Project Gutenberg's Heidi kann brauchen, was es gelernt hat, by Johanna Spyri #5 in our series by Johanna Spyri Copyright laws are changing all over the world. Be sure to check the copyright laws for your country before downloading or redistributing this or any other Project Gutenberg eBook. This header should be the first thing seen when viewing this Project Gutenberg file. Please do not remove it. Do not change or edit the header without written permission. Please read the "legal small print," and other information about the eBook and Project Gutenberg at the bottom of this file. Included is important information about your specific rights and restrictions in how the file may be used. 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Johanna Spyri Heidi kann brauchen, was es gelernt hat Inhalt Reisezuruestungen Ein Gast auf der Alm Eine Vergeltung Der Winter im Doerfli Der Winter dauert fort Die fernen Freunde regen sich Wie es auf der Alp weitergeht Es geschieht, was keiner erwartet hat Es wird Abschied genommen, aber auf Wiedersehen Reisezuruestungen Der freundliche Herr Doktor, der den Entscheid gegeben hatte, dass das Kind Heidi wieder in seine Heimat zurueckgebracht werden sollte, ging eben durch die breite Strasse dem Hause Sesemann zu. Es war ein sonniger Septembermorgen, so licht und lieblich, dass man haette denken koennen, alle Menschen muessten sich darueber freuen. Aber der Herr Doktor schaute auf die weissen Steine zu seinen Fuessen, so dass er den blauen Himmel ueber sich nicht einmal bemerken konnte. Es lag eine Traurigkeit auf seinem Gesichte, die man vorher nie da gesehen hatte, und seine Haare waren viel grauer geworden seit dem Fruehjahr. Der Doktor hatte eine einzige Tochter gehabt, mit der er seit dem Tode seiner Frau sehr nahe zusammen gelebt hatte und die seine ganze Freude gewesen war. Vor einigen Monaten war ihm das bluehende Maedchen durch den Tod entrissen worden. Seither sah man den Herrn Doktor nie mehr so recht froehlich, wie er vorher fast immer gewesen war. Auf den Zug an der Hausglocke oeffnete Sebastian mit grosser Zuvorkommenheit die Eingangstuer und machte gleich alle Bewegungen eines ergebenen Dieners; denn der Herr Doktor war nicht nur der erste Freund des Hausherrn und dessen Toechterchen, durch seine Freundlichkeit hatte er sich, wie ueberall, die saemtlichen Hausbewohner zu guten Freunden gemacht. "Alles beim alten, Sebastian?" fragte der Herr Doktor wie gewohnt mit freundlicher Stimme und ging die Treppe hinauf, gefolgt von Sebastian, der nicht aufhoerte, allerlei Zeichen der Ergebenheit zu machen, obschon der Herr Doktor sie eigentlich nicht sehen konnte, denn er kehrte dem Nachfolgenden den Ruecken. "Gut, dass du kommst, Doktor", rief Herr Sesemann dem Eintretenden entgegen. "Wir muessen durchaus noch einmal die Schweizerreise besprechen, ich muss von dir hoeren, ob du unter allen Umstaenden bei deinem Ausspruche bleibst, auch nachdem nun bei Klaerchen entschieden ein besserer Zustand eingetreten ist." "Mein lieber Sesemann, wie kommst du mir denn vor?" entgegnete der Angekommene, indem er sich zu seinem Freunde hinsetzte. "Ich moechte wirklich wuenschen, dass deine Mutter hier waere; mit der wird alles gleich klar und einfach und kommt ins rechte Geleise. Mit dir aber ist ja kein Fertigwerden. Du laessest mich heute zum dritten Male zu dir kommen, damit ich dir immer noch einmal dasselbe sage. - "Ja, du hast recht, die Sache muss dich ungeduldig machen, aber du musst doch begreifen, lieber Freund" - und Herr Sesemann legte seine Hand wie bittend auf die Schulter seines Freundes -, "es wird mir gar zu schwer, dem Kinde zu versagen, was ich ihm so bestimmt versprochen hatte und worauf es sich nun monatelang Tag und Nacht gefreut hat. Auch diese letzte schlimme Zeit hat das Kind so geduldig ertragen, immer in der Hoffnung, dass die Schweizerreise nahe sei und dass es seine Freundin Heidi auf der Alp besuchen koenne; und nun soll ich dem guten Kinde, das ja sonst