschlossen hat, jenes mutterhafte Sorgen und Bewachen, mit welchem die Frauen um ihn walten, von sich abzuschuetteln. Was schadet ihm denn ein rauherer Luftzug, den man so aengstlich von ihm wehrte, was bedeutet ein wirklicher Nachtheil, Verlust, Unfall, eine Erkrankung, Verschuldung, Bethoerung mehr oder weniger in seinem Leben, verglichen mit der Unfreiheit der goldenen Wiege, des Pfauenschweif-Wedels und der drueckenden Empfindung, noch dazu dankbar sein zu muessen, weil er wie ein Saeugling gewartet und verwoehnt wird? Desshalb kann sich die Milch, welche die muetterliche Gesinnung der ihn umgebenden Frauen reicht, so leicht in Galle verwandeln. 430. Freiwilliges Opferthier. - Durch Nichts erleichtern bedeutende Frauen ihren Maennern, falls diese beruehmt und gross sind, das Leben so sehr, als dadurch dass sie gleichsam das Gefaess der allgemeinen Ungunst und gelegentlichen Verstimmung der uebrigen Menschen werden. Die Zeitgenossen pflegen ihren grossen Maennern viel Fehlgriffe und Narrheiten, ja Handlungen grober Ungerechtigkeit nachzusehen, wenn sie nur Jemanden finden, den sie als eigentliches Opferthier zur Erleichterung ihres Gemuethes misshandeln und schlachten duerfen. Nicht selten findet eine Frau den Ehrgeiz in sich, sich zu dieser Opferung anzubieten, und dann kann freilich der Mann sehr zufrieden sein, - falls er naemlich Egoist genug ist, um sich einen solchen freiwilligen Blitz-, Sturm- und Regenableiter in seiner Naehe gefallen zu lassen. 431. Angenehme Widersacher. - Die naturgemaesse Neigung der Frauen zu ruhigem, gleichmaessigem, gluecklich zusammenstimmendem Dasein und Verkehren, das Oelgleiche und Beschwichtigende ihrer Wirkungen auf dem Meere des Lebens, arbeitet unwillkuerlich dem heroischeren inneren Drange des Freigeistes entgegen. Ohne dass sie es merken, handeln die Frauen so, als wenn man dem wandernden Mineralogen die Steine vom Wege nimmt, damit sein Fuss nicht daran stosse, - waehrend er gerade ausgezogen ist, um daran zu stossen. 432. Missklang zweier Consonanzen. - Die Frauen wollen dienen und haben darin ihr Glueck: und der Freigeist will nicht bedient sein und hat darin sein Glueck. 433. Xanthippe. - Sokrates fand eine Frau, wie er sie brauchte, - aber auch er haette sie nicht gesucht, falls er sie gut genug gekannt haette: so weit waere auch der Heroismus dieses freien Geistes nicht gegangen. Thatsaechlich trieb ihn Xanthippe in seinen eigenthuemlichen Beruf immer mehr hinein, indem sie ihm Haus und Heim unhaeuslich und unheimlich machte: sie lehrte ihn, auf den Gassen und ueberall dort zu leben, wo man schwaetzen und muessig sein konnte und bildete ihn damit zum groessten athenischen Gassen-Dialektiker aus: der sich zuletzt selber mit einer zudringlichen Bremse vergleichen musste, welche dem schoenen Pferde Athen von einem Gotte auf den Nacken gesetzt sei, um es nicht zur Ruhe kommen zu lassen. 434. Fuer die Ferne blind. - Ebenso wie die Muetter eigentlich nur Sinn und Auge fuer die augen- und sinnfaelligen Schmerzen ihrer Kinder haben, so vermoegen die Gattinnen hoch strebender Maenner es nicht ueber sich zu gewinnen, ihre Ehegenossen leidend, darbend und gar missachtet zu sehen, - waehrend vielleicht alles diess nicht nur die Wahrzeichen einer richtigen Wahl ihrer Lebenshaltung, sondern schon die Buergschaften dafuer sind, dass ihre grossen Ziele irgendwann einmal erreicht werden muessen. Die Frauen intriguiren im Stillen immer gegen die hoehere Seele ihrer Maenner; sie wollen dieselbe um ihre Zukunft, zu Gunsten einer schmerzlosen, behaglichen Gegenwart, betruegen. 435. Macht und Freiheit. - So hoch Frauen ihre Maenner ehren, so ehren sie doch die von der Gesellschaft anerkannten Gewalten und Vorstellungen noch mehr: sie sind seit Jahrtausenden gewohnt, vor allem Herrschenden gebueckt, die Haende auf die Brust gefaltet, einherzugehen und missbilligen alle Auflehnung gegen die oeffentliche Macht. Desshalb haengen sie sich, ohne es auch nur zu beabsichtigen, vielmehr wie aus Instinct, als Hemmschuh in die Raeder eines freigeisterischen unabhaengigen Strebens und machen unter Umstaenden ihre Gatten aufs Hoechste ungeduldig, zumal wenn diese sich noch vorreden, dass Liebe es sei, was die Frauen im Grunde dabei antreibe. Die Mittel der Frauen missbilligen und grossmuethig die Motive dieser Mittel ehren, - das ist Maenner-Art und oft genug Maenner-Verzweiflung. 436. Ceterum censeo. - Es ist zum Lachen, wenn eine Gesellschaft von Habenichtsen die Abschaffung des Erbrechts decretirt, und nicht minder zum Lachen ist es, wenn Kinderlose an der praktischen Gesetzgebung eines Landes arbeiten: - sie haben ja nicht genug Schwergewicht in ihrem Schiffe, um sicher in den Ocean der Zukunft hineinsegeln zu koennen. Aber ebenso ungereimt erscheint es, wenn Der, welcher die allgemeinste Erkenntniss und die Abschaetzung des gesammten Daseins zu seiner Aufgabe erkoren hat, sich mit persoenlichen Ruecksichten auf eine Familie, auf Ernaehrung, Sicherung, Achtung von Weib und Kind, belastet und vor sein Teleskop jenen trueben Schleier aufspannt, durch welchen kaum einige Strahlen der fernen Gestirnwelt hindurchzudringen vermoegen. So komme auch ich zu dem Satze, dass in den Angelegenheiten der hoechsten philosophischen Art alle Verheiratheten verdaechtig sind. 437. Zuletzt. - Es giebt mancherlei Arten von Schierling, und gewoehnlich findet das Schicksal eine Gelegenheit, dem Freigeiste einen Becher dieses Giftgetraenkes an die Lippen zu setzen, - um ihn zu "strafen", wie dann alle Welt sagt. Was thun dann die Frauen um ihn? Sie werden schreien und wehklagen und vielleicht die Sonnenuntergangs-Ruhe des Denkers stoeren: wie sie es im Gefaengniss von Athen thaten. "O Kriton, heisse doch jemanden diese Weiber da fortfuehren!" sagte endlich Sokrates. - Achtes Hauptstueck. Ein Blick auf den Staat. 438. Um das Wort bitten. - Der demagogische Charakter und die Absicht, auf die Massen zu wirken, ist gegenwaertig allen politischen Parteien gemeinsam: sie alle sind genoethigt, der genannten Absicht wegen, ihre Principien zu grossen Alfresco-Dummheiten umzuwandeln und sie so an die Wand zu malen. Daran ist Nichts mehr zu aendern, ja es ist ueberfluessig, auch nur einen Finger dagegen aufzuheben; denn auf diesem Gebiete gilt, was Voltaire sagt: quand la populace se mele de raisonner, tout est perdu. Seitdem diess geschehen ist, muss man sich den neuen Bedingungen fuegen, wie man sich fuegt, wenn ein Erdbeben die alten Graenzen und Umrisse der Bodengestalt verrueckt und den Werth des Besitzes veraendert hat. Ueberdiess: wenn es sich nun einmal bei aller Politik darum handelt, moeglichst Vielen das Leben ertraeglich zu machen, so moegen immerhin diese Moeglichst-Vielen auch bestimmen, was sie unter einem ertraeglichen Leben verstehen; trauen sie sich den Intellect zu, auch die richtigen Mittel zu diesem Ziele zu finden, was huelfe es, daran zu zweifeln? Sie wollen nun einmal ihres Glueckes und Unglueckes eigene Schmiede sein; und wenn dieses Gefuehl der Selbstbestimmung, der Stolz auf die fuenf, sechs Begriffe, welche ihr Kopf birgt und zu Tage bringt, ihnen in der That das Leben so angenehm macht, dass sie die fatalen Folgen ihrer Beschraenktheit gern ertragen: so ist wenig einzuwenden, vorausgesetzt, dass die Beschraenktheit nicht so weit geht, zu verlangen, es solle Alles in diesem Sinne zur Politik werden, es solle jeder nach solchem Maassstabe leben und wirken. Zuerst naemlich muss es Einigen mehr als je, erlaubt sein, sich der Politik zu enthalten und ein Wenig bei Seite zu treten: dazu treibt auch sie die Lust an der Selbstbestimmung, und auch ein kleiner Stolz mag damit verbunden sein, zu schweigen, wenn zu Viele oder ueberhaupt nur Viele reden. Sodann muss man es diesen Wenigen nachsehen, wenn sie das Glueck der Vielen, verstehe man nun darunter Voelker oder Bevoelkerungsschichten, nicht so wichtig nehmen und sich hie und da eine ironische Miene zu Schulden kommen lassen; denn ihr Ernst liegt anderswo, ihr Glueck ist ein anderer Begriff, ihr Ziel ist nicht von jeder plumpen Hand, welche eben nur fuenf Finger hat, zu umspannen. Endlich kommt - was ihnen gewiss am schwersten zugestanden wird, aber ebenfalls zugestanden werden muss - von Zeit zu Zeit ein Augenblick, wo sie aus ihren schweigsamen Vereinsamungen heraustreten und die Kraft ihrer Lungen wieder einmal versuchen: dann rufen sie naemlich einander zu wie Verirrte in einem Walde, um sich einander zu erkennen zu geben und zu ermuthigen; wobei freilich Mancherlei laut wird, was den Ohren, fuer welche es nicht bestimmt ist, uebel klingt. - Nun, bald darauf ist es wieder stille im Walde, so stille, dass man das Schwirren, Summen und Flattern der zahllosen Insecten, welche in, ueber und unter ihm leben, wieder deutlich vernimmt. - 439. Cultur und Kaste. - Eine hoehere Cultur kann allein dort entstehen, wo es zwei unterschiedene Kasten der Gesellschaft giebt: die der Arbeitenden und die der Muessigen, zu wahrer Musse Befaehigten; oder mit staerkerem Ausdruck: die Kaste der Zwangs-Arbeit und die Kaste der Frei-Arbeit. Der Gesichtspunct der Vertheilung des Gluecks ist nicht wesentlich, wenn es sich um die Erzeugung einer hoeheren Cultur handelt; jedenfalls aber ist die Kaste der Muessigen die leidensfaehigere, leidendere, ihr Behagen am Dasein ist geringer, ihre Aufgabe groesser. Findet nun gar ein Austausch der beiden Kasten statt, so, dass die stumpferen, ungeistigeren Familien und Einzelnen aus der oberen Kaste in die niedere herabgesetzt werden und wiederum die freieren Menschen aus dieser den Zutritt zur hoeheren erlangen: so ist ein Zustand erreicht, ueber den hinaus man nur noch das offene Meer unbestimmter Wuensche sieht. - So redet die verklingende Stimme der alten Zeit zu uns; aber wo sind noch Ohren, sie zu hoeren? 440. Von Gebluet. - Das, was Maenner und Frauen von Gebluet vor Anderen voraus haben und was ihnen unzweifelhaftes Anrecht auf hoehere Schaetzung giebt, sind zwei durch Vererbung immer mehr gesteigerte Kuenste: die Kunst, befehlen zu koennen, und die Kunst des stolzen Gehorsams. - Nun entsteht ueberall, wo das Befehlen zum Tagesgeschaeft gehoert (wie in der grossen Kaufmanns- und Industrie-Welt), etwas Aehnliches wie jene Geschlechter "von Gebluet", aber ihnen fehlt die vornehme Haltung im Gehorsam, welche bei jenen eine Erbschaft feudaler Zustaende ist und die in unserem Cultur-Klima nicht mehr wachsen will. 441. Subordination. - Die Subordination, welche im Militaer- und Beamtenstaate so hoch geschaetzt wird, wird uns bald ebenso unglaublich werden, wie die geschlossene Taktik der Jesuiten es bereits geworden ist; und wenn diese Subordination nicht mehr moeglich ist, laesst sich eine Menge der erstaunlichsten Wirkungen nicht mehr erreichen, und die Welt wird aermer sein. Sie muss schwinden, denn ihr Fundament schwindet: der Glaube an die unbedingte Autoritaet, an die endgueltige Wahrheit; selbst in Militaerstaaten ist der physische Zwang nicht ausreichend, sie hervorzubringen, sondern die angeerbte Adoration vor dem Fuerstlichen wie vor etwas Uebermenschlichem. - In freieren Verhaeltnissen ordnet man sich nur auf Bedingungen unter, in Folge gegenseitigen Vertrages, also mit allen Vorbehalten des Eigennutzes. 442. Volksheere. - Der groesste Nachtheil der jetzt so verherrlichten Volksheere besteht in der Vergeudung von Menschen der hoechsten Civilisation; nur durch die Gunst aller Verhaeltnisse giebt es deren ueberhaupt, - wie sparsam und aengstlich sollte man mit ihnen umgehen, da es grosser Zeitraeume bedarf, um die zufaelligen Bedingungen zur Erzeugung so zart organisirter Gehirne zu schaffen! Aber wie die Griechen in Griechenblut wuetheten, so die Europaeer jetzt in Europaeerblut: und zwar werden relativ am meisten immer die Hoechstgebildeten zum Opfer gebracht, Die, welche eine reichliche und gute Nachkommenschaft verbuergen; Solche naemlich stehen im Kampfe voran, als Befehlende, und setzen sich ueberdiess, ihres hoeheren Ehrgeizes wegen, den Gefahren am meisten aus. - Der grobe Roemer-Patriotismus ist jetzt, wo ganz andere und hoehere Aufgaben gestellt sind, als patria und honor, entweder etwas Unehrliches oder ein Zeichen der Zurueckgebliebenheit. 443. Hoffnung als Anmaassung. - Unsere gesellschaftliche Ordnung wird langsam wegschmelzen, wie es alle frueheren Ordnungen gethan haben, sobald die Sonnen neuer Meinungen mit neuer Gluth ueber die Menschen hinleuchteten. Wuenschen kann man diess Wegschmelzen nur, indem man hofft: und hoffen darf man vernuenftigerweise nur, wenn man sich und seinesgleichen mehr Kraft in Herz und Kopf zutraut, als den Vertretern des Bestehenden. Gewoehnlich also wird diese Hoffnung eine Anmaassung, eine Ueberschaetzung sein. 444. Krieg. - Zu Ungunsten des Krieges kann man sagen: er macht den Sieger dumm, den Besiegten boshaft. Zu Gunsten des Krieges: er barbarisirt in beiden eben genannten Wirkungen und macht dadurch natuerlicher; er ist fuer die Cultur Schlaf oder Winterszeit, der Mensch kommt kraeftiger zum Guten und Boesen aus ihm heraus. 445. Im Dienste des Fuersten. - Ein Staatsmann wird, um voellig ruecksichtslos handeln zu koennen, am besten thun, nicht fuer sich, sondern fuer einen Fuersten sein Werk auszufuehren. Von dem Glanze dieser allgemeinen Uneigennuetzigkeit wird das Auge des Beschauers geblendet, so dass er jene Tuecken und Haerten, welche das Werk des Staatsmannes mit sich bringt, nicht sieht. 446. Eine Frage der Macht, nicht des Rechtes. - Fuer Menschen, welche bei jeder Sache den hoeheren Nutzen in's Auge fassen, giebt es bei dem Socialismus, falls er wirklich die Erhebung der Jahrtausende lang Gedrueckten, Niedergehaltenen gegen ihre Unterdruecker ist, kein Problem des Rechtes (mit der laecherlichen, weichlichen Frage: "wie weit soll man seinen Forderungen nachgeben?"), sondern nur ein Problem der Macht ("wie weit kann man seine Forderungen benutzen?"); also wie bei einer Naturmacht, zum Beispiel dem Dampfe, welcher entweder von dem Menschen in seine Dienste, als Maschinengott, gezwungen wird, oder, bei Fehlern der Maschine, das heisst Fehlern der menschlichen Berechnung im Bau derselben, sie und den Menschen mit zertruemmert. Um jene Machtfrage zu loesen, muss man wissen, wie stark der Socialismus ist, in welcher Modification er noch als maechtiger Hebel innerhalb des jetzigen politischen Kraeftespiels benutzt werden kann; unter Umstaenden muesste man selbst Alles thun, ihn zu kraeftigen. Die Menschheit muss bei jeder grossen Kraft - und sei es die gefaehrlichste - daran denken, aus ihr ein Werkzeug ihrer Absichten zu machen. - Ein Recht gewinnt sich der Socialismus erst dann, wenn es zwischen den beiden Maechten, den Vertretern des Alten und Neuen, zum Kriege gekommen zu sein scheint, wenn aber dann das kluge Rechnen auf moeglichste Erhaltung und Zutraeglichkeit auf Seiten beider Parteien das Verlangen nach einem Vertrag entstehen laesst. Ohne Vertrag kein Recht. Bis jetzt giebt es aber auf dem bezeichneten Gebiete weder Krieg, noch Vertraege, also auch keine Rechte, kein "Sollen". 447. Benutzung der kleinsten Unredlichkeit. - Die Macht der Presse besteht darin, dass jeder Einzelne, der ihr dient, sich nur ganz wenig verpflichtet und verbunden fuehlt. Er sagt fuer gewoehnlich seine Meinung, aber sagt sie einmal auch nicht, um seiner Partei oder der Politik seines Landes oder endlich sich selbst zu nuetzen. Solche kleine Vergehen der Unredlichkeit oder vielleicht nur einer unredlichen Verschwiegenheit sind von dem Einzelnen nicht schwer zu tragen, doch sind die Folgen ausserordentlich, weil diese kleinen Vergehen von Vielen zu gleicher Zeit begangen werden. Jeder von Diesen sagt sich: "fuer so geringe Dienste lebe ich besser, kann ich mein Auskommen finden; durch den Mangel solcher kleinen Ruecksichten mache ich mich unmoeglich". Weil es beinahe sittlich gleichgueltig erscheint, eine Zeile, noch dazu vielleicht ohne Namensunterschrift, mehr zu schreiben oder nicht zu schreiben, so kann Einer, der Geld und Einfluss hat, jede Meinung zur oeffentlichen machen. Wer da weiss, dass die meisten Menschen in Kleinigkeiten schwach sind, und seine eigenen Zwecke durch sie erreichen will, ist immer ein gefaehrlicher Mensch. 