schon so vieles entbehren muss, die langgenaehrte Hoffnung mit einemmal wieder durchstreichen - das ist mir fast nicht moeglich." "Sesemann, das muss sein", sagte sehr bestimmt der Herr Doktor, und als sein Freund stillschweigend und niedergeschlagen dasass, fuhr er nach einer Weile fort: "Bedenke doch, wie die Sache steht. Klara hat seit Jahren keinen so schlimmen Sommer gehabt, wie dieser letzte war. Von einer so grossen Reise kann keine Rede sein, ohne dass wir die schlimmsten Folgen zu befuerchten haetten. Dazu sind wir nun in den September eingetreten, da kann es ja noch schoen sein oben auf der Alp, es kann aber auch schon sehr kuehl werden. Die Tage sind nicht mehr lang, und oben bleiben und da die Naechte zubringen kann Klara doch nun gar nicht. So haette sie kaum ein paar Stunden oben zu verweilen. Der Weg von Bad Ragaz dort hinauf muss ja schon mehrere Stunden dauern, denn zur Alp hinauf muss sie entschieden im Sessel getragen werden. Kurz, Sesemann, es kann nicht sein! Aber ich will mit dir hineingehen und mit Klara reden, sie ist ja ein vernuenftiges Maedchen, ich will ihr meinen Plan mitteilen. Im kommenden Mai soll sie erst nach Ragaz hinkommen; dort soll eine laengere Badekur unternommen werden, so lange, bis es huebsch warm wird oben auf der Alp. Dann kann sie dort von Zeit zu Zeit hinaufgetragen werden, da wird sie diese Bergpartien erfrischt und gestaerkt, wie sie dann sein wird, ganz anders geniessen, als es jetzt geschaehe. Du begreifst auch, Sesemann, wenn wir noch eine leise Hoffnung fuer den Zustand deines Kindes aufrechterhalten wollen, so haben wir die aeusserste Schonung und die sorgfaeltigste Behandlung zu beobachten." Herr Sesemann, der bis dahin schweigend und mit dem Ausdrucke trauriger Ergebung zugehoert hatte, fuhr jetzt auf einmal empor: "Doktor", rief er aus, "sag es mir ehrlich: Hast du wirklich noch Hoffnung auf eine Aenderung dieses Zustandes?" Der Herr Doktor zuckte die Achseln. "Wenig", sagte er halblaut. "Aber komm, denk einmal einen Augenblick an mich, lieber Freund! Hast du nicht ein liebes Kind, das nach dir verlangt und sich auf deine Heimkehr freut, wenn du weg bist? Nie musst du in ein veroedetes Haus zurueckkehren und dich allein an deinen Tisch hinsetzen. Und dein Kind hat's auch gut daheim. Muss es auch vieles entbehren, was andere geniessen koennen, so ist es in manch anderem auch vor vielen bevorzugt. Nein, Sesemann, ihr seid nicht so sehr zu beklagen, ihr habt es doch recht gut, so zusammenzusein; denk an mein einsames Haus!" Herr Sesemann war aufgestanden und ging nun mit grossen Schritten im Zimmer auf und ab, wie er immer zu tun pflegte, wenn ihn irgendeine Sache stark beschaeftigte. Auf einmal stand er vor seinem Freunde still und klopfte ihm auf die Schulter. "Doktor, ich habe einen Gedanken: Ich kann dich nicht so sehen, du bist ja gar nicht mehr der alte. Du musst ein wenig aus dir heraus, und weisst du, wie? Du sollst die Reise unternehmen und das Kind Heidi auf seiner Alp besuchen in unser aller Namen." Der Herr Doktor war sehr ueberrascht von dem Vorschlage und wollte sich dagegen wehren, aber Herr Sesemann liess ihm keine Zeit. Er war so erfreut und erfuellt von seiner neuen Idee, dass er den Freund unter den Arm fasste und nach dem Zimmer seines Toechterchens hinueberzog. Der gute Herr Doktor war fuer die kranke Klara immer eine erfreuliche Erscheinung, denn er hatte sie von jeher mit einer grossen Freundlichkeit behandelt und ihr jedesmal, wenn er kam, etwas Lustiges und Erheiterndes zu erzaehlen gewusst. Warum er das jetzt nicht mehr konnte, wusste sie wohl und haette so gern ihn wieder froh gemacht. Sie streckte ihm gleich die Hand entgegen, und er setzte sich zu ihr hin. Herr Sesemann rueckte seinen Stuhl auch heran, und indem er Klara bei der Hand fasste, fing er an von der Schweizerreise zu reden und wie er sich selbst darauf gefreut hatte. Ueber den Hauptpunkt aber, dass sie nun unmoeglich mehr stattfinden koennte, glitt er eilig hinweg, denn er fuerchtete sich ein wenig vor den kommenden Traenen. Dann ging er schnell auf den neuen Gedanken ueber und machte Klara darauf aufmerksam, wie wohltaetig es fuer ihren guten Freund waere, wenn er diese Erholungsreise unternehmen wuerde. Die Traenen waren wirklich aufgestiegen und schwammen in den blauen Augen, wie sehr sich auch Klara Muehe gab, sie niederzudruecken, denn sie wusste, wie ungern der Papa sie weinen sah. Aber es war auch hart, dass nun alles aus sein sollte, und den ganzen Sommer hindurch war die Aussicht auf die Reise zum Heidi ihre einzige Freude und ihr Trost gewesen in all den langen, einsamen Stunden, die sie durchlebt hatte. Aber Klara war nicht gewohnt zu markten, sie wusste recht gut, dass der Papa ihr nur versagte, was zum Boesen fuehren wuerde und darum nicht sein durfte. Sie schluckte ihre Traenen hinunter und wandte sich nun der einzigen Hoffnung zu, die ihr blieb. Sie nahm die Hand ihres guten Freundes und streichelte sie und bat flehentlich: "O bitte, Herr Doktor, nicht wahr, Sie gehen zum Heidi, und dann kommen Sie, um mir alles zu erzaehlen, wie es ist dort oben und was das Heidi macht und der Grossvater und der Peter und die Geissen, ich kenne sie alle so gut! Und dann nehmen Sie mit, was ich dem Heidi schicken will, ich habe schon alles ausgedacht und auch etwas fuer die Grossmutter. Bitte, Herr Doktor, tun Sie's doch; ich will auch gewiss unterdessen Fischtran nehmen, soviel Sie nur wollen." Ob dieses Versprechen der Sache den Ausschlag gab, kann man nicht wissen, aber es ist anzunehmen, denn der Herr Doktor laechelte und sagte: "Dann muss ich ja wohl gehen, Klaerchen, so wirst du uns einmal rund und fest, wie wir dich haben wollen, Papa und ich. Und wann muss ich denn reisen, hast du das schon bestimmt?" "Am liebsten gleich morgen frueh, Herr Doktor", entgegnete Klara. "Ja, sie hat recht", fiel hier der Vater ein; "die Sonne scheint, der Himmel ist blau, es ist keine Zeit zu verlieren, fuer jeden solchen Tag ist es schade, den du noch nicht auf der Alp geniessen kannst." Der Herr Doktor musste ein wenig lachen: "Naechstens wirst du mir vorwerfen, dass ich noch da bin, Sesemann; so muss ich wohl machen, dass ich fortkomme." Aber Klara hielt den Aufstehenden fest; erst musste sie ihm ja noch alle Auftraege an das Heidi uebergeben und ihm noch so vieles anempfehlen, das er recht betrachten und ihr dann davon erzaehlen sollte. Die Sendung an das Heidi konnte ihm erst spaeter zugeschickt werden, denn Fraeulein Rottenmeier musste erst alles verpacken helfen; sie war aber eben auf einer ihrer Wanderungen durch die Stadt begriffen, von denen sie nicht so schnell zurueckkehrte. Der Herr Doktor versprach, alles genau auszurichten, die Reise, wenn nicht am Morgen frueh, so doch womoeglich noch im Laufe des folgenden Tages anzutreten und dann bei seiner Heimkehr getreulich Bericht zu erstatten ueber alles, was er gesehen und erlebt haben wuerde. Die Diener eines Hauses haben oft eine merkwuerdige Gabe, die Dinge zu erfassen, die im Hause ihrer Herren vor sich gehen, lange bevor diese dazu kommen, ihnen Mitteilung davon zu machen. Sebastian und Tinette mussten diese Gabe in hohem Grade besitzen, denn eben, als der Herr Doktor, von Sebastian begleitet, die Treppe hinunterging, trat Tinette ins Zimmer der Klara ein, die nach dem Maedchen geschellt hatte. "Holen Sie diese Schachtel voll ganz frischer, weicher Kuchen, wie wir sie zum Kaffee haben, Tinette", sagte Klara und deutete auf die Schachtel hin, die schon lange bereitgestanden hatte. Tinette erfasste das bezeichnete Ding an einer Ecke und liess es veraechtlich an ihrer Hand baumeln. Unter der Tuere sagte sie schnippisch: "Es ist wohl der Muehe wert." Als der Sebastian unten mit gewohnter Hoeflichkeit die Tuere aufgemacht hatte, sagte er mit einem Bueckling: "Wenn der Herr Doktor wollten so freundlich sein und dem Mamsellchen auch einen Gruss vom Sebastian bestellen." "Ah, sieh da, Sebastian", sagte der Herr Doktor freundlich; "so