448. Allzu lauter Ton bei Beschwerden. - Dadurch, dass ein Nothstand (zum Beispiel die Gebrechen einer Verwaltung, Bestechlichkeit und Gunstwillkuer in politischen oder gelehrten Koerperschaften) stark uebertrieben dargestellt wird, verliert zwar die Darstellung bei den Einsichtigen ihre Wirkung, aber wirkt um so staerker auf die Nichteinsichtigen (welche bei einer sorgsamen maassvollen Darlegung gleichgueltig geblieben waeren). Da diese aber bedeutend in der Mehrzahl sind und staerkere Willenskraefte, ungestuemere Lust zum Handeln in sich beherbergen, so wird jene Uebertreibung zum Anlass von Untersuchungen, Bestrafungen, Versprechen, Reorganisationen. - Insofern ist es nuetzlich, Nothstaende uebertrieben darzustellen. 449. Die anscheinenden Wettermacher der Politik. - Wie das Volk bei Dem, welcher sich auf das Wetter versteht und es um einen Tag voraussagt, im Stillen annimmt, dass er das Wetter mache, so legen selbst Gebildete und Gelehrte mit einem Aufwand von aberglaeubischem Glauben grossen Staatsmaennern alle die wichtigen Veraenderungen und Conjuncturen, welche waehrend ihrer Regierung eintraten, als deren eigenstes Werk bei, wenn es nur ersichtlich ist, dass jene Etwas davon eher wussten, als Andere, und ihre Berechnung darnach machten: sie werden also ebenfalls als Wettermacher genommen - und dieser Glaube ist nicht das geringste Werkzeug ihrer Macht. 450. Neuer und alter Begriff der Regierung. - Zwischen Regierung und Volk so zu scheiden, als ob hier zwei getrennte Machtsphaeren, eine staerkere, hoehere mit einer schwaecheren, niederen, verhandelten und sich vereinbarten, ist ein Stueck vererbter politischer Empfindung, welches der historischen Feststellung der Machtverhaeltnisse in den in eisten Staaten noch jetzt genau entspricht. Wenn zum Beispiel Bismarck die constitutionelle Form als einen Compromiss zwischen Regierung und Volk bezeichnet, so redet er gemaess einem Princip, welches seine Vernunft- in der Geschichte hat (ebendaher freilich auch den Beisatz von Unvernunft, ohne den nichts Menschliches existiren kann). Dagegen soll man nun lernen - gemaess einem Princip, welches rein aus dem Kopfe entsprungen ist und erst Geschichte machen soll -, dass Regierung Nichts als ein Organ des Volkes sei, nicht ein vorsorgliches, verehrungswuerdiges "Oben" im Verhaeltniss zu einem an Bescheidenheit gewoehnten "Unten". Bevor man diese bis jetzt unhistorische und willkuerliche, wenn auch logischere Aufstellung des Begriffs Regierung annimmt, moege man doch ja die Folgen erwaegen: denn das Verhaeltniss zwischen Volk und Regierung ist das staerkste vorbildliche Verhaeltniss, nach dessen Muster sich unwillkuerlich der Verkehr zwischen Lehrer und Schueler, Hausherrn und Dienerschaft, Vater und Familie, Heerfuehrer und Soldat, Meister und Lehrling bildet. Alle diese Verhaeltnisse gestalten sich jetzt, unter dem Einflusse der herrschenden constitutionellen Regierungsform, ein Wenig um - sie werden Compromisse. Aber wie muessen sie sich verkehren und verschieben, Namen und Wesen wechseln, wenn jener allerneueste Begriff ueberall sich der Koepfe bemeistert hat! - wozu es aber wohl ein Jahrhundert noch brauchen duerfte. Hierbei ist Nichts mehr zu wuenschen, als Vorsicht und langsame Entwickelung. 451. Gerechtigkeit als Parteien-Lockruf. - Wohl koennen edle (wenn auch nicht gerade sehr einsichtsvolle) Vertreter der berrschenden Classe sich geloben: "wir wollen die Menschen als gleich behandeln, ihnen gleiche Rechte zugestehen"; insofern ist eine socialistische Denkungsweise, welche auf Gerechtigkeit ruht, moeglich, aber wie gesagt nur innerhalb der herrschenden Classe, welche in diesem Falle die Gerechtigkeit mit Opfern und Verleugnungen uebt. Dagegen Gleichheit der Rechte fordern, wie es die Socialisten der unterworfenen Kaste thun, ist nimmermehr der Ausfluss der Gerechtigkeit, sondern der Begehrlichkeit. - Wenn man der Bestie blutige Fleischstuecke aus der Naehe zeigt und wieder wegzieht, bis sie endlich bruellt: meint ihr, dass diess Gebruell Gerechtigkeit bedeute? 452. Besitz und Gerechtigkeit. - Wenn die Socialisten nachweisen, dass die Eigenthums-Vertheilung in der gegenwaertigen Menschheit die Consequenz zahlloser Ungerechtigkeiten und Gewaltsamkeiten ist, und in summa die Verpflichtung gegen etwas so unrecht Begruendetes ablehnen: so sehen sie nur etwas Einzelnes. Die ganze Vergangenheit der alten Cultur ist auf Gewalt, Sclaverei, Betrug, Irrthum aufgebaut; wir koennen aber uns selbst, die Erben aller dieser Zustaende, ja die Concrescenzen aller jener Vergangenheit, nicht wegdecretiren und duerfen nicht ein einzelnes Stueck herausziehen wollen. Die ungerechte Gesinnung steckt in den Seelen der Nicht-Besitzenden auch, sie sind nicht besser als die Besitzenden und haben kein moralisches Vorrecht, denn irgend wann sind ihre Vorfahren Besitzende gewesen. Nicht gewaltsame neue Vertheilungen, sondern allmaehliche Umschaffungen des Sinnes thun noth, die Gerechtigkeit muss in Allen groesser werden, der gewaltthaetige Instinct schwaecher. 453. Der Steuermann der Leidenschaften. - Der Staatsmann erzeugt oeffentliche Leidenschaften, um den Gewinn von der dadurch erweckten Gegenleidenschaft zu haben. Um ein Beispiel zu nehmen: so weiss ein deutscher Staatsmann wohl, dass die katholische Kirche niemals mit Russland gleiche Plaene haben wird, ja sich viel lieber mit den Tuerken verbuenden wuerde, als mit ihm; ebenso weiss er, dass Deutschland alle Gefahr von einem Buendnisse Frankreichs mit Russland droht. Kann er es nun dazu bringen, Frankreich zum Herd und Hort der katholischen Kirche zu machen, so hat er diese Gefahr auf eine lange Zeit beseitigt. Er hat demnach ein Interesse daran, Hass gegen die Katholiken zu zeigen und durch Feindseligkeiten aller Art die Bekenner der Autoritaet des Papstes in eine leidenschaftliche politische Macht zu verwandeln, welche der deutschen Politik feindlich ist und sich naturgemaess mit Frankreich, als dem Widersacher Deutschlands, verschmelzen muss: sein Ziel ist ebenso nothwendig die Katholisirung Frankreichs, als Mirabeau in der Dekatholisirung das Heil seines Vaterlandes sah. - Der eine Staat will also die Verdunkelung von Millionen Koepfen eines anderen Staates, um seinen Vortheil aus dieser Verdunkelung zu ziehen. Es ist diess die selbe Gesinnung, welche die republicanische Regierungsform des nachbarlichen Staates - le desordre organise, wie Merimee sagt - aus dem alleinigen Grunde unterstuetzt, weil sie von dieser annimmt, dass sie das Volk schwaecher, zerrissener und kriegsunfaehiger mache. 454. Die Gefaehrlichen unter den Umsturz-Geistern. - Man theile Die, welche auf einen Umsturz der Gesellschaft bedacht sind, in Solche ein, welche fuer sich selbst, und in Solche, welche fuer ihre Kinder und Enkel Etwas erreichen wollen. Die Letzteren sind die Gefaehrlicheren; denn sie haben den Glauben und das gute Gewissen der Uneigennuetzigkeit. Die Anderen kann man abspeisen: dazu ist die herrschende Gesellschaft immer noch reich und klug genug. Die Gefahr beginnt, sobald die Ziele unpersoenlich werden; die Revolutionaere aus unpersoenlichem Interesse duerfen alle Vertheidiger des Bestehenden als persoenlich interessirt ansehen und sich desshalb ihnen ueberlegen fuehlen. 455. Politischer Werth der Vaterschaft. - Wenn der Mensch keine Soehne hat, so hat er kein volles Recht, ueber die Beduerfnisse eines einzelnen Staatswesens mitzureden. Man muss selber mit den Anderen sein Liebstes daran gewagt haben; das erst bindet an den Staat fest; man muss das Glueck seiner Nachkommen in's Auge fassen, also vor Allem Nachkommen haben, um an allen Institutionen und deren Veraenderung rechten, natuerlichen Antheil zu nehmen. Die Entwickelung der hoehern Moral haengt daran, dass Einer Soehne hat; diess stimmt ihn unegoistisch, oder richtiger: es erweitert seinen Egoismus der Zeitdauer nach, und laesst ihn Ziele ueber seine individuelle Lebenslaenge hinaus mit Ernst verfolgen. 456. Ahnenstolz. - Auf eine ununterbrochene Reihe guter Ahnen bis zum Vater herauf darf man mit Recht stolz sein, - nicht aber auf die Reihe; denn diese hat jeder. Die Herkunft von guten Ahnen macht den aechten Geburtsadel aus; eine einzige Unterbrechung in jener Kette, Ein boeser Vorfahr also hebt den Geburtsadel auf. Man soll jeden, welcher von seinem Adel redet, fragen: hast du keinen gewaltthaetigen, habsuechtigen, ausschweifenden, boshaften, grausamen Menschen unter deinen Vorfahren? Kann er darauf in gutem Wissen und Gewissen mit Nein antworten, so bewerbe man sich um seine Freundschaft. 457. Sclaven und Arbeiter. - Dass wir mehr Werth auf Befriedigung der Eitelkeit, als auf alles uebrige Wohlbefinden (Sicherheit, Unterkommen, Vergnuegen aller Art) legen, zeigt sich in einem laecherlichen Grade daran, dass jedermann (abgesehen von politischen Gruenden) die Aufhebung der Sclaverei wuenscht und es auf's Aergste verabscheut, Menschen in diese Lage zu bringen: waehrend jeder sich sagen muss, dass die Sclaven in allen Beziehungen sicherer und gluecklicher leben, als der moderne Arbeiter, dass Sclavenarbeit sehr wenig Arbeit im Verhaeltniss zu der des "Arbeiters" ist. Man protestirt im Namen der "Menschenwuerde": das ist aber, schlichter ausgedrueckt, jene liebe Eitelkeit, welche das Nicht-gleich-gestelltsein, das Oeffentlich-niedriger-geschaetzt-werden, als das haerteste Loos empfindet. - Der Cyniker denkt anders darueber, weil er die Ehre verachtet: - und so war Diogenes eine Zeitlang Sclave und Hauslehrer. 458. Leitende Geister und ihre Werkzeuge. - Wir sehen grosse Staatsmaenner und ueberhaupt alle Die, welche sich vieler Menschen zur Durchfuehrung ihrer Plaene bedienen muessen, bald so, bald so verfahren: entweder waehlen sie sehr fein und sorgsam die zu ihren Plaenen passenden Menschen aus und lassen ihnen dann verhaeltnissmaessige grosse Freiheit, weil sie wissen, dass die Natur dieser Ausgewaehlten sie eben dahin treibt, wohin sie selber Jene haben wollen; oder sie waehlen schlecht, ja nehmen was ihnen unter die Hand kommt, formen aber aus jedem Thone etwas fuer ihre Zwecke Taugliches. Diese letzte Art ist die gewaltsamere, sie begehrt auch unterwuerfigere Werkzeuge; ihre Menschenkenntniss ist gewoehnlich viel geringer, ihre Menschenverachtung groesser, als bei den erstgenannten Geistern, aber die Maschine, welche sie construiren, arbeitet gemeinhin besser, als die Maschine aus der Werkstaette jener. 459. Willkuerliches Recht nothwendig. - Die Juristen streiten, ob das am vollstaendigsten durchgedachte Recht oder das am leichtesten zu verstehende in einem Volke zum Siege kommen solle. Das erste, dessen hoechstes Muster das roemische ist, erscheint dem Laien als unverstaendlich und desshalb nicht als Ausdruck seiner Rechtsempfindung. Die Volksrechte, wie zum Beispiel die germanischen, waren grob, aberglaeubisch, unlogisch, zum Theil albern, aber sie entsprachen ganz bestimmten vererbten heimischen Sitten und Empfindungen. - Wo aber Recht nicht mehr, wie bei uns, Herkommen ist, da kann es nur befohlen, Zwang sein; wir haben Alle kein herkoemmliches Rechtsgefuehl mehr, desshalb muessen wir uns Willkuersrechte gefallen lassen, die der Ausdruck der Nothwendigkeit sind, dass es ein Recht geben muesse. Das logischste ist dann jedenfalls das annehmbarste, weil es das unparteilichste ist: zugegeben selbst, dass in jedem Falle die kleinste Maasseinheit im Verhaeltniss von Vergehen und Strafe willkuerlich angesetzt ist. 460. Der grosse Mann der Masse. - Das Recept zu dem, was die Masse einen grossen Mann nennt, ist leicht gegeben. Unter allen Umstaenden verschaffe man ihr Etwas, das ihr sehr angenehm ist, oder setze ihr erst in den Kopf, dass diess und jenes sehr angenehm waere, und gebe es ihr dann. Doch um keinen Preis sofort: sondern man erkaempfe es mit groesster Anstrengung oder scheine es zu erkaempfen. Die Masse muss den Eindruck haben, dass eine maechtige, ja unbezwingliche Willenskraft da sei; mindestens muss sie da zu sein scheinen. Den starken Willen bewundert jedermann, weil Niemand ihn hat und Jedermann sich sagt, dass, wenn er ihn haette, es fuer ihn und seinen Egoismus keine Graenze mehr gaebe. Zeigt sich nun, dass ein solcher starker Wille etwas der Masse sehr Angenehmes bewirkt, statt auf die Wuensche seiner Begehrlichkeit zu hoeren, so bewundert man noch einmal und wuenscht sich selber Glueck. Im Uebrigen habe er alle Eigenschaften der Masse: um so weniger schaemt sie sich vor ihm, um so mehr ist er populaer. Also: er sei gewaltthaetig, neidisch, ausbeuterisch, intrigant, schmeichlerisch, kriechend, aufgeblasen, je nach Umstaenden alles. 461. Fuerst und Gott. - Die Menschen verkehren mit ihren Fuersten vielfach in aehnlicher Weise wie mit ihrem Gotte, wie ja vielfach auch der Fuerst der Repraesentant des Gottes, mindestens sein Oberpriester war. Diese fast unheimliche Stimmung von Verehrung und Angst und Scham war und ist viel schwaecher geworden, aber mitunter lodert sie auf und heftet sich an maechtige Personen, ueberhaupt. Der Cultus des Genius' ist ein Nachklang dieser Goetter-Fuersten-Verehrung. Ueberall, wo man sich bestrebt, einzelne Menschen in das Uebermenschliche hinaufzuheben, entsteht auch die Neigung, ganze Schichten des Volkes sich roher und niedriger vorzustellen, als sie wirklich sind. 462. Meine Utopie. - In einer besseren Ordnung der Gesellschaft wird die schwere Arbeit und Noth des Lebens Dem zuzumessen sein, welcher am wenigsten durch sie leidet, also dem Stumpfesten, und so schrittweise aufwaerts bis zu Dem, welcher fuer die hoechsten sublimirtesten Gattungen des Leidens am empfindlichsten ist und desshalb selbst noch bei der groessten Erleichterung des Lebens leidet. 463. Ein Wahn in der Lehre vom Umsturz. - Es giebt politische und sociale Phantasten, welche feurig und beredt zu einem Umsturz aller Ordnungen auffordern, in dem Glauben, dass dann sofort das stolzeste Tempelhaus schoenen Menschenthums gleichsam von selbst sich erheben werde. In diesen gefaehrlichen Traeumen klingt noch der Aberglaube Rousseau's nach, welcher an eine wundergleiche, urspruengliche, aber gleichsam verschuettete Guete der menschlichen Natur glaubt und den Institutionen der Cultur, in Gesellschaft, Staat, Erziehung, alle Schuld jener Verschuettung beimisst. Leider weiss man aus historischen Erfahrungen, dass jeder solche Umsturz die wildesten Energien als die laengst begrabenen Furchtbarkeiten und Maasslosigkeiten fernster Zeitalter von Neuem zur Auferstehung bringt: dass also ein Umsturz wohl eine Kraftquelle in einer mattgewordenen Menschheit sein kann, nimmermehr aber ein Ordner, Baumeister, Kuenstler, Vollender der menschlichen Natur. - Nicht Voltaire's maassvolle, dem Ordnen, Reinigen und Umbauen zugeneigte Natur, sondern Rousseau's leidenschaftliche Thorheiten und Halbluegen haben den optimistischen Geist der Revolution wachgerufen, gegen den ich rufe: "Ecrasez l'infame!" Durch ihn ist der Geist der Aufklaerung und der fortschreitenden Entwickelung auf lange verscheucht worden - sehen wir zu - ein Jeder bei sich selber - ob es moeglich ist, ihn wieder zurueckzurufen! 464. Maass. - Die volle Entschiedenheit des Denkens und Forschens, also die Freigeisterei, zur Eigenschaft des Charakters geworden, macht im Handeln maessig: denn sie schwaecht die Begehrlichkeit, zieht viel von der vorhandenen Energie an sich, zur Foerderung geistiger Zwecke, und zeigt das Halbnuetzliche oder Unnuetze und Gefaehrliche aller ploetzlichen Veraenderungen. 465. Auferstehung des Geistes. - Auf dem politischen Krankenbette verjuengt ein Volk gewoehnlich sich selbst und findet seinen Geist wieder, den es im Suchen und Behaupten der Macht allmaehlich verlor. Die Cultur verdankt das Allerhoechste den politisch geschwaechten Zeiten. 466. Neue Meinungen im alten Hause. - Dem Umsturz der Meinungen folgt der Umsturz der Institutionen nicht sofort nach, vielmehr wohnen die neuen Meinungen lange Zeit im veroedeten und unheimlich gewordenen Hause ihrer Vorgaengerinnen und conserviren es selbst, aus Wohnungsnoth. 