wissen Sie denn auch schon, dass ich reise?" Sebastian musste ein wenig husten. "Ich bin... ich habe... ich weiss selbst nicht mehr recht... ach ja, jetzt erinnere ich mich: Ich bin eben zufaellig durch das Esszimmer gegangen, da habe ich den Namen des Mamsellchens aussprechen gehoert, und wie es so geht, man haengt dann so einen Gedanken an den anderen an und so... und in der Weise..." "Jawohl, jawohl", laechelte der Herr Doktor, "und je mehr Gedanken einer hat, je mehr wird er inne. Auf Wiedersehen, Sebastian, der Gruss wird bestellt." Jetzt wollte der Herr Doktor gerade durch die offene Haustuer enteilen, aber er traf auf ein Hindernis: Der starke Wind hatte Fraeulein Rottenmeier verhindert, ihre Wanderung weiter fortzusetzen; eben war sie zurueckgekehrt und wollte ihrerseits durch die offene Tuer eintreten. Der Wind hatte ihr weites Tuch, in das sie sich gehuellt hatte, aber dergestalt aufgeblaeht, dass es gerade so anzusehen war, als habe sie die Segel aufgespannt. Der Herr Doktor wich augenblicklich zurueck. Aber gegen diesen Mann hatte Fraeulein Rottenmeier von jeher eine besondere Anerkennung und Zuvorkommenheit an den Tag gelegt. Auch sie wich mit ausgesuchter Hoeflichkeit zurueck, und eine Weile standen die beiden mit ruecksichtsvoller Gebaerde da und machten einander gegenseitig Platz. Jetzt aber kam ein so starker Windstoss, dass Fraeulein Rottenmeier auf einmal mit vollen Segeln gegen den Doktor heranflog. Er konnte eben noch ausweichen; die Dame aber wurde noch ein gutes Stueck ueber ihn hinausgetrieben, so dass sie wieder zurueckkehren musste, um nun den Freund des Hauses mit Anstand zu begruessen. Der gewalttaetige Vorgang hatte sie ein wenig verstimmt, aber der Herr Doktor hatte eine Art und Weise, die ihr gekraeuseltes Gemuet bald glaettete und eine sanfte Stimmung darueber verbreitete. Er teilte ihr seinen Reiseplan mit und bat sie in der einnehmendsten Weise, ihm die Sendung an das Heidi so zu verpacken, wie nur sie zu packen verstehe. Dann empfahl sich der Herr Doktor. Klara erwartete, dass sie erst einige Kaempfe mit Fraeulein Rottenmeier zu bestehen haben wuerde, bevor diese ihre Zustimmung zum Absenden all der Gegenstaende geben werde, die Klara fuer das Heidi bestimmt hatte. Aber diesmal hatte sie sich getaeuscht: Fraeulein Rottenmeier war ausnehmend gut gelaunt. Sogleich raeumte sie alles weg, was auf dem grossen Tische lag, um die Dinge alle, die Klara zusammengebracht hatte, darauf auszubreiten und dann vor ihren Augen die Sendung zu verpacken. Es war keine leichte Arbeit, denn die Gegenstaende, die da zusammengerollt werden sollten, waren vielgestaltig. Erst kam der kleine dicke Mantel mit der Kapuze, den Klara fuer das Heidi ausgesonnen hatte, damit es im kommenden Winter die Grossmutter besuchen koennte, wann es wollte, und nicht warten muesste, bis der Grossvater kommen konnte und es dann in den Sack eingewickelt werden musste, damit es nicht erfriere. Dann kam ein dickes, warmes Tuch fuer die alte Grossmutter, damit sie sich darin einhuelle und nicht frieren muesse, wenn der Wind wieder so schaurig um die Huette klappern wuerde. Dann kam die grosse Schachtel mit den Kuchen; die war auch fuer die Grossmutter bestimmt, dass sie zu ihrem Kaffee auch einmal etwas anderes als ein Broetchen zu essen habe. Jetzt folgte eine ungeheure Wurst; die hatte Klara urspruenglich fuer den Peter bestimmt, weil er doch nie etwas anderes als Kaese und Brot bekam. Aber sie hatte sich jetzt anders besonnen, denn sie fuerchtete, der Peter koennte vor Freuden die ganze Wurst auf einmal aufessen. Darum sollte die Mutter Brigitte diese bekommen und erst fuer sich und die Grossmutter einen guten Teil davon nehmen und dem Peter den seinigen in verschiedenen Lieferungen abgeben. Jetzt kam noch ein Saeckchen Tabak; der war fuer den Grossvater, der ja so gern ein Pfeifchen rauchte, wenn er am Abend vor der Huette sass. Zuletzt kam noch eine Anzahl geheimnisvoller Saeckchen, Paeckchen und Schaechtelchen, welche Klara mit besonderer Freude zusammengekramt hatte, denn da sollte das Heidi allerhand Ueberraschungen finden, die ihm grosse Freude machen wuerden. Endlich war das Werk beendet, und ein stattlicher Ballen lag reisefertig an der Erde. Fraeulein Rottenmeier schaute darauf nieder, in tiefsinnige Betrachtungen ueber die Kunst zu packen versunken. Klara ihrerseits warf Blicke froher Erwartung darauf hin, denn sie sah das Heidi vor sich, wie es vor Ueberraschung in die Hoehe springen und aufjauchzen wuerde, wenn das ungeheure Paket bei ihm anlangte. Jetzt trat Sebastian herein und hob mit einem starken Schwung den Ballen auf seine Schulter, um ihn unverzueglich nach dem Hause des Herrn Doktors zu spedieren. Ein Gast auf der Alm Das Fruehrot gluehte ueber den Bergen, und ein frischer Morgenwind rauschte durch die Tannen und wogte die alten Aeste maechtig hin und her. Das Heidi schlug seine Augen auf, der Ton hatte es erweckt. Dieses Rauschen packte das Heidi immer im Innersten seines Wesens und zog es mit Gewalt hinaus unter die Tannen. Es schoss von seinem Lager auf und hatte kaum Zeit, sich fertigzumachen; das musste aber doch sein, denn Heidi wusste nun recht gut, dass man immer sauber und ordentlich aussehen muss. Jetzt kam es von dem Leiterchen herunter; des Grossvaters Lager war schon leer; es sprang hinaus. Draussen vor der Tuer stand der Grossvater und schaute den Himmel nach allen Seiten hin an, wie er jeden Morgen tat, um zu sehen, wie der Tag werden wollte. Es zogen rosige Woelkchen oben hin, und mehr und mehr blaute der Himmel, und drueben floss es wie lauter Gold ueber die Hoehen und das Weideland, denn eben kam droben die Sonne ueber die hohen Felsen heraufgestiegen. "O wie schoen! O wie schoen! Guten Tag, Grossvater", rief das Heidi heranspringend. "So, sind deine Augen auch schon hell?" gab der Grossvater zurueck, dem Heidi die Hand zum Morgengruss hinhaltend. Jetzt lief das Heidi unter die Tannen und huepfte vor Freuden ueber das Tosen und Sausen da droben unter den wogenden Aesten herum, und bei jedem neuen Windstoss und lauten Wipfelbrausen jauchzte es auf vor Wonne und sprang noch ein wenig hoeher. Unterdessen war der Grossvater zum Stalle hingegangen und hatte dem Schwaenli und Baerli die Milch abgenommen; dann hatte er beide schoen geputzt und gewaschen zur Bergreise und brachte sie nun auf den Platz heraus. Als das Heidi seine Freunde erblickte, kam es herangesprungen und fasste sie beide um den Hals, begruesste sie zaertlich, und sie meckerten froehlich und zutraulich, und jede von den Geissen wollte dem Heidi mehr Zuneigung beweisen und drueckte ihren Kopf noch immer naeher an seine Schultern heran, so dass es zwischen den zweien fast zerdrueckt wurde. Aber das Heidi hatte keine Furcht, und wenn das lebhafte Baerli gar zu arg bohrte und draengte mit seinem Kopfe, dann sagte das Heidi: "Nein, Baerli, du stoesst ja wie der grosse Tuerk", und augenblicklich zog Baerli seinen Kopf zurueck und stellte sich ganz anstaendig hin, und das Schwaenli hatte auch schon seinen Kopf in die Hoehe gereckt und machte eine vornehme Gebaerde, so dass man deutlich sehen konnte, es dachte bei sich: Das soll mir denn keiner nachsagen, dass ich mich benehme wie der Tuerk. Denn das schneeweisse Schwaenli war noch ein wenig vornehmer als das braune Baerli. Jetzt hoerte man von unten herauf die Pfiffe des Peter ertoenen, und bald kamen sie heraufgesprungen, die lustigen Geissen alle, voran der flinke Distelfink in hohen Spruengen. Gleich war das Heidi wieder mitten in dem Rudel drin, und vor lauter stuermischen Begruessungen wurde es hin- und hergeschoben, und dann schob es wieder ein wenig, denn es wollte zu dem schuechternen Schneehoeppli vordringen, das ja von den groesseren immer wieder weggedraengt wurde, wenn es dem Heidi entgegenstrebte. Nun kam der Peter heran und tat einen letzten, fuerchterlichen Pfiff, der sollte die Geissen aufscheuchen und der Weide zujagen, denn er wollte Platz bekommen, um dem Heidi etwas