467. Schulwesen. - Das Schulwesen wird in grossen Staaten immer hoechstens mittelmaessig sein, aus dem selben Grunde, aus dem in grossen Kuechen besten Falls mittelmaessig gekocht wird. 468. Unschuldige Corruption. - In allen Instituten, in welche nicht die scharfe Luft der oeffentlichen Kritik hineinweht, waechst eine unschuldige Corruption auf, wie ein Pilz (also zum Beispiel in gelehrten Koerperschaften und Senaten). 469. Gelehrte als Politiker. - Gelehrten, welche Politiker werden, wird gewoehnlich die komische Rolle zugetheilt, das gute Gewissen einer Politik sein zu muessen. 470. Der Wolf hinter dem Schafe versteckt. - Fast jeder Politiker hat unter gewissen Umstaenden einmal einen ehrlichen Mann so noethig, dass er, gleich einem heisshungrigen Wolfe, in einen Schafstall bricht: nicht aber um dann den geraubten Widder zu fressen, sondern um sich hinter seinen wolligen Ruecken zu verstecken. 471. Glueckszeiten. - Ein glueckliches Zeitalter ist desshalb gar nicht moeglich, weil die Menschen es nur wuenschen wollen, aber nicht haben wollen und jeder Einzelne, wenn ihm gute Tage kommen, foermlich um Unruhe und Elend beten lernt. Das Schicksal der Menschen ist auf glueckliche Augenblicke eingerichtet - jedes Leben hat solche -, aber nicht auf glueckliche Zeiten. Trotzdem werden diese als "das jenseits der Berge" in der Phantasie des Menschen bestehen bleiben, als Erbstueck der Urvaeter; denn man hat wohl den Begriff des Glueckszeitalters seit uralten Zeiten her jenem Zustande entnommen, in dem der Mensch, nach gewaltiger Anstrengung durch Jagd und Krieg, sich der Ruhe uebergiebt, die Glieder streckt und die Fittige des Schlafes um sich rauschen hoert. Es ist ein falscher Schluss, wenn der Mensch jener alten Gewoehnung gemaess sich vorstellt, dass er nun auch nach ganzen Zeitraeumen der Noth und Muehsal eines Zustandes des Gluecks in entsprechender Steigerung und Dauer theilhaftig werden koenne. 472. Religion und Regierung. - Solange der Staat oder, deutlicher, die Regierung sich als Vormund zu Gunsten einer unmuendigen Menge bestellt weiss und um ihretwillen die Frage erwaegt, ob die Religion zu erhalten oder zu beseitigen sei: wird sie hoechst wahrscheinlich sich immer fuer die Erhaltung der Religion entscheiden. Denn die Religion befriedigt das einzelne Gemueth in Zeiten des Verlustes, der Entbehrung, des Schreckens, des Misstrauens, also da, wo die Regierung sich ausser Stande fuehlt, direct Etwas zur Linderung der seelischen Leiden des Privatmannes zu thun: ja selbst bei allgemeinen, unvermeidlichen und zunaechst unabwendbaren Uebeln (Hungersnoethen, Geldkrisen, Kriegen) gewaehrt die Religion eine beruhigte, abwartende, vertrauende Haltung der Menge. Ueberall, wo die nothwendigen oder zufaelligen Maengel der Staatsregierung oder die gefaehrlichen Consequenzen dynastischer Interessen dem Einsichtigen sich bemerklich machen und ihn widerspaenstig stimmen, werden die Nicht-Einsichtigen den Finger Gottes zu sehen meinen und sich in Geduld den Anordnungen von Oben (in welchem Begriff goettliche und menschliche Regierungsweise gewoehnlich verschmelzen) unterwerfen: so wird der innere buergerliche Frieden und die Continuitaet der Entwickelung gewahrt. Die Macht, welche in der Einheit der Volksempfindung, in gleichen Meinungen und Zielen fuer Alle, liegt, wird durch die Religion beschuetzt und besiegelt, jene seltenen Faelle abgerechnet, wo eine Priesterschaft mit der Staatsgewalt sich ueber den Preis nicht einigen kann und in Kampf tritt. Fuer gewoehnlich wird der Staat sich die Priester zu gewinnen wissen, weil er ihrer allerprivatesten, verborgenen Erziehung der Seelen benoethigt ist und Diener zu schaetzen weiss, welche scheinbar und aeusserlich ein ganz anderes Interesse vertreten. Ohne Beihuelfe der Priester kann auch jetzt noch keine Macht "legitim" werden: wie Napoleon begriff. - So gehen absolute vormundschaftliche Regierung und sorgsame Erhaltung der Religion nothwendig mit einander. Dabei ist vorauszusetzen, dass die regierenden Personen und Classen ueber den Nutzen, welchen ihnen die Religion gewaehrt, aufgeklaert werden und somit bis zu einem Grade sich ihr ueberlegen fuehlen, insofern sie dieselbe als Mittel gebrauchen: wesshalb hier die Freigeisterei ihren Ursprung hat. - Wie aber, wenn jene ganz verschiedene Auffassung des Begriffes der Regierung, wie sie in demokratischen Staaten gelehrt wird, durchzudringen anfaengt? Wenn man in ihr Nichts als das Werkzeug des Volkswillen sieht, kein Oben im Vergleich zu einem Unten, sondern lediglich eine Function des alleinigen Souverains, des Volkes? Hier kann auch nur die selbe Stellung, welche das Volk zur Religion einnimmt, von der Regierung eingenommen werden; jede Verbreitung von Aufklaerung wird bis in ihre Vertreter hineinklingen muessen, eine Benutzung und Ausbeutung der religioesen Triebkraefte und Troestungen zu staatlichen Zwecken wird nicht so leicht moeglich sein (es sei denn, dass maechtige Parteifuehrer zeitweilig einen Einfluss ueben, welcher dem des aufgeklaerten Despotismus aehnlich sieht). Wenn aber der Staat keinen Nutzen mehr aus der Religion selber ziehen darf oder das Volk viel zu mannichfach ueber religioese Dinge denkt, als dass es der Regierung ein gleichartiges, einheitliches Vorgehen bei religioesen Maassregeln gestatten duerfte, - so wird nothwendig sich der Ausweg zeigen, die Religion als Privatsache zu behandeln und dem Gewissen und der Gewohnheit jedes Einzelnen zu ueberantworten. Die Folge ist zu allererst diese, dass das religioese Empfinden verstaerkt erscheint, insofern versteckte und unterdrueckte Regungen desselben, welchen der Staat unwillkuerlich oder absichtlich keine Lebensluft goennte, jetzt hervorbrechen und bis in's Extreme ausschweifen; spaeter erweist sich, dass die Religion von Secten ueberwuchert wird und dass eine Fuelle von Drachenzaehnen in dem Augenblicke gesaet worden ist, als man die Religion zur Privatsache machte. Der Anblick des Streites, die feindselige Bloslegung aller Schwaechen religioeser Bekenntnisse laesst endlich keinen Ausweg mehr zu, als dass jeder Bessere und Begabtere die Irreligiositaet zu seiner Privatsache macht: als welche Gesinnung nun auch in dem Geiste der regierenden Personen die Ueberhand bekommt und, fast wider ihren Willen, ihren Maassregeln einen religionsfeindlichen Charakter giebt. Sobald diess eintritt, wandelt sich die Stimmung der noch religioes bewegten Menschen, welche frueher den Staat als etwas Halb- oder Ganzheiliges adorirten, in eine entschieden staatsfeindliche um; sie lauern den Maassregeln der Regierung auf, suchen zu hemmen, zu kreuzen, zu beunruhigen, so viel sie koennen, und treiben dadurch die Gegenpartei, die irreligioese, durch die Hitze ihres Widerspruchs in eine fast fanatische Begeisterung fuer den Staat hinein; wobei im Stillen noch mitwirkt, dass in diesen Kreisen die Gemuether seit der Trennung von der Religion eine Leere spueren und sich vorlaeufig durch die Hingebung an den Staat einen Ersatz, eine Art von Ausfuellung zu schaffen suchen. Nach diesen, vielleicht lange dauernden Uebergangskaempfen entscheidet es sich endlich, ob die religioesen Parteien noch stark genug sind, um einen alten Zustand heraufzubringen und das Rad zurueckzudrehen: in welchem Falle unvermeidlich der aufgeklaerte Despotismus (vielleicht weniger aufgeklaert und aengstlicher, als frueher) den Staat in die Haende bekommt, - oder ob die religionslosen Parteien sich durchsetzen und die Fortpflanzung ihrer Gegnerschaft, einige Generationen hindurch, etwa durch Schule und Erziehung, untergraben und endlich unmoeglich machen. Dann aber laesst auch bei ihnen jene Begeisterung fuer den Staat nach: immer deutlicher tritt hervor, dass mit jener religioesen Adoration, fuer welche er ein Mysterium, eine ueberweltliche Stiftung ist, auch das ehrfuerchtige und pietaetvolle Verhaeltniss zu ihm erschuettert ist. Fuerderhin sehen die Einzelnen immer nur die Seite an ihm, wo er ihnen nuetzlich oder schaedlich werden kann, und draengen sich mit allen Mitteln heran, um Einfluss auf ihn zu bekommen. Aber diese Concurrenz wird bald zu gross, die Menschen und Parteien wechseln zu schnell, stuerzen sich gegenseitig zu wild vom Berge wieder herab, nachdem sie kaum oben angelangt sind. Es fehlt allen Maassregeln, welche von einer Regierung durchgesetzt werden, die Buergschaft ihrer Dauer; man scheut vor Unternehmungen zurueck, welche auf Jahrzehnte, Jahrhunderte hinaus ein stilles Wachsthum haben muessten, um reife Fruechte zu zeitigen. Niemand fuehlt eine andere Verpflichtung gegen ein Gesetz mehr, als die, sich augenblicklich der Gewalt, welche ein Gesetz einbrachte, zu beugen: sofort geht man aber daran, es durch eine neue Gewalt, eine neu zu bildende Majoritaet zu unterminiren. Zuletzt - man kann es mit Sicherheit aussprechen - muss das Misstrauen gegen alles Regierende, die Einsicht in das Nutzlose und Aufreibende dieser kurzathmigen Kaempfe die Menschen zu einem ganz neuen Entschlusse draengen: zur Abschaffung des Staatsbegriffs, zur Aufhebung des Gegensatzes "privat und oeffentlich". Die Privatgesellschaften ziehen Schritt vor Schritt die Staatsgeschaefte in sich hinein: selbst der zaeheste Rest, welcher von der alten Arbeit des Regierens uebrigbleibt (jene Thaetigkeit zum Beispiel welche die Privaten gegen die Privaten sicher stellen soll), wird zu allerletzt einmal durch Privatunternehmer besorgt werden. Die Missachtung, der Verfall und der Tod des Staates, die Entfesselung der Privatperson (ich huete mich zu sagen: des Individuums) ist die Consequenz des demokratischen Staatsbegriffes; hier liegt seine Mission. Hat er seine Aufgabe erfuellt - die wie alles Menschliche viel Vernunft und Unvernunft im Schoosse traegt -, sind alle Rueckfaelle der alten Krankheit ueberwunden, so wird ein neues Blatt im Fabelbuche der Menschheit entrollt, auf dem man allerlei seltsame Historien und vielleicht auch einiges Gute lesen wird. - Um das Gesagte noch einmal kurz zu sagen: das Interesse der vormundschaftlichen Regierung und das Interesse der Religion gehen mit einander Hand in Hand, so dass, wenn letztere abzusterben beginnt, auch die Grundlage des Staates erschuettert wird. Der Glaube an eine goettliche Ordnung der politischen Dinge, an ein Mysterium in der Existenz des Staates ist religioesen Ursprungs: schwindet die Religion, so wird der Staat unvermeidlich seinen alten Isisschleier verlieren und keine Ehrfurcht mehr erwecken. Die Souveraenitaet des Volkes, in der Naehe gesehen, dient dazu, auch den letzten Zauber und Aberglauben auf dem Gebiete dieser Empfindungen zu verscheuchen; die moderne Demokratie ist die historische Form vom Verfall des Staates. - Die Aussicht, welche sich durch diesen sichern Verfall ergiebt, ist aber nicht in jedem Betracht eine unglueckselige: die Klugheit und der Eigennutz der Menschen sind von allen ihren Eigenschaften am besten ausgebildet; wenn den Anforderungen dieser Kraefte der Staat nicht mehr entspricht, so wird am wenigsten das Chaos eintreten, sondern eine noch zweckmaessigere Erfindung, als der Staat es war, zum Siege ueber den Staat kommen. Wie manche organisirende Gewalt hat die Menschheit schon absterben sehen, - zum Beispiel die der Geschlechtsgenossenschaft, als welche Jahrtausende lang viel maechtiger war, als die Gewalt der Familie, ja laengst, bevor diese bestand, schon waltete und ordnete. Wir selber sehen den bedeutenden Rechts- und Machtgedanken der Familie, welcher einmal, so weit wie roemisches Wesen reichte, die Herrschaft besass, immer blasser und ohnmaechtiger werden. So wird ein spaeteres Geschlecht auch den Staat in einzelnen Strecken der Erde bedeutungslos werden sehen, - eine Vorstellung, an welche viele Menschen der Gegenwart kaum ohne Angst und Abscheu denken koennen. An der Verbreitung und Verwirklichung dieser Vorstellung zu arbeiten, ist freilich ein ander Ding: man muss sehr anmaassend von seiner Vernunft denken und die Geschichte kaum halb verstehen, um schon jetzt die Hand an den Pflug zu legen, - waehrend noch Niemand die Samenkoerner aufzeigen kann, welche auf das zerrissene Erdreich nachher gestreut werden sollen. Vertrauen wir also "der Klugheit und dem Eigennutz der Menschen", dass jetzt noch der Staat eine gute Weile bestehen bleibt und zerstoererische Versuche uebereifriger und voreiliger Halbwisser abgewiesen werden! 473. Der Socialismus in Hinsicht auf seine Mittel. - Der Socialismus ist der phantastische juengere Bruder des fast abgelebten Despotismus, den er beerben will; seine Bestrebungen sind also im tiefsten Verstande reactionaer. Denn er begehrt eine Fuelle der Staatsgewalt, wie sie nur je der Despotismus gehabt hat, ja er ueberbietet alles Vergangene dadurch, dass er die foermliche Vernichtung des Individuums anstrebt: als welches ihm wie ein unberechtigter Luxus der Natur vorkommt und durch ihn in ein zweckmaessiges Organ des Gemeinwesens umgebessert werden soll. Seiner Verwandtschaft wegen erscheint er immer in der Naehe aller excessiven Machtentfaltungen, wie der alte typische Socialist Plato am Hofe des sicilischen Tyrannen; er wuenscht (und befoerdert unter Umstaenden) den caesarischen Gewaltstaat dieses Jahrhunderts, weil er, wie gesagt, sein Erbe werden moechte. Aber selbst diese Erbschaft wuerde fuer seine Zwecke nicht ausreichen, er braucht die allerunterthaenigste Niederwerfung aller Buerger vor dem unbedingten Staate, wie niemals etwas Gleiches existirt hat; und da er nicht einmal auf die alte religioese Pietaet fuer den Staat mehr rechnen darf, vielmehr an deren Beseitigung unwillkuerlich fortwaehrend arbeiten muss - naemlich weil er an der Beseitigung aller bestehenden Staaten arbeitet -, so kann er sich nur auf kurze Zeiten, durch den aeussersten Terrorismus, hie und da einmal auf Existenz Hoffnung machen. Desshalb bereitet er sich im Stillen zu Schreckensherrschaften vor und treibt den halb gebildeten Massen das Wort "Gerechtigkeit" wie einen Nagel in den Kopf, um sie ihres Verstandes voellig zu berauben (nachdem dieser Verstand schon durch die Halbbildung sehr gelitten hat) und ihnen fuer das boese Spiel, das sie spielen sollen, ein gutes Gewissen zu schaffen. - Der Socialismus kann dazu dienen, die Gefahr aller Anhaeufungen von Staatsgewalt recht brutal und eindringlich zu lehren und insofern vor dem Staate selbst Misstrauen einzufloessen. Wenn seine rauhe Stimme in das Feldgeschrei "so viel Staat wie moeglich" einfaellt, so wird dieses zunaechst dadurch laermender, als je: aber bald dringt auch das entgegengesetzte mit um so groesserer Kraft hervor: "so wenig Staat wie moeglich". 474. Die Entwickelung des Geistes, vom Staate gefuerchtet. - Die griechische Polis war, wie jede organisirende politische Macht, ausschliessend und misstrauisch gegen das Wachsthum der Bildung, ihr gewaltiger Grundtrieb zeigte sich fast nur laehmend und hemmend fuer dieselbe. Sie wollte keine Geschichte, kein Werden in der Bildung gelten lassen; die in dem Staatsgesetz festgestellte Erziehung sollte alle Generationen verpflichten und auf Einer Stufe festhalten. Nicht anders wollte es spaeter auch noch Plato fuer seinen idealen Staat. Trotz der Polis entwickelte sich also die Bildung: indirect freilich und wider Willen half sie mit, weil die Ehrsucht des Einzelnen in der Polis auf's Hoechste angereizt wurde, so dass er, einmal auf die Bahn geistiger Ausbildung gerathen, auch in ihr bis in's letzte Extrem fortgieng. Dagegen soll man sich nicht auf die Verherrlichungsrede des Perikles berufen: denn sie ist nur ein grosses optimistisches Trugbild ueber den angeblich nothwendigen Zusammenhang von Polis und athenischer Cultur; Thukydides laesst sie, unmittelbar bevor die Nacht ueber Athen kommt (die Pest und der Abbruch der Tradition), noch einmal wie eine verklaerende Abendroethe aufleuchten, bei der man den schlimmen Tag vergessen soll, der ihr vorangieng. 