zu sagen. Die Geissen sprangen ein wenig auseinander auf den Pfiff hin; so konnte der Peter vorruecken und sich nun vor das Heidi hinstellen. "Du kannst einmal wieder mitkommen heut", war seine etwas stoerrige Anrede. "Nein, das kann ich nicht, Peter", entgegnete das Heidi. "Jeden Augenblick koennen sie jetzt von Frankfurt kommen, und dann muss ich daheim sein." "Das hast du schon manchmal gesagt", brummte der Peter. "Es gilt aber immer noch, und es gilt, bis sie kommen", gab das Heidi zurueck. "Oder meinst du etwa, ich muesse nicht daheim sein, wenn sie von Frankfurt zu mir kommen? Meinst du etwa so etwas, Peter?" "Sie koennen zum Oehi kommen", versetzte der Peter knurrend. Jetzt ertoente von der Huette her die kraeftige Stimme des Grossvaters: "Warum geht's nicht vorwaerts mit der Armee? Fehlt's am Feldmarschall oder an den Truppen?" Augenblicklich machte der Peter kehrum, schwang seine Rute in der Luft, dass sie sauste und alle Geissen, die den Ton wohl kannten, auf und davon rannten, der Peter hinter ihnen drein, alle miteinander in vollem Trabe den Berg hinan. Seit das Heidi wieder daheim beim Grossvater war, kam ihm hier und da etwas in den Sinn, woran es vorher nicht gedacht hatte. So machte es jetzt alle Morgen mit grosser Anstrengung sein Bett zurecht und strich so lange daran herum, bis es ganz glatt aussah. Dann lief es in der Huette hin und her, stellte jeden Stuhl an seinen Ort, und was etwa da und dort herumlag oder -hing, das kramte es alles in den Schrank hinein. Dann holte es einen Lappen herbei, kletterte auf einen Stuhl hinauf und rieb so lange mit seinem Lappen auf dem Tische herum, bis dieser ganz blank war. Wenn dann der Grossvater wieder hereinkam, schaute er wohlgefaellig um sich und sagte etwa: "Bei uns ist's jetzt immer wie Sonntag, das Heidi ist nicht vergebens in der Fremde gewesen." Auch heute hatte Heidi, nachdem der Peter fortgetrabt war und es mit dem Grossvater gefruehstueckt hatte, sich gleich an seine Geschaefte gemacht, aber es wurde fast nicht fertig damit. Draussen war es heut morgen gar so schoen, und alle Augenblicke geschah wieder etwas, was das Kind in seiner Taetigkeit unterbrach. Jetzt kam durch das offene Fenster ein Sonnenstrahl so lustig hereingeschossen, und es war geradezu, als riefe er: "Komm heraus, Heidi, komm heraus!" Da konnte es nicht mehr drinnen bleiben, es rannte hinaus. Da lag der funkelnde Sonnenschein um die ganze Huette herum, und auf allen Bergen glaenzte er und weit, weit das Tal hinunter, und der Boden dort am Abhang sah so goldig und trocken aus, es musste ein wenig darauf niedersetzen und umherschauen. Dann kam ihm auf einmal in den Sinn, dass das Dreibeinstuehlchen noch mitten in der Huette stand und der Tisch noch nicht geputzt war vom Morgenessen. Nun sprang es schnell auf und lief in die Huette zurueck. Aber es waehrte gar nicht lange, so sauste es draussen so maechtig durch die Tannen, dass es dem Heidi in alle Glieder fuhr, es musste schon wieder hinaus und ein wenig mithuepfen, wenn alle Zweige da droben hin und her wogten und rollten. Der Grossvater hatte einstweilen hinten im Schopf allerlei Arbeit zu verrichten; er trat von Zeit zu Zeit unter die Tuer hinaus und schaute laechelnd Heidis Spruengen zu. Eben war er wieder zurueckgetreten, als mit einemmal das Heidi laut aufschrie: "Grossvater, Grossvater! Komm, komm!" Er trat rasch wieder heraus, fast erschrocken, was mit dem Kinde sei. Da sah er, wie dieses dem Abhange zulief, laut schreiend: "Sie kommen, sie kommen! Und voran der Herr Doktor!" Das Heidi stuerzte seinem alten Freunde entgegen. Dieser streckte gruessend die Hand aus. Wie das Kind ihn erreicht hatte, umfasste es zaertlich den ausgestreckten Arm und rief in voller Herzensfreude: "Guten Tag, Herr Doktor! Und ich danke auch noch vieltausendmal!" "Gruess Gott, Heidi! Und wofuer dankst du denn schon?" fragte freundlich laechelnd der Herr Doktor. "Dass ich wieder heim konnte zum Grossvater", erklaerte ihm das Kind. Dem Herrn