475. Der europaeische Mensch und die Vernichtung der Nationen. - Der Handel und die Industrie, der Buecher- und Briefverkehr, die Gemeinsamkeit aller hoeheren Cultur, das schnelle Wechseln von Ort und Landschaft, das jetzige Nomadenleben aller Nicht-Landbesitzer, - diese Umstaende bringen nothwendig eine Schwaechung und zuletzt eine Vernichtung der Nationen, mindestens der europaeischen, mit sich: so dass aus ihnen allen, in Folge fortwaehrender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des europaeischen Menschen, entstehen muss. Diesem Ziele wirkt jetzt bewusst oder unbewusst die Abschliessung der Nationen durch Erzeugung nationaler Feindseligkeiten entgegen, aber langsam geht der Gang jener Mischung dennoch vorwaerts, trotz jener zeitweiligen Gegenstroemungen: dieser kuenstliche Nationalismus ist uebrigens so gefaehrlich wie der kuenstliche Katholicismus es gewesen ist, denn er ist in seinem Wesen ein gewaltsamer Noth- und Belagerungszustand, welcher von Wenigen ueber Viele verhaengt ist, und braucht List, Luege und Gewalt, um sich in Ansehen zu halten. Nicht das Interesse der Vielen (der Voelker), wie man wohl sagt, sondern vor Allem das Interesse bestimmter Fuerstendynastien, sodann das bestimmter Classen des Handels und der Gesellschaft, treibt zu diesem Nationalismus; hat man diess einmal erkannt, so soll man sich nur ungescheut als guten Europaeer ausgeben und durch die That an der Verschmelzung der Nationen arbeiten: wobei die Deutschen durch ihre alte bewaehrte Eigenschaft, Dolmetscher und Vermittler der Voelker zusein, mitzuhelfen vermoegen. - Beilaeufig: das ganze Problem der Juden ist nur innerhalb der nationalen Staaten vorhanden, insofern hier ueberall ihre Thatkraeftigkeit und hoehere Intelligenz, ihr in langer Leidensschule von Geschlecht zu Geschlecht angehaeuftes Geist- und Willens-Capital, in einem neid- und hasserweckenden Maasse zum Uebergewicht kommen muss, so dass die litterarische Unart fast in allen jetzigen Nationen ueberhand nimmt - und zwar je mehr diese sich wieder national gebaerden -, die Juden als Suendenboecke aller moeglichen oeffentlichen und inneren Uebelstaende zur Schlachtbank zu fuehren. Sobald es sich nicht mehr um Conservirung von Nationen, sondern um die Erzeugung einer moeglichst kraeftigen europaeischen Mischrasse handelt, ist der Jude als Ingredienz ebenso brauchbar und erwuenscht, als irgend ein anderer nationaler Rest. Unangenehme, ja gefaehrliche Eigenschaften hat jede Nation, jeder Mensch; es ist grausam, zu verlangen, dass der Jude eine Ausnahme machen soll. Jene Eigenschaften moegen sogar bei ihm in besonderem Maasse gefaehrlich und abschreckend sein; und vielleicht ist der jugendliche Boersen-Jude die widerlichste Erfindung des Menschengeschlechtes ueberhaupt. Trotzdem moechte ich wissen, wie viel man bei einer Gesammtabrechnung einem Volke nachsehen muss, welches, nicht ohne unser Aller Schuld, die leidvollste Geschichte unter allen Voelkern gehabt hat und dem man den edelsten Menschen (Christus), den reinsten Weisen (Spinoza), das maechtigste Buch und das wirkungsvollste Sittengesetz der Welt verdankt. Ueberdiess: in den dunkelsten Zeiten des Mittelalters, als sich die asiatische Wolkenschicht schwer ueber Europa gelagert hatte, waren es juedische Freidenker, Gelehrte und Aerzte, welche das Banner der Aufklaerung und der geistigen Unabhaengigkeit unter dem haertesten persoenlichen Zwange festhielten und Europa gegen Asien vertheidigten; ihren Bemuehungen ist es nicht am wenigsten zu danken, dass eine natuerlichere, vernunftgemaessere und jedenfalls unmythische Erklaerung der Welt endlich wieder zum Siege kommen konnte und dass der Ring der Cultur, welcher uns jetzt mit der Aufklaerung des griechisch-roemischen Alterthums zusammenknuepft, unzerbrochen blieb. Wenn das Christenthum Alles gethan hat, um den Occident zu orientalisiren, so hat das judenthum wesentlich mit dabei geholfen, ihn immer wieder zu occidentalisiren: was in einem bestimmten Sinne so viel heisst als Europa's Aufgabe und Geschichte zu einer Fortsetzung der griechischen zumachen. 476. Scheinbare Ueberlegenheit des Mittelalters. - Das Mittelalter zeigt in der Kirche ein Institut mit einem ganz universalen, die gesammte Menschheit in sich begreifenden Ziele, noch dazu einem solchen, welches den - vermeintlich - hoechsten Interessen derselben galt: dagegen gesehen, machen die Ziele der Staaten und Nationen, welche die neuere Geschichte zeigt, einen beklemmenden Eindruck; sie erscheinen kleinlich, niedrig, materiell, raeumlich beschraenkt. Aber dieser verschiedene Eindruck auf die Phantasie soll unser Urtheil ja nicht bestimmen; denn jenes universale Institut entsprach erkuenstelten, auf Fictionen beruhenden Beduerfnissen, welche es, wo sie noch nicht vorhanden waren, erst erzeugen musste (Beduerfniss der Erloesung); die neuen Institute helfen wirklichen Nothzustaenden ab; und die Zeit kommt, wo Institute entstehen, um den gemeinsamen wahren Beduerfnissen aller Menschen zu dienen und das phantastische Urbild, die katholische Kirche, in Schatten und Vergessenheit zu stellen. 477. Der Krieg unentbehrlich. - Es ist eitel Schwaermerei und Schoenseelenthum, von der Menschheit noch viel (oder gar: erst recht viel) zu erwarten, wenn sie verlernt hat, Kriege zu fuehren. Einstweilen kennen wir keine anderen Mittel, wodurch mattwerdenden Voelkern jene rauhe Energie des Feldlagers, jener tiefe unpersoenliche Hass, jene Moerder-Kaltbluetigkeit mit gutem Gewissen, jene gemeinsame organisirende Gluth in der Vernichtung des Feindes, jene stolze Gleichgueltigkeit gegen grosse Verluste, gegen das eigene Dasein und das der Befreundeten, jenes dumpfe erdbebenhafte Erschuettern der Seele ebenso stark und sicher mitgetheilt werden koennte, wie diess jeder grosse Krieg thut: von den hier hervorbrechenden Baechen und Stroemen, welche freilich Steine und Unrath aller Art mit sich waelzen und die Wiesen zarter Culturen zu Grunde richten, werden nachher unter guenstigen Umstaenden die Raederwerke in den Werkstaetten des Geistes mit neuer Kraft umgedreht. Die Cultur kann die Leidenschaften, Laster und Bosheiten durchaus nicht entbehren. - Als die kaiserlich gewordenen Roemer der Kriege etwas muede wurden, versuchten sie aus Thierhetzen, Gladiatorenkaempfen und Christenverfolgungen sich neue Kraft zu gewinnen. Die jetzigen Englaender, welche im Ganzen auch dem Kriege abgesagt zu haben scheinen, ergreifen ein anderes Mittel, um jene entschwindenden Kraefte neu zu erzeugen: jene gefaehrlichen Entdeckungsreisen, Durchschiffungen, Erkletterungen, zu wissenschaftlichen Zwecken, wie es heisst, unternommen, in Wahrheit, um ueberschuessige Kraft aus Abenteuern und Gefahren aller Art mit nach Hause zu bringen. Man wird noch vielerlei solche Surrogate des Krieges ausfindig machen, aber vielleicht durch sie immer mehr einsehen, dass eine solche hoch cultivirte und daher nothwendig matte Menschheit, wie die der jetzigen Europaeer, nicht nur der Kriege, sondern der groessten und furchtbarsten Kriege - also zeitweiliger Rueckfaelle in die Barbarei - bedarf, um nicht an den Mitteln der Cultur ihre Cultur und ihr Dasein selber einzubuessen. 478. Fleiss im Sueden und Norden. - Der Fleiss entsteht auf zwei ganz verschiedene Arten. Die Handwerker im Sueden werden fleissig, nicht aus Erwerbstrieb, sondern aus der bestaendigen Beduerftigkeit der Anderen. Weil immer Einer kommt, der ein Pferd beschlagen, einen Wagen ausbessern lassen will, so ist der Schmied fleissig. Kaeme Niemand, so wuerde er auf dem Markte herumlungern. Sich zu ernaehren, das hat in einem fruchtbaren Lande wenig Noth, dazu brauchte er nur ein sehr geringes Maass von Arbeit, jedenfalls keinen Fleiss; schliesslich wuerde er betteln und zufrieden sein. - Der Fleiss englischer Arbeiter hat dagegen den Erwerbssinn hinter sich: er ist sich seiner selbst und seiner Ziele bewusst und will mit dem Besitz die Macht, mit der Macht die groesstmoegliche Freiheit und individuelle Vornehmheit. 479. Reichthum als Ursprung eines Gebluetsadels. - Der Reichthum erzeugt nothwendig eine Aristokratie der Rasse, denn er gestattet die schoensten Weiber zu waehlen, die besten Lehrer zu besolden, er goennt dem Menschen Reinlichkeit, Zeit zu koerperlichen Uebungen und vor Allem Abwendung von verdumpfender koerperlicher Arbeit. Soweit verschafft er alle Bedingungen, um, in einigen Generationen, die Menschen vornehm und schoen sich bewegen, ja selbst handeln zu machen: die groessere Freiheit des Gemuethes, die Abwesenheit des Erbaermlich-Kleinen, der Erniedrigung vor Brodgebern, der Pfennig-Sparsamkeit. - Gerade diese negativen Eigenschaften sind das reichste Angebinde des Glueckes fuer einen jungen Menschen; ein ganz Armer richtet sich gewoehnlich durch Vornehmheit der Gesinnung zu Grunde, er kommt nicht vorwaerts und erwirbt Nichts, seine Rasse ist nicht lebensfaehig. - Dabei ist aber zu bedenken, dass der Reichthum fast die gleichen Wirkungen ausuebt, wenn Einer dreihundert Thaler oder dreissigtausend jaehrlich verbrauchen darf: es giebt nachher keine wesentliche Progression der beguenstigenden Umstaende mehr. Aber weniger zu haben, als Knabe zu betteln und sich zu erniedrigen, ist furchtbar: obwohl fuer Solche, welche ihr Glueck im Glanze der Hoefe, in der Unterordnung unter Maechtige und Einflussreiche suchen oder welche Kirchenhaeupter werden wollen, es der rechte Ausgangspunct sein mag. (- Es lehrt, gebueckt sich in die Hoehlengaenge der Gunst einzuschleichen.) 480. Neid und Traegheit in verschiedener Richtung. - Die beiden gegnerischen Parteien, die socialistische und die nationale - oder wie die Namen in den verschiedenen Laendern Europa's lauten moegen - sind einander wuerdig: Neid und Faulheit sind die bewegenden Maechte in ihnen beiden. In jenem Heerlager will man so wenig als moeglich mit den Haenden arbeiten, in diesem so wenig als moeglich mit dem Kopf; in letzterem hasst und neidet man die hervorragenden, aus sich wachsenden Einzelnen, welche sich nicht gutwillig in Reih und Glied zum Zwecke einer Massenwirkung stellen lassen; in ersterem die bessere, aeusserlich guenstiger gestellte Kaste der Gesellschaft, deren eigentliche Aufgabe, die Erzeugung der hoechsten Culturgueter, das Leben innerlich um so viel schwerer und schmerzensreicher macht. Gelingt es freilich, jenen Geist der Massenwirkung zum Geiste der hoeheren Classen der Gesellschaft zu machen, so sind die socialistischen Schaaren ganz im Rechte, wenn sie auch aeusserlich zwischen sich und jenen zu nivelliren suchen, da sie ja innerlich, in Kopf und Herz, schon mit einander nivellirt sind. - Lebt als hoehere Menschen und thut immerfort die Thaten der hoeheren Cultur, - so gesteht euch Alles, was da lebt, euer Recht zu, und die Ordnung der Gesellschaft, deren Spitze ihr seid, ist gegen jeden boesen Blick und Griff gefeit! 481. Grosse Politik und ihre Einbussen. - Ebenso wie ein Volk die groessten Einbussen, welche Krieg und Kriegsbereitschaft mit sich bringen, nicht durch die Unkosten des Krieges, die Stauungen im Handel und Wandel erleidet, ebenso nicht durch die Unterhaltung der stehenden Heere - so gross diese Einbussen auch jetzt sein moegen, wo acht Staaten Europa's jaehrlich die Summe von zwei bis drei Milliarden darauf verwenden -, sondern dadurch, dass Jahr aus Jahr ein die tuechtigsten, kraeftigsten, arbeitsamsten Maenner in ausserordentlicher Anzahl ihren eigentlichen Beschaeftigungen und Berufen entzogen werden, um Soldaten zu sein: ebenso erleidet ein Volk, welches sich anschickt, grosse Politik zu treiben und unter den maechtigsten Staaten sich eine entscheidende Stimme zu sichern, seine groessten Einbussen nicht darin, worin man sie gewoehnlich findet. Es ist wahr, dass es von diesem Zeitpuncte ab fortwaehrend eine Menge der hervorragendsten Talente auf dem "Altar des Vaterlandes" oder der nationalen Ehrsucht opfert, waehrend frueher diesen Talenten, welche jetzt die Politik verschlingt, andere Wirkungskreise offen standen. Aber abseits von diesen oeffentlichen Hekatomben, und im Grunde viel grauenhafter als diese, begiebt sich ein Schauspiel, welches fortwaehrend in hunderttausend Acten gleichzeitig sich abspielt: jeder tuechtige, arbeitsame, geistvolle, strebende Mensch eines solchen nach politischen Ruhmeskraenzen luesternen Volkes wird von dieser Luesternheit beherrscht und gehoert seiner eigenen Sache nicht mehr, wie frueher, voellig an: die taeglich neuen Fragen und Sorgen des oeffentlichen Wohles verschlingen eine taegliche Abgabe von dem Kopf- und Herz-Capitale jedes Buergers: die Summe all dieser Opfer und Einbussen an individueller Energie und Arbeit ist so ungeheuer, dass das politische Aufbluehen eines Volkes eine geistige Verarmung und Ermattung, eine geringere Leistungsfaehigkeit zu Werken, welche grosse Concentration und Einseitigkeit verlangen, fast mit Nothwendigkeit nach sich zieht. Zuletzt darf man fragen: lohnt sich denn all diese Bluethe und Pracht des Ganzen (welche ja doch nur als Furcht der anderen Staaten vor dem neuen Coloss und als dem Auslande abgerungene Beguenstigung der nationalen Handels- und Verkehrs-Wohlfahrt zu Tage tritt), wenn dieser groben und buntschillernden Blume der Nation alle die edleren, zarteren, geistigeren Pflanzen und Gewaechse, an welchen ihr Boden bisher so reich war, zum Opfer gebracht werden muessen? 482. Und nochmals gesagt. - Oeffentliche Meinungen - private Faulheiten. Neuntes Hauptstueck. Der Mensch mit sich allein. 483. Feinde der Wahrheit. - Ueberzeugungen sind gefaehrlichere Feinde der Wahrheit, als Luegen. 484. Verkehrte Welt. - Man kritisirt einen Denker schaerfer, wenn er einen uns unangenehmen Satz hinstellt; und doch waere es vemuenftiger, diess zu thun, wenn sein Satz uns angenehm ist. 485. Charaktervoll. - Charaktervoll erscheint ein Mensch weit haeufiger, weil er immer seinem Temperamente, als weil er immer seinen Principien folgt. 486. Das Eine, was Noth thut. - Eins muss man haben: entweder einen von Natur leichten Sinn oder einen durch Kunst und Wissen erleichterten Sinn. 487. Die Leidenschaft fuer Sachen. - Wer seine Leidenschaft auf Sachen (Wissenschaften, Staatswohl, Culturinteressen, Kuenste) richtet, entzieht seiner Leidenschaft fuer Personen viel Feuer (selbst wenn sie Vertreter jener Sachen sind, wie Staatsmaenner, Philosophen, Kuenstler Vertreter ihrer Schoepfungen sind). 488. Die Ruhe in der That. - Wie ein Wasserfall im Sturz langsamer und schwebender wird, so pflegt der grosse Mensch der That mit mehr Ruhe zu handeln, als seine stuermische Begierde vor der That es erwarten liess. 489. Nicht zu tief. - Personen, welche eine Sache in aller Tiefe erfassen, bleiben ihr selten auf immer treu. Sie haben eben die Tiefe an's Licht gebracht: da giebt es immer viel Schlimmes zu sehen. 490. Wahn der Idealisten. - Alle Idealisten bilden sich ein, die Sachen, welchen sie dienen, seien wesentlich besser, als die anderen Sachen in der Welt, und wollen nicht glauben, dass wenn ihre Sache ueberhaupt gedeihen soll, sie genau des selben uebel riechenden Duengers bedarf, welchen alle anderen menschlichen Unternehmungen noethig haben. 491. Selbstbeobachtung. - Der Mensch ist gegen sich selbst, gegen Auskundschaftung und Belagerung durch sich selber, sehr gut vertheidigt, er vermag gewoehnlich nicht mehr von sich, als seine Aussenwerke wahrzunehmen. Die eigentliche Festung ist ihm unzugaenglich, selbst unsichtbar, es sei denn, dass Freunde und Feinde die Verraether machen und ihn selber auf geheimem Wege hineinfuehren. 492. Der richtige Beruf. - Maenner halten selten einen Beruf aus, von dem sie nicht glauben oder sich einreden, er sei im Grunde wichtiger, als alle anderen. Ebenso geht es Frauen mit ihren Liebhabern. 493. Adel der Gesinnung. - Der Adel der Gesinnung besteht zu einem grossen Teil aus Gutmuethigkeit und Mangel an Misstrauen, und enthaelt also gerade Das, worueber sich die gewinnsuechtigen und erfolgreichen Menschen so gerne mit Ueberlegenheit und Spott ergehen. 494. Ziel und Wege. - Viele sind hartnaeckig in Bezug auf den einmal eingeschlagenen Weg, Wenige in Bezug auf das Ziel. 495. Das Empoerende an einer individuellen Lebensart. - Alle sehr individuellen Maassregeln des Lebens bringen die Menschen gegen Den, der sie ergreift, auf; sie fuehlen sich durch die aussergewoehnliche Behandlung, welche jener sich angedeihen laesst, erniedrigt, als gewoehnliche Wesen. 