Doktor ging's wie ein Sonnenschein ueber das Gesicht. Diesen Empfang auf der Alp hatte er nicht erwartet. Im Gefuehl seiner Einsamkeit war er unter tiefsinnigen Gedanken den Berg hinaufgestiegen und hatte noch nicht einmal gesehen, wie schoen es um ihn her war und dass es immer schoener wurde. Er hatte angenommen, das Kind Heidi werde ihn kaum mehr kennen; es hatte ihn so wenig gesehen, und er kam sich vor wie einer, der kommt, den Leuten eine Enttaeuschung zu bereiten, und den sie darum nicht ansehen moegen, weil er ja die erwarteten Freunde nicht mitbrachte. Statt dessen leuchtete dem Heidi die helle Freude aus den Augen, und voller Dank und Liebe hielt es immer noch den Arm seines guten Freundes fest. Mit vaeterlicher Zaertlichkeit nahm der Herr Doktor das Kind bei der Hand. "Komm, Heidi", sagte er in freundlichster Weise, "fuehre mich nun zu deinem Grossvater und zeige mir, wo du daheim bist." Aber das Heidi blieb noch stehen und schaute verwundert den Berg hinunter. "Wo sind denn Klara und die Grossmama?" fragte es jetzt. "Ja, nun muss ich dir's sagen, was dir leid tun wird wie mir auch", erwiderte der Herr Doktor. "Sieh, Heidi, ich komme allein. Klara war recht krank und konnte nicht mehr reisen, und so kam auch die Grossmama nicht mit. Aber dann im Fruehjahr, wenn die Tage wieder warm und schoen lang werden, dann kommen sie ganz sicher." Das Heidi stand sehr betroffen da; es konnte gar nicht fassen, dass es nun alles, was es so sicher vor sich gesehen hatte, auf einmal gar nicht mehr sehen sollte. Regungslos stand es eine Weile wie verwirrt von dem Unerwarteten. Schweigend stand der Herr Doktor vor ihm, und ringsum war alles still, nur hoch oben hoerte man den Wind durch die Tannen sausen. Da fiel es dem Heidi auf einmal wieder ein, warum es heruntergelaufen sei und dass der Herr Doktor ja gekommen sei. Es schaute zu ihm auf. Da lag etwas so Trauriges in den Augen, die zu ihm niederschauten, wie es noch gar nicht gesehen hatte. So war es nie gewesen, wenn der Herr Doktor in Frankfurt es angeblickt hatte. Das ging dem Heidi zu Herzen; es konnte nicht sehen, dass jemand traurig war, und nun gar der gute Herr Doktor. Gewiss war er so, weil Klara und die Grossmama nicht hatten mitkommen koennen. Es suchte schnell nach einem Trost und fand ihn. "Oh, es waehrt gewiss nicht lange, bis es wieder Fruehling wird, und dann kommen sie ja bestimmt", troestete das Heidi. "Bei uns waehrt es gar nie lange, und dann koennen sie ja viel laenger dableiben, das will die Klara gewiss noch lieber. Und jetzt wollen wir zum Grossvater hinauf." Hand in Hand mit dem guten Freunde stieg es nun zu der Huette hinan. Es war dem Heidi so sehr daran gelegen, den Herrn Doktor wieder froh zu machen, dass es ihn noch einmal zu ueberzeugen anfing, es waehre so wenig lange auf der Alm, bis die langen, warmen Sommertage wiederkommen, dass man es kaum merke, und dabei wurde das Heidi selbst so ueberzeugt von seinem Trost, dass es oben dem Grossvater ganz froehlich entgegenrief: "Sie sind noch nicht da, aber es waehrt gar nicht lange, so kommen sie auch." Fuer den Grossvater war der Herr Doktor kein Fremder, das Kind hatte ja so viel von ihm gesprochen. Der Alte streckte seinem Gaste die Hand entgegen und bewillkommte ihn mit Herzlichkeit. Dann setzten sich die Maenner auf die Bank an der Huette. Auch fuer das Heidi wurde da noch ein Plaetzchen gemacht, und der Herr Doktor winkte ihm freundlich, dass es neben ihm sitzen solle. Nun fing er an zu erzaehlen, wie Herr Sesemann ihn ermuntert habe, die Reise zu machen, und wie er auch selbst gefunden, es moechte gut fuer ihn sein, da er sich seit langem nicht mehr recht frisch und ruestig fuehle. Dem Heidi sagte er dann ins Ohr, es werde bald noch etwas den Berg heraufkommen, das aus Frankfurt mit hergereist sei und ihm eine viel groessere Freude machen werde als der alte Doktor. Das Heidi war sehr gespannt darauf zu erfahren, was das sein koenne. Der Grossvater ermunterte den Herrn Doktor sehr, die