496. Vorrecht der Groesse. - Es ist das Vorrecht der Groesse, mit geringen Gaben hoch zu begluecken. 497. Unwillkuerlich vornehm. - Der Mensch betraegt sich unwillkuerlich vornehm, wenn er sich gewoehnt hat, von den Menschen Nichts zu wollen und ihnen immer zu geben. 498. Bedingung des Heroenthums. - Wenn Einer zum Helden werden will, so muss die Schlange vorher zum Drachen geworden sein, sonst fehlt ihm sein rechter Feind. 499. Freund. - Mit Freude, nicht Mitleiden, macht den Freund. 500. Ebbe und Fluth zu benutzen. - Man muss zum Zwecke der Erkenntniss jene innere Stroemung zu benutzen wissen, welche uns zu einer Sache hinzieht und wiederum jene, welche uns nach einer Zeit von der Sache fortzieht. 501. Freude an sich.- "Freude an der Sache" so sagt man: aber in Wahrheit, ist es Freude an sich vermittelst einer Sache. 502. Der Bescheidene. - Wer gegen Personen bescheiden ist, zeigt gegen Sachen (Stadt, Staat, Gesellschaft, Zeit, Menschheit) um so staerker seine Anmaassung. Das ist seine Rache. 503. Neid und Eifersucht. - Neid und Eifersucht sind die Schamtheile der menschlichen Seele. Die Vergleichung kann vielleicht fortgesetzt werden. 504. Der vornehmste Heuchler. - Gar nicht von sich zu reden, ist eine sehr vornehme Heuchelei. 505. Verdruss. - Der Verdruss ist eine koerperliche Krankheit, welche keineswegs dadurch schon gehoben ist, dass die Veranlassung zum Verdruss hinterdrein beseitigt wird. 506. Vertreter der Wahrheit. - Nicht wenn es gefaehrlich ist, die Wahrheit zu sagen, findet sie am seltensten Vertreter, sondern wenn es langweilig ist. 507. Beschwerlicher noch, als Feinde. - Die Personen, von deren sympathischem Verhalten wir nicht unter allen Umstaenden ueberzeugt sind, waehrend uns irgend ein Grund (z.B. Dankbarkeit) verpflichtet, den Anschein der unbedingten Sympathie unsererseits aufrecht zu erhalten, quaelen unsere Phantasie viel mehr, als unsere Feinde. 508. Die freie Natur. - Wir sind so gern in der freien Natur, weil diese keine Meinung ueber uns hat. 509. Jeder in Einer Sache ueberlegen. - In civilisirten Verhaeltnissen fuehlt sich Jeder jedem Anderen in Einer Sache wenigstens ueberlegen: darauf beruht das allgemeine Wohlwollen, insofern Jeder einer ist, der unter Umstaenden helfen kann und desshalb sich ohne Scham helfen lassen darf. 510. Trostgruende. - Bei einem Todesfall braucht man zumeist Trostgruende, nicht sowohl um die Gewalt des Schmerzes zu lindern, als um zu entschuldigen, dass man sich so leicht getroestet fuehlt. 511. Die Ueberzeugungstreuen. - Wer viel zu thun hat, behaelt seine allgemeinen Ansichten und Standpuncte fast unveraendert bei. Ebenso jeder, der im Dienst einer Idee arbeitet: er wird die Idee selber nie mehr pruefen, dazu hat er keine Zeit mehr; ja es geht gegen sein Interesse, sie ueberhaupt noch fuer discutirbar zu halten. 512. Moralitaet und Quantitaet. - Die hoehere Moralitaet des einen Menschen, im Vergleich zu der eines anderen, liegt oft nur darin, dass die Ziele quantitativ groesser sind. Jenen zieht die Beschaeftigung mit dem Kleinen, im engen Kreise, nieder. 513. Das Leben als Ertrag des Lebens. - Der Mensch mag sich noch so weit mit seiner Erkenntniss ausrecken, sich selber noch so objectiv vorkommen: zuletzt traegt er doch Nichts davon, als seine eigene Biographie. 514. Die eherne Nothwendigkeit. - Die eherne Nothwendigkeit ist ein Ding, von dem die Menschen im Verlauf der Geschichte einsehen, dass es weder ehern noch nothwendig ist. 515. Aus der Erfahrung. - Die Unvernunft einer Sache ist kein Grund gegen ihr Dasein, vielmehr eine Bedingung desselben. 516. Wahrheit. - Niemand stirbt jetzt an toedtlichen Wahrheiten: es giebt zu viele Gegengifte. 517. Grundeinsicht. - Es giebt keine praestabilirte Harmonie zwischen der Foerderung der Wahrheit und dem Wohle der Menschheit. 518. Menschenloos. - Wer tiefer denkt, weiss, dass er immer Unrecht hat, er mag handeln und urtheilen, wie er will. 519. Wahrheit als Circe. - Der Irrthum hat aus Thieren Menschen gemacht; sollte die Wahrheit im Stande sein, aus dem Menschen wieder ein Thier zu machen? 520. Gefahr unserer Cultur. - Wir gehoeren einer Zeit an, deren Cultur in Gefahr ist, an den Mitteln der Cultur zu Grunde zu gehen. 521. Groesse heisst: Richtung-geben. - Kein Strom ist durch sich selber gross und reich: sondern dass er so viele Nebenfluesse aufnimmt und fortfuehrt, das macht ihn dazu. So steht es auch mit allen Groessen des Geistes. Nur darauf kommt es an, dass Einer die Richtung angiebt, welcher dann so viele Zufluesse folgen muessen; nicht darauf, ob er von Anbeginn arm oder reich begabt ist. 522. Schwaches Gewissen. - Menschen, welche von ihrer Bedeutung fuer die Menschheit sprechen, haben in Bezug auf gemeine buergerliche Rechtlichkeit im Halten von Vertraegen, Versprechungen, ein schwaches Gewissen. 523. Geliebt sein wollen. - Die Forderung, geliebt zu werden, ist die groesste der Anmaassungen. 524. Menschenverachtung. - Das unzweideutigste Anzeichen von einer Geringschaetzung der Menschen ist diess, dass man Jedermann nur als Mittel zu seinem Zwecke oder gar nicht gelten laesst. 525. Anhaenger aus Widerspruch. - Wer die Menschen zur Raserei gegen sich gebracht hat, hat sich immer auch eine Partei zu seinen Gunsten erworben. 526. Erlebnisse vergessen. - Wer viel denkt, und zwar sachlich denkt, vergisst leicht seine eigenen Erlebnisse, aber nicht so die Gedanken, welche durch jene hervorgerufen wurden. 527. Festhalten einer Meinung. - Der Eine haelt eine Meinung fest, weil er sich Etwas darauf einbildet, von selbst auf sie gekommen zu sein, der Andere, weil er sie mit Muehe gelernt hat und stolz darauf ist, sie begriffen zu haben: Beide also aus Eitelkeit. 528. Das Licht scheuen. - Die gute That scheut ebenso aengstlich das Licht, als die boese That: diese fuerchtet, durch das Bekanntwerden komme der Schmerz (als Strafe), jene fuerchtet, durch das Bekanntwerden schwinde die Lust (jene reine Lust an sich selbst naemlich, welche sofort aufhoert, sobald eine Befriedigung der Eitelkeit hinzutritt). 529. Die Laenge des Tages. - Wenn man viel hineinzustecken hat, so hat ein Tag hundert Taschen. 530. Tyrannengenie. - Wenn in der Seele eine unbezwingliche Lust dazu rege ist, sich tyrannisch durchzusetzen, und das Feuer bestaendig unterhaelt, so wird selbst eine geringe Begabung (bei Politikern, Kuenstlern) allmaehlich zu einer fast unwiderstehlichen Naturgewalt. 531. Das Leben des Feindes. - Wer davon lebt, einen Feind zu bekaempfen, hat ein Interesse daran, dass er am Leben bleibt. 532. Wichtiger. - Man nimmt die unerklaerte dunkle Sache wichtiger, als die erklaerte helle. 533. Abschaetzung erwiesener Dienste. - Dienstleistungen, die uns jemand erweist, schaetzen wir nach dem Werthe, den Jener darauf legt, nicht nach dem, welchen sie fuer uns haben. 534. Unglueck. - Die Auszeichnung, welche im Unglueck liegt (als ob es ein Zeichen von Flachheit, Anspruchslosigkeit, Gewoehnlichkeit sei, sich gluecklich zu fuehlen), ist so gross, dass wenn Jemand Einem sagt: "Aber wie gluecklich Sie sind!" man gewoehnlich protestirt. 535. Phantasie der Angst. - Die Phantasie der Angst ist jener boese aeffische Kobold, der dem Menschen gerade dann noch auf den Ruecken springt, wenn er schon am schwersten zu tragen hat. 536. Werth abgeschmackter Gegner. - Man bleibt mitunter einer Sache nur desshalb treu, weil ihre Gegner nicht aufhoeren, abgeschmackt zu sein. 537. Werth eines Berufes. - Ein Beruf macht gedankenlos; darin liegt sein groesster Segen. Denn er ist eine Schutzwehr, hinter welche man sich, wenn Bedenken und Sorgen allgemeiner Art Einen anfallen, erlaubtermaassen zurueckziehen kann. 538. Talent. - Das Talent manches Menschen erscheint geringer als es ist, weil er sich immer zu grosse Aufgaben gestellt hat. 539. Jugend. - Die Jugend ist unangenehm; denn in ihr ist es nicht moeglich oder nicht vernuenftig, productiv zu sein, in irgend einem Sinne. 540. Zugrosse Ziele. - Wer sich oeffentlich grosse Ziele stellt und hinterdrein im Geheimen einsieht, dass er dazu zu schwach ist, hat gewoehnlich auch nicht Kraft genug, jene Ziele oeffentlich zu widerrufen und wird dann unvermeidlich zum Heuchler. 541. Im Strome. - Starke Wasser reissen viel Gestein und Gestruepp mit sich fort, starke Geister viel dumme und verworrene Koepfe. 542. Gefahren der geistigen Befreiung. - Bei der ernstlich gemeinten geistigen Befreiung eines Menschen hoffen im Stillen auch seine Leidenschaften und Begierden ihren Vortheil sich zu ersehen. 543. Verkoerperung des Geistes. - Wenn Einer viel und klug denkt, so bekommt nicht nur sein Gesicht, sondern auch sein Koerper ein kluges Aussehen. 544. Schlecht sehen und schlecht hoeren. - Wer wenig sieht, sieht immer weniger; wer schlecht hoert, hoert immer Einiges noch dazu. 545. Selbstgenuss in der Eitelkeit. - Der Eitele will nicht sowohl hervorragen, als sich hervorragend fuehlen, desshalb verschmaeht er kein Mittel des Selbstbetruges und der Selbstueberlistung. Nicht die Meinung der Anderen, sondern seine Meinung von Deren Meinung liegt ihm am Herzen. 546. Ausnahmsweise eitel. - Der fuer gewoehnlich Selbstgenuegsame ist ausnahmsweise eitel und fuer Ruhm- und Lobsprueche empfaenglich, wenn er koerperlich krank ist. In dem Maasse, in welchem er sich verliert, muss er sich aus fremder Meinung, von Aussen her, wieder zu gewinnen suchen. 547. Die "Geistreichen". - Der hat keinen Geist, welcher den Geist sucht. 548. Wink fuer Parteihaeupter. - Wenn man die Leute dazu treiben kann, sich oeffentlich fuer Etwas zu erklaeren, so hat man sie meistens auch dazu gebracht, sich innerlich dafuer zu erklaeren; sie wollen fuerderhin als consequent erfunden werden. 549. Verachtung. - Die Verachtung durch Andere ist dem Menschen empfindlicher, als die durch sich selbst. 550. Schnur der Dankbarkeit. - Es giebt sclavische Seelen, welche die Erkenntlichkeit fuer erwiesene Wohlthaten so weit treiben, dass sie sich mit der Schnur der Dankbarkeit selbst erdrosseln. 551. Kunstgriff des Propheten. - Um die Handlungsweise gewoehnlicher Menschen im Voraus zu errathen, muss man annehmen, dass sie immer den mindesten Aufwand an Geist machen, um sich aus einer unangenehmen Lage zu befreien. 552. Das einzige Menschenrecht. - Wer vom Herkoemmlichen abweicht, ist das Opfer des Aussergewoehnlichen; wer im Herkoemmlichen bleibt, ist der Sclave desselben. Zu Grunde gerichtet wird man auf jeden Fall. 553. Unter das Thier hinab. - Wenn der Mensch vor Lachen wiehert, uebertrifft er alle Thiere durch seine Gemeinheit. 554. Halbwissen. - Der, welcher eine fremde Sprache wenig spricht, hat mehr Freude daran, als Der, welcher sie gut spricht. Das Vergnuegen ist bei den Halbwissenden. 555. Gefaehrliche Huelfbereitschaft. - Es giebt Leute, welche das Leben den Menschen erschweren wollen, aus keinem andern Grunde, als um ihnen hinterdrein ihre Recepte zur Erleichterung des Lebens, zum Beispiel ihr Christenthum, anzubieten. 556. Fleiss und Gewissenhaftigkeit. - Fleiss und Gewissenhaftigkeit sind oftmals dadurch Antagonisten, dass der Fleiss die Fruechte sauer vom Baume nehmen will, die Gewissenhaftigkeit sie aber zu lange haengen laesst, bis sie herabfallen und sich zerschlagen. 557. Verdaechtigen. - Menschen, welche man nicht leiden kann, sucht man sich zu verdaechtigen. 558. Die Umstaende fehlen. - Viele Menschen warten ihr Leben lang auf die Gelegenheit, auf ihre Art gut zu sein. 559. Mangel an Freunden. - Der Mangel an Freunden laesst auf Neid oder Anmaassung schliessen. Mancher verdankt seine Freunde nur dem gluecklichen Umstande, dass er keinen Anlass zum Neide hat. 560. Gefahr in der Vielheit. - Mit einem Talente mehr steht man oft unsicherer, als mit einem weniger: wie der Tisch besser auf drei, als auf vier Fuessen steht. 561. Den Andern zum Vorbild. - Wer ein gutes Beispiel geben will, muss seiner Tugend einen Gran Narrheit zusetzen: dann ahmt man nach und erhebt sich zugleich ueber den Nachgeahmten, - was die Menschen lieben. 562. Zielscheibe sein. - Die boesen Reden Anderer ueber uns gelten oft nicht eigentlich uns, sondern sind die Aeusserungen eines Aergers, einer Verstimmung aus ganz anderen Gruenden. 563. Leicht resignirt. - Man leidet wenig an versagten Wuenschen, wenn man seine Phantasie geuebt hat, die Vergangenheit zu verhaesslichen. 564. In Gefahr. - Man ist am Meisten in Gefahr, ueberfahren zu werden, wenn man eben einem Wagen ausgewichen ist. 565. Je nach der Stimme die Rolle. - Wer gezwungen ist, lauter zu reden, als er gewohnt ist (etwa vor einem Halb-Tauben oder vor einem grossen Auditorium), uebertreibt gewoehnlich die Dinge, welche er mitzutheilen hat. - Mancher wird zum Verschwoerer, boeswilligen Nachredner, Intriguanten, blos weil seine Stimme sich am besten zu einem Gefluester eignet. 566. Liebe und Hass. - Liebe und Hass sind nicht blind, aber geblendet vom Feuer, das sie selber mit sich tragen. 567. Mit Vortheil angefeindet. - Menschen, welche der Welt ihre Verdienste nicht voellig deutlich machen koennen, suchen sich eine starke Feindschaft zu erwecken. Sie haben dann den Trost, zu denken, dass diese zwischen ihren Verdiensten und deren Anerkennung stehe - und dass mancher Andere das Selbe vermuthe: was sehr vortheilhaft fuer ihre Geltung ist. 568. Beichte. - Man vergisst seine Schuld, wenn man sie einem Andern gebeichtet hat, aber gewoehnlich vergisst der Andere sie nicht. 569. Selbstgenuegsamkeit. - Das goldene Vliess der Selbstgenuegsamkeit schuetzt gegen Pruegel, aber nicht gegen Nadelstiche. 570. Schatten in der Flamme. - Die Flamme ist sich selber nicht so hell, als den Anderen, denen sie leuchtet: so auch der Weise. 571. Eigene Meinungen. - Die erste Meinung, welche uns einfaellt, wenn wir ploetzlich ueber eine Sache befragt werden, ist gewoehnlich nicht unsere eigene, sondern nur die landlaeufige, unserer Kaste, Stellung, Abkunft zugehoerige; die eigenen Meinungen schwimmen selten oben auf. 572. Herkunft des Muthes. - Der gewoehnliche Mensch ist muthig und unverwundbar wie ein Held, wenn er die Gefahr nicht sieht, fuer sie keine Augen hat. Umgekehrt: der Held hat die einzig verwundbare Stelle auf dem Ruecken, also dort, wo er keine Augen hat. 573. Gefahr im Arzte. - Man muss fuer seinen Arzt geboren sein, sonst geht man an seinem Arzt zu Grunde. 574. Wunderliche Eitelkeit. - Wer dreimal mit Dreistigkeit das Wetter prophezeit hat und Erfolg hatte, der glaubt im Grunde seiner Seele ein Wenig an seine Prophetengabe. Wir lassen das Wunderliche, Irrationelle gelten, wenn es unserer Selbstschaetzung schmeichelt. 575. Beruf. - Ein Beruf ist das Rueckgrat des Lebens. 576. Gefahr persoenlichen Einflusses. - Wer fuehlt, dass er auf einen Anderen einen grossen innerlichen Einfluss ausuebt, muss ihm ganz freie Zuegel lassen, ja gelegentliches Widerstreben gern sehen und selbst herbeifuehren: sonst wird er unvermeidlich sich einen Feind machen. 577. Den Erben gelten lassen. - Wer etwas Grosses in selbstloser Gesinnung begruendet hat, sorgt dafuer, sich Erben zu erziehen. Es ist das Zeichen einer tyrannischen und unedlen Natur, in allen moeglichen Erben seines Werkes seine Gegner zu sehen und gegen sie im Stande der Nothwehr zu leben. 578. Halbwissen. - Das Halbwissen ist siegreicher, als das Ganzwissen: es kennt die Dinge einfacher, als sie sind, und macht daher seine Meinung fasslicher und ueberzeugender. 579. Nicht geeignet zum Parteimann. - Wer viel denkt, eignet sich nicht zum Parteimann: er denkt sich zu bald durch die Partei hindurch. 580. Schlechtes Gedaechtniss. - Der Vortheil des schlechten Gedaechtnisses ist, dass man die selben guten Dinge mehrere Male zum Ersten Male geniesst. 581. Sich Schmerzen machen. - Ruecksichtslosigkeit des Denkens ist oft das Zeichen einer unfriedlichen inneren Gesinnung, welche Betaeubung begehrt. 582. Maertyrer. - Der Juenger eines Maertyrers leidet mehr, als der Maertyrer. 583. Rueckstaendige Eitelkeit. - Die Eitelkeit mancher Menschen, die es nicht noethig haetten, eitel zu sein, ist die uebriggebliebene und gross gewachsene Gewohnheit aus der Zeit her, wo sie noch kein Recht hatten, an sich zu glauben und diesen Glauben erst von Andern in kleiner Muenze einbettelten. 584. Punctum saliens der Leidenschaft. - Wer im Begriff ist, in Zorn oder in einen heftigen Liebesaffect zu gerathen, erreicht einen Punct, wo die Seele voll ist wie ein Gefaess: aber doch muss ein Wassertropfen noch hinzukommen, der gute Wille zur Leidenschaft (den man gewoehnlich auch den boesen nennt). Es ist nur dieses Puenctchen noethig, dann laeuft das Gefaess ueber. 585. Gedanke des Unmuthes. - Es ist mit den Menschen wie mit den Kohlenmeilern im Walde. Erst wenn die jungen Menschen ausgeglueht haben und verkohlt sind, gleich jenen, dann werden sie nuetzlich. So lange sie dampfen und rauchen, sind sie vielleicht interessanter, aber unnuetz und gar zu haeufig unbequem. - Die Menschheit verwendet schonungslos jeden Einzelnen als Material zum Heizen ihrer grossen Maschinen: aber wozu dann die Maschinen, wenn alle Einzelnen (das heisst die Menschheit) nur dazu nuetzen, sie zu unterhalten? Maschinen, die sich selbst Zweck sind, - ist das die umana commedia? 586. Vom Stundenzeiger des Lebens. - Das Leben besteht aus seltenen einzelnen Momenten von hoechster Bedeutsamkeit und unzaehlig vielen Intervallen, in denen uns besten Falls die Schattenbilder jener Momente umschweben. Die Liebe, der Fruehling, jede schoene Melodie, das Gebirge, der Mond, das Meer - Alles redet nur einmal ganz zum Herzen: wenn es ueberhaupt je ganz zu Worte kommt. Denn viele Menschen haben jene Momente gar nicht und sind selber Intervalle und Pausen in der Symphonie des wirklichen Lebens. 587. Angreifen oder eingreifen. - Wir machen haeufig den Fehler, eine Richtung oder Partei oder Zeit lebhaft anzufeinden, weil wir zufaellig nur ihre veraeusserlichte Seite, ihre Verkuemmerung oder die ihnen nothwendig anhaftenden "Fehler ihrer Tugenden" zu sehen bekommen, - vielleicht weil wir selbst an diesen vornehmlich theilgenommen haben. Dann wenden wir ihnen den Ruecken und suchen eine entgegengesetzte Richtung; aber das Bessere waere, die starken guten Seiten aufzusuchen oder an sich selber auszubilden. Freilich gehoert ein kraeftigerer Blick und besserer Wille dazu, das Werdende und Unvollkommene zu foerdern, als es in seiner Unvollkommenheit zu durchschauen und zu verleugnen. 588. Bescheidenheit. - Es giebt wahre Bescheidenheit (das heisst die Erkenntniss, dass wir nicht unsere eigenen Werke sind); und recht wohl geziemt sie dem grossen Geiste, weil gerade er den Gedanken der voelligen Unverantwortlichkeit (auch fuer das Gute, was er schafft) fassen kann. Die Unbescheidenheit des Grossen hasst man nicht, insofern er seine Kraft fuehlt, sondern weil er seine Kraft dadurch erst erfahren will, dass er die Anderen verletzt, herrisch behandelt und zusieht, wie weit sie es aushalten. Gewoehnlich beweist diess sogar den Mangel an sicherem Gefuehl der Kraft und macht somit die Menschen an seiner Groesse zweifeln. Insofern ist Unbescheidenheit vom Gesichtspuncte der Klugheit aus sehr zu widerrathen. 589. Des Tages erster Gedanke. - Das beste Mittel, jeden Tag gut zu beginnen, ist: beim Erwachen daran zu denken, ob man nicht wenigstens einem Menschen an diesem Tage eine Freude machen koenne. Wenn diess als ein Ersatz fuer die religioese Gewoehnung des Gebetes gelten duerfte, so haetten die Mitmenschen einen Vortheil bei dieser Aenderung. 590. Anmaassung als letztes Trostmittel. - Wenn man ein Missgeschick, seinen intellectuellen Mangel, seine Krankheit sich so zurecht legt, dass man hierin sein vorgezeichnetes Schicksal, seine Pruefung oder die geheimnissvolle Strafe fuer frueher Begangenes sieht, so macht man sich sein eigenes Wesen dadurch interessant und erhebt sich in der Vorstellung ueber seine Mitmenschen. Der stolze Suender ist eine bekannte Figur in allen kirchlichen Secten. 591. Vegetation des Glueckes. - Dicht neben dem Wehe der Welt, und oft auf seinem vulcanischen Boden, hat der Mensch seine kleinen Gaerten des Glueckes angelegt; ob man das Leben mit dem Blicke Dessen betrachtet, der vom Dasein Erkenntniss allein will, oder Dessen, der sich ergiebt und resignirt, oder Dessen, der an der ueberwundenen Schwierigkeit sich freut, - ueberall wird er etwas Glueck neben dem Unheil aufgesprosst finden - und zwar um so mehr Glueck, je vulcanischer der Boden war nur waere es laecherlich, zu sagen, dass mit diesem Glueck das Leiden selbst gerechtfertigt sei. 592. Die Strasse der Vorfahren. - Es ist vernuenftig, wenn jemand das Talent, auf welches sein Vater oder Grossvater Muehe verwendet hat, an sich selbst weiter ausbildet und nicht zu etwas ganz Neuem umschlaegt; er nimmt sich sonst die Moeglichkeit, zum Vollkommenen in irgend einem Handwerk zu gelangen. Desshalb sagt das Spruechwort: "Welche Strasse sollst du reiten? - die deiner Vorfahren." 593. Eitelkeit und Ehrgeiz als Erzieher. - So lange Einer noch nicht zum Werkzeug des allgemeinen menschlichen Nutzens geworden ist, mag ihn der Ehrgeiz peinigen; ist jenes Ziel aber erreicht, arbeitet er mit Nothwendigkeit wie eine Maschine zum Besten Aller, so mag dann die Eitelkeit kommen; sie wird ihn im Kleinen vermenschlichen, geselliger, ertraeglicher, nachsichtiger machen, dann, wenn der Ehrgeiz die grobe Arbeit (ihn nuetzlich zu machen) an ihm vollendet hat. 594. Philosophische Neulinge. - Hat man die Weisheit eines Philosophen eben eingenommen, so geht man durch die Strassen mit dem Gefuehle, als sei man umgeschaffen und ein grosser Mann geworden; denn man findet lauter Solche, welche diese Weisheit nicht kennen, hat also ueber Alles eine neue unbekannte Entscheidung vorzutragen: weil man ein Gesetzbuch anerkennt, meint man jetzt auch sich als Richter gebaerden zu muessen. 595. Durch Missfallen gefallen. - Die Menschen, welche lieber auffallen und dabei missfallen wollen, begehren das Selbe wie Die, welche nicht auffallen und gefallen wollen, nur in einem viel hoeheren Grade und indirect, vermittelst einer Stufe, durch welche sie sich scheinbar von ihrem Ziele entfernen. Sie wollen Einfluss und Macht, und zeigen desshalb ihre Ueberlegenheit, selbst so, dass sie unangenehm empfunden wird; denn sie wissen, dass Der, welcher endlich zur Macht gelangt ist, fast in Allem was er thut und sagt, gefaellt, und dass selbst, wo er missfaellt, er doch noch zu gefallen scheint. - Auch der Freigeist, und ebenso der Glaeubige, wollen Macht, um durch sie einmal zu gefallen; wenn ihnen ihrer Lehre wegen ein uebeles Schicksal, Verfolgung, Kerker, Hinrichtung, droht, so freuen sie sich des Gedankens, dass ihre Lehre auf diese Weise der Menschheit eingeritzt und eingebrannt wird; sie nehmen es hin als ein schmerzhaftes, aber kraeftiges, wenngleich spaet wirkendes Mittel, um doch noch zur Macht zu gelangen. 596. Casus belli und Aehnliches - Der Fuerst, welcher zu dem gefassten Entschlusse, Krieg mit dem Nachbar zu fuehren, einen casus belli ausfindig macht, gleicht dem Vater, der seinem Kinde eine Mutter unterschiebt, welche fuerderhin als solche gelten soll. Und sind nicht fast alle oeffentlich bekannt gemachten Motive unserer Handlungen solche untergeschobene Muetter? 597. Leidenschaft und Recht. - Niemand spricht leidenschaftlicher von seinem Rechte, als Der, welcher im Grunde seiner Seele einen Zweifel an seinem Rechte hat. Indem er die Leidenschaft auf seine Seite zieht, will er den Verstand und dessen Zweifel betaeuben: so gewinnt er das gute Gewissen und mit ihm den Erfolg bei den Mitmenschen. 598. Kunstgriff des Entsagenden. - Wer gegen die Ehe protestirt nach Art der katholischen Priester wird diese nach ihrer niedrigsten, gemeinsten Auffassung zu verstehen suchen. Ebenso wer die Ehre bei den Zeitgenossen von sich abweist, wird deren Begriff niedrig fassen; so erleichtert er sich die Entbehrung und den Kampf dagegen. Uebrigens wird Der, welcher sich im Ganzen viel versagt, sich im Kleinen leicht Indulgenz geben. Es waere moeglich, dass Der, welcher ueber den Beifall der Zeitgenossen erhaben ist, doch die Befriedigung kleiner Eitelkeiten sich nicht versagen will. 599. Lebensalter der Anmaassung. - Zwischen dem sechsundzwanzigsten und dreissigsten Jahre liegt bei begabten Menschen die eigentliche Periode der Anmaassung; es ist die Zeit der ersten Reife, mit einem starken Rest von Saeuerlichkeit. Man fordert auf Grund dessen, was man in sich fuehlt, von Mensen, welche Nichts oder wenig davon sehen, Ehre und Demuethigung, und raecht sich, weil diese zunaechst ausbleiben, durch jenen Blick, jene Gebaerde der Anmaassung, jenen Ton der Stimme, die ein feines Ohr und Auge an allen Productionen jenes Alters, seien es Gedichte, Philosophien, oder Bilder und Musik, wiedererkennt. Aeltere erfahrene Maenner laecheln dazu und mit Ruehrung gedenken sie dieses schoenen Lebensalters, in dem man boese ueber das Geschick ist, so viel zu sein und so wenig zu scheinen. Spaeter scheint man wirklich mehr, - aber man hat den guten Glauben verloren, viel zu sein: man bleibe denn zeitlebens ein unverbesserlicher Narr der Eitelkeit. 600. Truegerisch und doch haltbar. - Wie man, um an einem Abgrund vorbeizugehen oder einen tiefen Bach auf einem Balken zu ueberschreiten, eines Gelaenders bedarf, nicht um sich daran festzuhalten, - denn es wuerde sofort mit Einem zusammenbrechen, sondern um die Vorstellung der Sicherheit fuer das Auge zu erwecken, - so bedarf man als Juengling solcher Personen, welche uns unbewusst den Dienst jenes Gelaenders erweisen; es ist wahr, sie wuerden uns nicht helfen, wenn wir uns wirklich, in grosser Gefahr, auf sie stuetzen wollten, aber sie geben die beruhigende Empfindung des Schutzes in der Naehe (zum Beispiel Vaeter, Lehrer, Freunde, wie sie, alle drei, gewoehnlich sind). 601. Lieben lernen. - Man muss lieben lernen, guetig sein lernen, und diess von Jugend auf; wenn Erziehung und Zufall uns keine Gelegenheit zur Uebung dieser Empfindungen geben, so wird unsere Seele trocken und selbst zu einem Verstaendnisse jener zarten Erfindungen liebevoller Menschen ungeeignet. Ebenso muss der Hass gelernt und genaehrt werden, wenn Einer ein tuechtiger Hasser werden will: sonst wird auch der Keim dazu allmaehlich absterben. 602. Die Ruine als Schmuck. - Solche, die viele geistige Wandlungen durchmachen, behalten einige Ansichten und Gewohnheiten frueherer Zustaende bei, welche dann wie ein Stueck unerklaerlichen Alterthums und grauen Mauerwerks in ihr neues Denken und Handeln hineinragen: oft zur Zierde der ganzen Gegend. 603. Liebe und Ehre. - Die Liebe begehrt, die Furcht meidet. Daran liegt es, dass man nicht zugleich von derselben Person wenigstens in dem selben Zeitraume, geliebt und geehrt werden kann. Denn der Ehrende erkennt die Macht an, das heisst er fuerchtet sie: sein Zustand ist Ehrfurcht. Die Liebe aber erkennt keine Macht an, Nichts was trennt, abhebt, ueber- und unterordnet. Weil sie nicht ehrt, so sind ehrsuechtige Menschen insgeheim oder oeffentlich gegen das Geliebtwerden widerspaenstig. 604. Vorurtheil fuer die kalten Menschen. - Menschen, welche rasch Feuer fangen, werden schnell kalt und sind daher im Ganzen unzuverlaessig. Desshalb giebt es fuer alle Die, welche immer kalt sind oder sich so stellen, das guenstige Vorurtheil, dass es besonders vertrauenswerthe zuverlaessige Menschen seien: man verwechselt sie mit Denen, welche langsam Feuer fangen und es lange festhalten. 605. Das Gefaehrliche an freien Meinungen. - Das leichte Befassen mit freien Meinungen giebt einen Reiz, wie eine Art jucken; giebt man ihm mehr nach, so faengt man an, die Stellen zu reiben; bis zuletzt eine offene schmerzende Wunde entsteht, das heisst: bis die freie Meinung uns in unserer Lebensstellung, unsern menschlichen Beziehungen zu stoeren, zu quaelen beginnt. 606. Begierde nach tiefem Schmerz. - Die Leidenschaft laesst, wenn sie vorueber ist, eine dunkele Sehnsucht nach sich selber zurueck und wirft im Verschwinden noch einen verfuehrerischen Blick zu. Es muss doch eine Art von Lust gewaehrt haben, mit ihrer Geissel geschlagen worden zu sein. Die maessigeren Empfindungen erscheinen dagegen schaal; man will, wie es scheint, die heftigere Unlust immer noch lieber als die matte Lust. 607. Unmuth ueber andere und die Welt. - Wenn wir, wie so haeufig, unsern Unmuth an Anderen auslassen, waehrend wir ihn eigentlich ueber uns empfinden, erstreben wir im Grunde eine Umnebelung und Taeuschung unseres Urtheils: wir wollen diesen Unmuth a posteriori motiviren durch die Versehen, Maengel der Anderen und uns selber so aus den Augen verlieren. - Die religioes strengen Menschen, welche gegen sich selber unerbittliche Richter sind, haben zugleich am meisten Uebles der Menschheit ueberhaupt nachgesagt: ein Heiliger, welcher sich die Suenden und den Anderen die Tugenden vorbehaelt, hat nie gelebt: ebensowenig wie jener, welcher nach Buddha's Vorschrift sein Gutes vor den Leuten verbirgt und ihnen sein Boeses allein sehen laesst. 608. Ursache und Wirkung verwechselt. - Wir suchen unbewusst die Grundsaetze und Lehrmeinungen, welche unserem Temperamente angemessen sind, so dass es zuletzt so aussieht, als ob die Grundsaetze und Lehrmeinungen unseren Charakter geschaffen, ihm Halt und Sicherheit gegeben haetten: waehrend es gerade umgekehrt zugegangen ist. Unser Denken und Urtheilen soll nachtraeglich, so scheint es, zur Ursache unseres Wesens gemacht werden: aber thatsaechlich ist unser Wesen die Ursache, dass wir so und so denken und urtheilen. - Und was bestimmt uns zu dieser fast unbewussten Komoedie? Die Traegheit und Bequemlichkeit und nicht am wenigsten der Wunsch der Eitelkeit, durch und durch als consistent, in Wesen und Denken einartig erfunden zu werden: denn diess erwirbt Achtung, giebt Vertrauen und Macht. 609. Lebensalter und Wahrheit. - junge Leute lieben das Interessante und Absonderliche, gleichgueltig wie wahr oder falsch es ist. Reifere Geister lieben Das an der Wahrheit, was an ihr interessant und absonderlich ist. Ausgereifte Koepfe endlich lieben die Wahrheit auch in Dem, wo sie schlicht und einfaeltig erscheint und dem gewoehnlichen Menschen Langeweile macht, weil sie gemerkt haben, dass die Wahrheit das Hoechste an Geist, was sie besitzt, mit der Miene der Einfalt zu sagen pflegt. 610. Die Menschen als schlechte Dichter. - So wie schlechte Dichter im zweiten Theil des Verses zum Reime den Gedanken suchen, so pflegen die Menschen in der zweiten Haelfte des Lebens, aengstlicher geworden, die Handlungen, Stellungen, Verhaeltnisse zu suchen, welche zu denen ihres frueheren Lebens passen, so dass aeusserlich Alles wohl zusammenklingt: aber ihr Leben ist nicht mehr von einem starken Gedanken beherrscht und immer wieder neu bestimmt, sondern an die Stelle desselben tritt die Absicht, einen Reim zu finden. 611. Langeweile und Spiel. - Das Beduerfniss zwingt uns zur Arbeit, mit deren Ertrage das Beduerfniss gestillt wird; das immer neue Erwachen der Beduerfnisse gewoehnt uns an die Arbeit. In den Pausen aber, in welchen die Beduerfnisse gestillt sind und gleichsam schlafen, ueberfaellt uns die Langeweile. Was ist diese? Es ist die Gewoehnung an Arbeit ueberhaupt, welche sich jetzt als neues, hinzukommendes Beduerfniss geltend macht; sie wird um so staerker sein, je staerker Jemand gewoehnt ist zu arbeiten, vielleicht sogar je staerker Jemand an Beduerfnissen gelitten hat. Um der Langeweile zu entgehen, arbeitet der Mensch entweder ueber das Maass seiner sonstigen Beduerfnisse hinaus oder er erfindet das Spiel, das heisst die Arbeit, welche kein anderes Beduerfniss stillen soll, als das nach Arbeit ueberhaupt. Wer des Spieles ueberdruessig geworden ist und durch neue Beduerfnisse keinen Grund zur Arbeit hat, den ueberfaellt mitunter das Verlangen nach einem dritten Zustand, welcher sich zum Spiel verhaelt, wie Schweben zum Tanzen, wie Tanzen zum Gehen, nach einer seligen, ruhigen Bewegtheit: es ist die Vision der Kuenstler und Philosophen von dem Glueck. 612. Lehre aus Bildern. - Betrachtet man eine Reihe Bilder von sich selber, von den Zeiten der letzten Kindheit bis zu der der Mannesreife, so findet man mit einer angenehmen Verwunderung, dass der Mann dem Kinde aehnlicher sieht, als der Mann dem Juenglinge: dass also, wahrscheinlich diesem Vorgange entsprechend, inzwischen eine zeitweilige Alienation vom Grundcharakter eingetreten ist, ueber welche die gesammelte, geballte Kraft des Mannes wieder Herr wurde. Dieser Wahrnehmung entspricht die andere, dass alle die starken Einwirkungen von Leidenschaften, Lehrern, politischen Ereignissen, welche in dem Juenglingsalter uns herumziehen, spaeter wieder auf ein festes Maass zurueckgefuehrt erscheinen: gewiss, sie leben und wirken in uns fort, aber das Grundempfinden und Grundmeinen hat doch die Uebermacht und benutzt sie wohl als Kraftquellen, nicht aber mehr als Regulatoren, wie diess wohl in den zwanziger Jahren geschieht. So erscheint auch das Denken und Empfinden des Mannes dem seines kindlichen Lebensalters wieder gemaesser, - und diese innere Thatsache spricht sich in der erwaehnten aeusseren aus. 613. Stimmklang der Lebensalter. - Der Ton, indem Juenglinge reden, loben, tadeln, dichten, missfaellt dem Aelter gewordenen, weil er zu laut ist und zwar zugleich dumpf und undeutlich wie der Ton in einem Gewoelbe, der durch die Leerheit eine solche Schallkraft bekommt; denn das Meiste, was Juenglinge denken, ist nicht aus der Fuelle ihrer eigenen Natur herausgestroemt, sondern ist Anklang, Nachklang von dem, was in ihrer Naehe gedacht, geredet, gelobt, getadelt worden ist. Weil aber die Empfindungen (der Neigung und Abneigung) viel staerker, als die Gruende fuer jene, in ihnen nachklingen, so entsteht, wenn sie ihre Empfindung wieder laut werden lassen, jener dumpfe, hallende Ton, welcher fuer die Abwesenheit oder die Spaerlichkeit von Gruenden das Kennzeichen abgiebt. Der Ton des reiferen Alters ist streng, kurz abgebrochen, maessig laut, aber, wie alles deutlich Articulirte, sehr weit tragend. Das Alter endlich bringt haeufig eine gewisse Milde und Nachsicht in den Klang und verzuckert ihn gleichsam: in manchen Faellen freilich versaeuert sie ihn auch. 614. Zurueckgebliebene und vorwegnehmende Menschen. - Der unangenehme Charakter, welcher voller Misstrauen ist, alles glueckliche Gelingen der Mitbewerbenden und Naechsten mit Neid fuehlt, gegen abweichende Meinungen gewaltthaetig und aufbrausend ist, zeigt, dass er einer frueheren Stufe der Cultur zugehoert, also ein Ueberbleibsel ist: denn die Art, in welcher er mit den Menschen verkehrt, war die rechte und zutreffende fuer die Zustaende eines Faustrecht-Zeitalters; es ist ein zurueckgebliebener Mensch. Ein anderer Charakter, welcher reich an Mitfreude ist, ueberall Freunde gewinnt, alles Wachsende und Werdende liebevoll empfindet, alle Ehren und Erfolge Anderer mitgeniesst und kein Vorrecht, das Wahre allein zu erkennen, in Anspruch nimmt, sondern voll eines bescheidenen Misstrauens ist, - das ist ein vorwegnehmender Mensch, welcher einer hoeheren Cultur der Menschen entgegenstrebt. Der unangenehme Charakter stammt aus den Zeiten, wo die rohen Fundamente des menschlichen Verkehrs erst zu bauen waren, der andere lebt auf deren hoechsten Stockwerken, moeglichst entfernt von dem wilden Thier, welches in den Kellern, unter den Fundamenten der Cultur, eingeschlossen wuethet und heult. 615. Trost fuer Hypochonder. - Wenn ein grosser Denker zeitweilig hypochondrischen Selbstquaelereien unterworfen ist, so mag er sich zum Troste sagen: "es ist deine eigene grosse Kraft, von der dieser Parasit sich naehrt und waechst; waere sie geringer, so wuerdest du weniger zu leiden haben." Ebenso mag der Staatsmann sprechen, wenn Eifersucht und Rachegefuehl, ueberhaupt die Stimmung des bellum omnium contra omnes, zu der er als Vertreter einer Nation nothwendig eine starke Begabung haben muss, sich gelegentlich auch in seine persoenlichen Beziehungen eindraengt und ihm das Leben schwer macht. 616. Der Gegenwart entfremdet. - Es hat grosse Vortheile, seiner Zeit sich einmal in staerkerem Maasse zu entfremden und gleichsam von ihrem Ufer zurueck in den Ocean der vergangenen Weltbetrachtungen getrieben zu werden. Von dort aus nach der Kueste zu blickend, ueberschaut man wohl zum ersten Male ihre gesammte Gestaltung und hat, wenn man sich ihr wieder naehert, den Vortheil, sie besser im Ganzen zu verstehen, als Die, welche sie nie verlassen haben. 617. Auf persoenlichen Maengeln saeen und ernten. - Menschen wie Rousseau verstehen es, ihre Schwaechen, Luecken, Laster gleichsam als Duenger ihres Talentes zu benutzen. Wenn jener die Verdorbenheit und Entartung der Gesellschaft als leidige Folge der Cultur beklagt, so liegt hier eine persoenliche Erfahrung zu Grunde; deren Bitterkeit giebt ihm die Schaerfe seiner allgemeinen Verurtheilung und vergiftet die Pfeile, mit denen er schiesst; er entlastet sich zunaechst als ein Individuum und denkt ein Heilmittel zu suchen, das direct der Gesellschaft, aber indirect und vermittelst jener, auch ihm zu Nutze ist. 618. Philosophisch gesinnt sein. - Gewoehnlich strebt man darnach, fuer alle Lebenslagen und Ereignisse eine Haltung des Gemuethes, eine Gattung von Ansichten zu erwerben, - das nennt man vornehmlich philosophisch gesinnt sein. Aber fuer die Bereicherung der Erkenntniss mag es hoeheren Werth haben, nicht in dieser Weise sich zu uniformiren, sondern auf die leise Stimme der verschiedenen Lebenslagen zu hoeren; diese bringen ihre eigenen Ansichten mit sich. So nimmt man erkennenden Antheil am Leben und Wesen Vieler, indem man sich selber nicht als starres, bestaendiges, Eines Individuum behandelt. 619. Im Feuer der Verachtung. - Es ist ein neuer Schritt zum Selbstaendigwerden, wenn man erst Ansichten zu aeussern wagt, die als schmaehlich fuer Den gelten, welcher sie hegt; da pflegen auch die Freunde und Bekannten aengstlich zu werden. Auch durch dieses Feuer muss die begabte Natur hindurch; sie gehoert sich hinterdrein noch vielmehr selber an. 620. Aufopferung. - Die grosse Aufopferung wird, im Falle der Wahl, einer kleinen Aufopferung vorgezogen: weil wir fuer die grosse uns durch Selbstbewunderung entschaedigen, was uns bei der kleinen nicht moeglich ist. 621. Liebe als Kunstgriff. - Wer etwas Neues wirklich kennen lernen will (sei es ein Mensch, ein Ereigniss, ein Buch), der thut gut, dieses Neue mit aller moeglichen Liebe aufzunehmen, von Allem, was ihm daran feindlich, anstoessig, falsch vorkommt, schnell das Auge abzuwenden, ja es zu vergessen: so dass man zum Beispiel dem Autor eines Buches den groessten Vorsprung giebt und geradezu, wie bei einem Wettrennen, mit klopfendem Herzen danach begehrt, dass er sein Ziel erreiche. Mit diesem Verfahren dringt man naehmlich der neuen Sache bis an ihr Herz, bis an ihren bewegenden Punct: und diess heisst eben sie kennen lernen. Ist man soweit, so macht der Verstand hinterdrein seine Restrictionen; jene Ueberschaetzung, jenes zeitweilige Aushaengen des kritischen Pendels war eben nur der Kunstgriff, die Seele einer Sache herauszulocken. 622. Zu gut und zu schlecht von der Welt denken. - Ob man zu gut oder zu schlecht von den Dingen denkt, man hat immer den Vortheil dabei, eine hoehere Lust einzuernten: denn bei einer vorgefassten zu guten Meinung legen wir gewoehnlich mehr Suessigkeit in die Dinge (Erlebnisse) hinein, als sie eigentlich enthalten. Eine vorgefasste zu schlechte Meinung verursacht eine angenehme Enttaeuschung: das Angenehme, das an sich in den Dingen lag, bekommt einen Zuwachs durch das Angenehme der Ueberraschung. - Ein finsteres Temperament wird uebrigens in beiden Faellen die umgekehrte Erfahrung machen. 623. Tiefe Menschen. - Diejenigen, welche ihre Staerke in der Vertiefung der Eindruecke haben - man nennt sie gewoehnlich tiefe Menschen - sind bei allem Ploetzlichen verhaeltnissmaessig gefasst und entschlossen: denn im ersten Augenblick war der Eindruck noch flach, er wird dann erst tief. Lange vorhergesehene, erwartete Dinge oder Personen regen aber solche Naturen am meisten auf und machen sie fast unfaehig, bei der endlichen Ankunft derselben noch Gegenwaertigkeit des Geistes zu haben. 624. Verkehr mit dem hoeheren Selbst. - Ein jeder hat seinen guten Tag, wo er sein hoeheres Selbst findet; und die wahre Humanitaet verlangt, jemanden nur nach diesem Zustande und nicht nach den Werktagen der Unfreiheit und Knechtung zu schaetzen. Man soll zum Beispiel einen Maler nach seiner hoechsten Vision, die er zu sehen und darzustellen vermochte, taxiren und verehren. Aber die Menschen selber verkehren sehr verschieden mit diesem ihrem hoeheren Selbst und sind haeufig ihre eigenen Schauspieler, insofern sie Das, was sie in jenen Augenblicken sind, spaeter immer wieder nachmachen. Manche leben in Scheu und Demuth vor ihrem Ideale und moechten es verleugnen: sie fuerchten ihr hoeheres Selbst, weil es, wenn es redet, anspruchsvoll redet. Dazu hat es eine geisterhafte Freiheit zu kommen und fortzubleiben wie es will; es wird desswegen haeufig eine Gabe der Goetter genannt, waehrend eigentlich alles Andere Gabe der Goetter (des Zufalls) ist: jenes aber ist der Mensch selber. 625. Einsame Menschen. - Manche Menschen sind so sehr an das Alleinsein mit sich selber gewoehnt, dass sie sich gar nicht mit Anderen vergleichen, sondern in einer ruhigen, freudigen Stimmung, unter guten Gespraechen mit sich, ja mit Lachen ihr monologisches Leben fortspinnen. Bringt man sie aber dazu, sich mit Anderen zu vergleichen, so neigen sie zu einer gruebelnden Unterschaetzung ihrer selbst: so dass sie gezwungen werden muessen, eine gute, gerechte Meinung ueber sich erst von Anderen wieder zu lernen: und auch von dieser erlernten Meinung werden sie immer wieder Etwas abziehen und abhandeln wollen. - Man muss also gewissen Menschen ihr Alleinsein goennen und nicht so albern sein, wie es haeufig geschieht, sie desswegen zu bedauern. 626. Ohne Melodie. - Es giebt Menschen, denen ein staetiges Beruhen in sich selbst und ein harmonisches Sich-zurecht-legen aller ihrer Faehigkeiten so zu eigen ist, dass ihnen jede zielesetzende Thaetigkeit widerstrebt. Sie gleichen einer Musik, welche aus lauter langgezogenen harmonischen Accorden besteht, ohne dass je auch nur der Ansatz zu einer gegliederten bewegten Melodie sich zeigte. Alle Bewegung von Aussen her dient nur, dem Kahne sofort wieder sein neues Gleichgewicht auf dem See harmonischen Wohlklangs zu geben. Moderne Menschen werden gewoehnlich auf's Aeusserste ungeduldig, wenn sie solchen Naturen begegnen, aus denen Nichts wird, ohne dass man ihnen sagen duerfte, dass sie Nichts sind. Aber in einzelnen Stimmungen erregt ihr Anblick jene ungewoehnliche Frage: wozu ueberhaupt Melodie? Warum genuegt es uns nicht, wenn das Leben sich ruhevoll in einem tiefen See spiegelt? - Das Mittelalter war reicher an solchen Naturen als unsere Zeit. Wie selten trifft man noch auf einen, der so recht friedlich und froh mit sich auch im Gedraenge fortleben kann, zu sich redend wie Goethe: "das Beste ist die tiefe Stille, in der ich gegen die Welt lebe und wachse, und gewinne, was sie mir mit Feuer und Schwert nicht nehmen koennen." 627. Leben und Erleben. - Sieht man zu, wie Einzelne mit ihren Erlebnissen - ihren unbedeutenden alltaeglichen Erlebnissen - umzugehen wissen, so dass diese zu einem Ackerland werden, das dreimal des Jahres Frucht traegt; waehrend Andere - und wie Viele! - durch den Wogenschlag der aufregendsten Schicksale, der mannigfaltigsten Zeit- und Volksstroemungen hindurchgetrieben werden und doch immer leicht, immer obenauf, wie Kork, bleiben: so ist man endlich versucht, die Menschheit in eine Minoritaet (Minimalitaet) Solcher einzutheilen, welche aus Wenigem Viel zu machen verstehen: und in eine Majoritaet Derer, welche aus Vielem Wenig zu machen verstehen; ja man trifft auf jene umgekehrten Hexenmeister, welche, anstatt die Welt aus Nichts, aus der Welt ein Nichts schaffen. 628. Ernst im Spiele. - In Genua hoerte ich zur Zeit der Abenddaemmerung von einem Thurme her ein langes Glockenspiel: das wollte nicht enden und klang, wie unersaettlich an sich selber, ueber das Geraeusch der Gassen in den Abendhimmel und die Meerluft hinaus, so schauerlich, so kindisch zugleich, so wehmuthsvoll. Da gedachte ich der Worte Plato's und fuehlte sie auf einmal im Herzen: alles Menschliche insgesammt ist des grossen Ernstes nicht werth; trotzdem-- 629. Von der Ueberzeugung und der Gerechtigkeit. - Das, was der Mensch in der Leidenschaft sagt, verspricht, beschliesst, nachher in Kaelte und Nuechternheit zu vertreten - diese Forderung gehoert zu den schwersten Lasten, welche die Menschheit druecken. Die Folgen des Zornes, der aufflammenden Rache, der begeisterten Hingebung in alle Zukunft hin anerkennen zu muessen - das kann zu einer um so groesseren Erbitterung gegen diese Empfindungen reizen, je mehr gerade mit ihnen allerwaerts und namentlich von den Kuenstlern ein Goetzendienst getrieben wird. Diese zuechten die Schaetzung der Leidenschaften gross und haben es immer gethan; freilich verherrlichen sie auch die furchtbaren Genugthuungen der Leidenschaft, welche Einer an sich selber nimmt, jene Racheausbrueche mit Tod, Verstuemmelung, freiwilliger Verbannung im Gefolge, und jene Resignation des zerbrochnen Herzens. Jedenfalls: halten sie die Neugierde nach den Leidenschaften wach, es ist, als ob sie sagen wollten: ihr habt ohne Leidenschaften gar Nichts erlebt. - Weil man Treue geschworen, vielleicht gar einem rein fingirten Wesen, wie einem Gotte, weil man sein Herz hingegeben hat, einem Fuersten, einer Partei, einem Weibe, einem priesterlichen Orden, einem Kuenstler, einem Denker, im Zustande eines verblendeten Wahnes, welcher Entzueckung ueber uns legte und jene Wesen als jeder Verehrung, jedes Opfers wuerdig erscheinen liess - ist man nun unentrinnbar fest gebunden? Ja haben wir uns denn damals nicht selbst betrogen? War es nicht ein hypothetisches Versprechen, unter der freilich nicht laut gewordenen Voraussetzung, dass jene Wesen, denen wir uns weihten wirklich die Wesen sind, als welche sie in unserer Vorstellung erschienen? Sind wir verpflichtet, unsern Irrthuemern treu zu sein, selbst mit der Einsicht, dass wir durch diese Treue an unserem hoeheren Selbst Schaden stiften? - Nein, es giebt kein Gesetz, keine Verpflichtung der Art, wir muessen Verraether werden, Untreue ueben, unsere Ideale immer wieder preisgeben. Aus einer Periode des Lebens in die andere schreiten wir nicht, ohne diese Schmerzen des Verrathes zu machen und auch daran wieder zu leiden. Waere es noethig, dass wir uns, um diesen Schmerzen zu entgehen, vor den Aufwallungen unserer Empfindung hueten muessten? Wuerde dann die Welt nicht zu oede, zu gespenstisch fuer uns werden? Vielmehr wollen wir uns fragen, ob diese Schmerzen bei einem Wechsel der Ueberzeugung nothwendig sind oder ob sie nicht von einer irrthuemlichen Meinung und Schaetzung abhaengen. Warum bewundert man Den, welcher seiner Ueberzeugung treu bleibt, und verachtet Den, welcher sie wechselt? Ich fuerchte, die Antwort muss sein: weil Jedermann voraussetzt, dass nur Motive gemeineren Vortheils oder persoenlicher Angst einen solchen Wechsel veranlassen. Das heisst: man glaubt im Grunde, dass Niemand seine Meinungen veraendert, so lange sie ihm vortheilhaft sind, oder wenigstens so lange sie ihm keinen Schaden bringen. Steht es aber so, so liegt darin ein schlimmes Zeugniss ueber die intellectuelle Bedeutung aller Ueberzeugungen. Pruefen wir einmal, wie Ueberzeugungen entstehen, und sehen wir zu, ob sie nicht bei Weitem ueberschaetzt werden: dabei wird sich ergeben, dass auch der Wechsel von Ueberzeugungen unter allen Umstaenden nach falschem Maasse bemessen wird und dass wir bisher zu viel an diesem Wechsel zu leiden pflegten. 630. Ueberzeugung ist der Glaube, in irgend einem Puncte der Erkenntniss im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gebe; ebenfalls, dass jene vollkommenen Methoden gefunden seien, um zu ihnen zu gelangen; endlich, dass jeder, der Ueberzeugungen habe, sich dieser vollkommenen Methoden bediene. Alle drei Aufstellungen beweisen sofort, dass der Mensch der Ueberzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftlichen Denkens ist; er steht im Alter der theoretischen Unschuld vor uns und ist ein Kind, wie erwachsen er auch sonst sein moege. Ganze Jahrtausende aber haben in jenen kindlichen Voraussetzungen gelebt und aus ihnen sind die maechtigsten Kraftquellen der Menschheit herausgestroemt. jene zahllosen Menschen, welche sich fuer ihre Ueberzeugungen opferten, meinten es fuer die unbedingte Wahrheit zu thun. Sie alle hatten Unrecht darin: wahrscheinlich hat noch nie ein Mensch sich fuer die Wahrheit geopfert; mindestens wird der dogmatische Ausdruck seines Glaubens unwissenschaftlich oder halbwissenschaftlich gewesen sein. Aber eigentlich wollte man Recht behalten, weil man meinte, Recht haben zu muessen. Seinen Glauben sich entreissen lassen, das bedeutete vielleicht seine ewige Seligkeit in Frage stellen. Bei einer Angelegenheit von dieser aeussersten Wichtigkeit war der "Wille" gar zu hoerbar der Souffleur des Intellects. Die Voraussetzung jedes Glaeubigen jeder Richtung war, nicht widerlegt werden zu koennen; erwiesen sich die Gegengruende als sehr stark, so blieb ihm immer noch uebrig, die Vernunft ueberhaupt zu verlaestern und vielleicht gar das "credo quia absurdum est" als Fahne des aeussersten Fanatismus aufzupflanzen. Es ist nicht der Kampf der Meinungen, welcher die Geschichte so gewaltthaetig gemacht hat, sondern der Kampf des Glaubens an die Meinungen, das heisst der Ueberzeugungen. Wenn doch alle Die, welche so gross von ihrer Ueberzeugung dachten, Opfer aller Art ihr brachten und Ehre, Leib und Leben in ihrem Dienste nicht schonten, nur die Haelfte ihrer Kraft der Untersuchung gewidmet haetten, mit welchem Rechte sie an dieser oder jener Ueberzeugung hiengen, auf welchem Wege sie zu ihr gekommen seien: wie friedfertig saehe die Geschichte der Menschheit aus! Wieviel mehr des Erkannten wuerde es geben! Alle die grausamen Scenen bei der Verfolgung der Ketzer jeder Art waeren uns aus zwei Gruenden erspart geblieben: einmal weil die Inquisitoren vor Allem in sich selbst inquirirt haetten und ueber die Anmaassung, die unbedingte Wahrheit zu vertheidigen, hinausgekommen waeren; sodann weil die Ketzer selber so schlecht begruendeten Saetzen, wie die Saetze aller religioesen Sectirer und "Rechtglaeubigen" sind, keine weitere Theilnahme geschenkt haben wuerden, nachdem sie dieselben untersucht haetten. 631. Aus den Zeiten her, in welchen Menschen daran gewoehnt waren, an den Besitz der unbedingten Wahrheit zu glauben, stammt ein tiefes Missbehagen an allen skeptischen und relativistischen Stellungen zu irgendwelchen Fragen der Erkenntniss; man zieht meistens vor, sich einer Ueberzeugung, welche Personen von Autoritaet haben (Vaeter, Freunde, Lehrer, Fuersten), auf Gnade oder Ungnade zu ergeben, und hat, wenn man diess nicht thut, eine Art von Gewissensbissen. Dieser Hang ist ganz begreiflich und seine Folgen geben kein Recht zu heftigen Vorwuerfen gegen die Entwickelung der menschlichen Vernunft. Allmaehlich muss aber der wissenschaftliche Geist im Menschen jene Tugend der vorsichtigen Enthaltung zeitigen, jene weise Maessigung, welche im Gebiet des praktischen Lebens bekannter ist, als im Gebiet des theoretischen Lebens, und welche zum Beispiel Goethe im Antonio dargestellt hat, als einen Gegenstand der Erbitterung fuer alle Tasso's, das heisst fuer die unwissenschaftlichen und zugleich thatlosen Naturen. Der Mensch der Ueberzeugung hat in sich ein Recht, jenen Menschen des vorsichtigen Denkens, den theoretischen Antonio, nicht zu begreifen; der wissenschaftliche Mensch hinwiederum hat kein Recht, jenen desshalb zu tadeln, er uebersieht ihn und weiss ausserdem, im bestimmten Falle, dass jener sich an ihn noch anklammern wird, so wie es Tasso zuletzt mit Antonio thut. 632. Wer nicht durch verschiedene Ueberzeugungen hindurchgegangen ist, sondern in dem Glauben haengen bleibt, in dessen Netz er sich zuerst verfieng, ist unter allen Umstaenden eben wegen dieser Unwandelbarkeit ein Vertreter zurueckgebliebener Culturen; er ist gemaess diesem Mangel an Bildung (welche immer Bildbarkeit voraussetzt) hart, unverstaendig, unbelehrbar, ohne Milde, ein ewiger Verdaechtiger, ein Unbedenklicher, der zu allen Mitteln greift, seine Meinung durchzusetzen, weil er gar nicht begreifen kann, dass es andere Meinungen geben muesse; er ist, in solchem Betracht, vielleicht eine Kraftquelle und in allzu frei und schlaff gewordenen Culturen sogar heilsam, aber doch nur, weil er kraeftig anreizt, ihm Widerpart zu halten: denn dabei wird das zartere Gebilde der neuen Cultur, welche zum Kampf mit ihm gezwungen ist, selber stark. 633. Wir sind im Wesentlichen noch dieselben Menschen, wie die des Zeitalters der Reformation: wie sollte es auch anders sein? Aber dass wir uns einige Mittel nicht mehr erlauben, um mit ihnen unsrer Meinung zum Siege zu verhelfen, das hebt uns gegen jene Zeit ab und beweist, dass wir einer hoehern Cultur angehoeren. Wer jetzt noch, in der Art der Reformations-Menschen, Meinungen mit Verdaechtigungen, mit Wuthausbruechen bekaempft und niederwirft, verraeth deutlich, dass er seine Gegner verbrannt haben wuerde, falls er in anderen Zeiten gelebt haette, und dass er zu allen Mitteln der Inquisition seine Zuflucht genommen haben wuerde, wenn er als Gegner der Reformation gelebt haette. Diese Inquisition war damals vernuenftig, denn sie bedeutete nichts Anderes, als den allgemeinen Belagerungszustand, welcher ueber den ganzen Bereich der Kirche verhaengt werden musste, und der, wie jeder Belagerungszustand, zu den aeussersten Mitteln berechtigte, unter der Voraussetzung naemlich (welche wir jetzt nicht mehr mit jenen Menschen theilen), dass man die Wahrheit, in der Kirche, habe, und um jeden Preis mit jedem Opfer zum Heile der Menschheit bewahren muesse. Jetzt aber giebt man Niemandem so leicht mehr zu, dass er die Wahrheit habe: die strengen Methoden der Forschung haben genug Misstrauen und Vorsicht verbreitet, so dass Jeder, welcher gewaltthaetig in Wort und Werk Meinungen vertritt, als ein Feind unserer jetzigen Cultur, mindestens als ein zurueckgebliebener empfunden wird. In der That: das Pathos, dass man die Wahrheit habe, gilt jetzt sehr wenig im Verhaeltniss zu jenem freilich milderen und klanglosen Pathos des Wahrheit-Suchens, welches nicht muede wird, umzulernen und neu zu pruefen. 634. Uebrigens ist das methodische Suchen der Wahrheit selber das Resultat jener Zeiten, in denen die Ueberzeugungen mit einander in Fehde lagen. Wenn nicht dem Einzelnen an seiner "Wahrheit", das heisst an seinem Rechtbehalten gelegen haette, so gebe es ueberhaupt keine Methode der Forschung; so aber, bei dem ewigen Kampfe der Ansprueche verschiedener Einzelner auf unbedingte Wahrheit, gieng man Schritt vor Schritt weiter, um unumstoessliche Prinzipien zu finden, nach denen das Recht der Ansprueche geprueft und der Streit geschlichtet werden koenne. Zuerst entschied man nach Autoritaeten, spaeter, kritisirte man sich gegenseitig die Wege und Mittel, mit denen die angebliche Wahrheit gefunden worden war; dazwischen gab es eine Periode, wo man die Consequenzen des gegnerischen Satzes zog und vielleicht sie als schaedlich und ungluecklich machend erfand: woraus dann sich fuer Jedermanns Urtheil ergeben sollte, dass die Ueberzeugung des Gegners einen Irrthum enthalte. Der persoenliche Kampf der Denker hat schliesslich die Methoden so verschaerft, dass wirklich Wahrheiten entdeckt werden konnten und dass die Irrgaenge frueherer Methoden vor Jedermanns Blicken blosgelegt sind. 635. Im Ganzen sind die wissenschaftlichen Methoden mindestens ein ebenso wichtiges Ergebniss der Forschung als irgend ein sonstiges Resultat: denn auf der Einsicht in die Methode beruht der wissenschaftliche Geist, und alle Resultate der Wissenschaft koennten, wenn jene Methoden verloren giengen, ein erneutes Ueberhandnehmen des Aberglaubens und des Unsinns nicht verhindern. Es moegen geistreiche Leute von den Ergebnissen der Wissenschaft lernen so viel sie wollen: man merkt es immer noch ihrem Gespraeche und namentlich den Hypothesen in demselben an, dass ihnen der wissenschaftliche Geist fehlt: sie haben nicht jenes instinctive Misstrauen gegen die Abwege des Denkens, welches in der Seele jedes wissenschaftlichen Menschen in Folge langer Uebung seine Wurzeln eingeschlagen hat. Ihnen genuegt es, ueber eine Sache ueberhaupt irgendeine Hypothese zu finden, dann sind sie Feuer und Flamme fuer dieselbe und meinen, damit sei es gethan. Eine Meinung haben heisst bei ihnen schon: dafuer sich fanatisiren und sie als Ueberzeugung fuerderhin sich an's Herz legen. Sie erhitzen sich bei einer unerklaerten Sache fuer den ersten Einfall ihres Kopfes, der einer Erklaerung derselben aehnlich sieht: woraus sich, namentlich auf dem Gebiete der Politik, fortwaehrend die schlimmsten Folgen ergeben. - Desshalb sollte jetzt Jedermann mindestens eine Wissenschaft von Grund aus kennen gelernt haben: dann weiss er doch, was Methode heisst und wie noethig die aeusserste Besonnenheit ist. Namentlich ist den Frauen dieser Rath zu geben; als welche jetzt rettungslos die Opfer aller Hypothesen sind, zumal wenn diese den Eindruck des Geistreichen, Hinreissenden, Belebenden, Kraeftigenden machen. Ja bei genauerem Zusehen bemerkt man, dass der allergroesste Theil aller Gebildeten noch jetzt von einem Denker Ueberzeugungen und Nichts als Ueberzeugungen begehrt, und dass allein eine geringe Minderheit Gewissheit will. Jene wollen stark fortgerissen werden, um dadurch selber einen Kraftzuwachs zu erlangen; diese Wenigen haben jenes sachliche Interesse, welches von persoenlichen Vortheilen, auch von dem des erwaehnten Kraftzuwachses absieht. Auf jene bei Weitem ueberwiegende Classe wird ueberall dort gerechnet, wo der Denker sich als Genie benimmt und bezeichnet, also wie ein hoeheres Wesen drein schaut, welchem Autoritaet zukommt. Insofern das Genie jener Art die Glut der Ueberzeugungen unterhaelt und Misstrauen gegen den vorsichtigen und bescheidenen Sinn der Wissenschaft weckt, ist es ein Feind der Wahrheit und wenn es sich auch noch so sehr als deren Freier glauben sollte. 636. Es giebt freilich auch eine ganz andere Gattung der Genialitaet, die der Gerechtigkeit; und ich kann mich durchaus nicht entschliessen, dieselbe niedriger zu schaetzen, als irgend eine philosophische, politische oder kuenstlerische Genialitaet. Ihre Art ist es, mit herzlichem Unwillen Allem aus dem Wege zu gehen, was das Urtheil ueber die Dinge blendet und verwirrt; sie ist folglich eine Gegnerin der Ueberzeugungen, denn sie will Jedem, sei es ein Belebtes oder Todtes, Wirkliches oder Gedachtes, das Seine geben - und dazu muss sie es rein erkennen; sie stellt daher jedes Ding in das beste Licht und geht um dasselbe mit sorgsamem Auge herum. Zuletzt wird sie selbst ihrer Gegnerin, der blinden oder kurzsichtigen "Ueberzeugung" (wie Maenner sie nennen: - bei Weibern heisst sie "Glaube") geben was der Ueberzeugung ist - um der Wahrheit willen. 637. Aus den Leidenschaften wachsen die Meinungen; die Traegheit des Geistes laesst diese zu Ueberzeugungen erstarren. - Wer sich aber freien, rastlos lebendigen Geistes fuehlt, kann durch bestaendigen Wechsel diese Erstarrung verhindern; und ist er gar insgesammt ein denkender Schneeballen, so wird er ueberhaupt nicht Meinungen, sondern nur Gewissheiten und genau bemessene Wahrscheinlichkeiten in seinem Kopfe haben. - Aber wir, die wir gemischten Wesens sind und bald vom Feuer durchglueht, bald vom Geiste durchkaeltet sind, wollen vor der Gerechtigkeit knieen, als der einzigen Goettin, welche wir ueber uns anerkennen. Das Feuer in uns macht uns fuer gewoehnlich ungerecht und, im Sinne jener Goettin, unrein; nie duerfen wir in diesem Zustande ihre Hand fassen, nie liegt dann das ernste Laecheln ihres Wohlgefallens auf uns. Wir verehren sie als die verhuellte Isis unsers Lebens; beschaemt bringen wir ihr unsern Schmerz als Busse und Opfer dar, wenn das Feuer uns brennt und verzehren will. Der Geist ist es, der uns rettet, dass wir nicht ganz vergluehen und verkohlen; er reisst uns hier und da fort von dem Opferaltare der Gerechtigkeit oder huellt uns in ein Gespinnst aus Asbest. Vom Feuer erloest, schreiten wir dann, durch den Geist getrieben von Meinung zu Meinung, durch den Wechsel der Parteien, als edle Verraether aller Dinge, die ueberhaupt verrathen werden koennen - und dennoch ohne ein Gefuehl von Schuld. 638. Der Wanderer. - Wer nur einigermaassen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fuehlen, denn als Wanderer, - wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses giebt es nicht. Wohl aber will er zusehen und die Augen dafuer offen haben, was Alles in der Welt eigentlich vorgeht; desshalb darf er sein Herz nicht allzufest an alles Einzelne anhaengen; es muss in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergaenglichkeit habe. Freilich werden einem solchen Menschen boese Naechte kommen, wo er muede ist und das Thor der Stadt, welche ihm Rast bieten sollte, verschlossen findet; vielleicht, dass noch dazu, wie im Orient, die Wueste bis an das Thor reicht, dass die Raubthiere bald ferner bald naeher her heulen, dass ein starker Wind sich erhebt, dass Raeuber ihm seine Zugthiere wegfuehren. Dann sinkt fuer ihn wohl die schreckliche Nacht wie eine zweite Wueste auf die Wueste, und sein Herz wird des Wanderns muede. Geht ihm dann die Morgensonne auf, gluehend wie eine Gottheit des Zornes, oeffnet sich die Stadt, so sieht er in den Gesichtern der hier Hausenden vielleicht noch mehr Wueste, Schmutz, Trug, Unsicherheit, als vor den Thoren - und der Tag ist fast schlimmer, als die Nacht. So mag es wohl einmal dem Wanderer ergehen; aber dann kommen, als Entgelt, die wonnevollen Morgen anderer Gegenden und Tage, wo er schon im Grauen des Lichtes die Musenschwaerme im Nebel des Gebirges nahe an sich voruebertanzen sieht, wo ihm nachher, wenn er still, in dem Gleichmaass der Vormittagsseele, unter Baeumen sich ergeht, aus deren Wipfeln und Laubverstecken heraus lauter gute und helle Dinge zugeworfen werden, die Geschenke aller jener freien Geister, die in Berg, Wald und Einsamkeit zu Hause sind und welche, gleich ihm, in ihrer bald froehlichen bald nachdenklichen Weise, Wanderer und Philosophen sind. Geboren aus den Geheimnissen der Fruehe, sinnen sie darueber nach, wie der Tag zwischen dem zehnten und zwoelften Glockenschlage ein so reines, durchleuchtetes, verklaert-heiteres Gesicht haben koenne: - sie suchen die Philosophie des Vormittages. Unter Freunden. Ein Nachspiel. 1. Schoen ist's, mit einander schweigen, Schoener, mit einander lachen, - Unter seidenem Himmels-Tuche Hingelehnt zu Moos und Buche Lieblich laut mit Freunden lachen Und sich weisse Zaehne zeigen. Macht' ich's gut, so woll'n wir schweigen; Macht' ich's schlimm -, so woll'n wir lachen Und es immer schlimmer machen, Schlimmer machen, schlimmer lachen, Bis wir in die Grube steigen. Freunde! ja! So soll's geschehn? - Amen! Und auf Wiedersehn! 2. Kein Entschuld'gen! Kein Verzeihen! Goennt ihr Frohen, Herzens-Freien Diesem unvernuenft'gen Buche Ohr und Herz und Unterkunft! Glaubt mir, Freunde, nicht zum Fluche Ward mir meine Unvernunft! Was ich finde, was ich suche - Stand das je in einem Buche? Ehrt in mir die Narren-Zunft! Lernt aus diesem Narrenbuche, Wie Vernunft kommt - "zur Vernunft"! Also, Freunde, soll's geschehn? - Amen! Und auf Wiedersehn! *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, MENSCHLICHES, ALLZUMENSCHLICHES *** This file should be named 7msch10.txt or 7msch10.zip Corrected EDITIONS of our eBooks get a new NUMBER, 7msch11.txt VERSIONS based on separate sources get new LETTER, 7msch10a.txt Project Gutenberg eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not keep eBooks in compliance with any particular paper edition. We are now trying to release all our eBooks one year in advance of the official release dates, leaving time for better editing. Please be encouraged to tell us about any error or corrections, even years after the official publication date. Please note neither this listing nor its contents are final til midnight of the last day of the month of any such announcement. 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