schoenen Herbsttage noch auf der Alm zuzubringen oder wenigstens an jedem schoenen Tage heraufzukommen, denn hier oben zu bleiben, dazu konnte ihn der Almoehi nicht einladen, da war ja keine Gelegenheit, den Herrn zu logieren. Er riet aber seinem Gaste, nicht bis nach Ragaz zurueckzukehren, sondern unten im Doerfli ein Zimmer zu beziehen, das er im dortigen Wirthause in einer einfachen, aber ganz ordentlichen Art finden werde. So koennte der Herr Doktor jeden Morgen nach der Alm heraufkommen, was ihm wohltun muesste, meinte der Oehi, auch wuerde er dann gern den Herrn noch auf allerlei Punkte fuehren, weiter hinauf in die Berge, wo es ihm gefallen sollte. Diesem gefiel der ganze Vorschlag sehr wohl, und es wurde festgesetzt, dass er ausgefuehrt werden sollte. Unterdessen war die Sonne in den Mittag gekommen; der Wind hatte sich schon lange gelegt, und die Tannen waren ganz still geworden. Die Luft war fuer die Hoehe noch mild und lieblich und saeuselte erfrischende Kuehle um die sonnenbeschienene Bank. Jetzt stand der Almoehi auf und ging in die Huette hinein, kam aber gleich wieder und brachte einen Tisch heraus, den er vor die Bank hinstellte. "So, Heidi, nun hol herbei, was wir zum Essen brauchen", sagte er. "Der Herr muss nun vorlieb nehmen; ist unsere Kueche auch einfach, so ist das Esszimmer doch anstaendig." "Das meine ich auch", erwiderte der Herr Doktor, indem er auf das sonnenbeleuchtete Tal hinunterschaute, "und die Einladung nehme ich an, hier oben muss es schmecken." Das Heidi lief nun hin und her wie ein Wiesel und brachte herbei, was es nur drinnen im Schranke finden konnte, denn dass es den Herrn Doktor bewirten durfte, war ihm eine ungeheure Freude. Der Grossvater bereitete unterdessen das Mahl und trat nun heraus mit dem dampfenden Milchkruge und dem goldig glaenzenden Kaesebraten. Dann schnitt er schoene, durchsichtige Schnitten von dem rosigen Fleisch herunter, das er hier oben an der reinen Luft getrocknet hatte. Dem Herrn Doktor schmeckte sein Mittagsmahl so gut wie das ganze Jahr durch noch kein einziges Mal. "Ja, ja, hierhin muss unsere Klara kommen", sagte er jetzt. "Da wird sie zu ganz neuen Kraeften gelangen, und wenn sie eine Zeitlang isst wie ich heute, so wird sie rund und fest werden, wie sie in ihrem Leben noch nie war." Jetzt kam von unten herauf einer angestiegen, der hatte einen grossen Ballen auf dem Ruecken. Wie er oben bei der Huette ankam, warf er seine Last auf den Boden hin und zog ein paar gute Zuege von der frischen Almluft ein. "Ah, da kommt, was mit mir von Frankfurt hergereist ist", sagte der Herr Doktor aufstehend, und das Heidi mit sich ziehend, trat er an den Ballen hin und fing an, ihn aufzuloesen. Als die erste schwere Huelle weg war, sagte er: "So, Kind, nun fahr weiter fort und hol dir deine Schaetze selbst heraus." Das Heidi tat so, und wie nun alles auseinanderrollte, schaute es mit grossen, verwunderten Augen auf die Dinge hin. Erst als der Herr Doktor wieder herzutrat und von der grossen Schachtel den Deckel weghob, dem Heidi bedeutend: "Sieh, was die Grossmutter zum Kaffee bekommt", da schrie es auf vor Freuden: "Oh! Oh! Jetzt kann die Grossmutter einmal schoene Kuchen essen!" und sprang rings um die Schachtel herum und wollte gleich alles zusammenpacken und zur Grossmutter hinuntereilen. Aber der Grossvater sagte, gegen Abend wollten sie dann miteinander den Herrn Doktor begleiten und die Sachen mitnehmen. Jetzt fand das Heidi auch das schoene Saeckchen Tabak und brachte es schnell dem Grossvater herueber. Das gefiel ihm sehr wohl. Er fuellte gleich sein Pfeifchen damit, und die beiden Maenner sprachen nun, auf der Bank sitzend und grosse Rauchwolken von sich blasend, ueber allerhand Dinge, waehrend das Heidi hin und her sprang von einem seiner Schaetze zum andern. Auf einmal kam es wieder zu der Bank zurueck, stellte sich vor den Gast hin, und sowie die erste Pause im Gespraech entstand, sagte es sehr bestimmt: "Nein, das andere hat mir nicht mehr Freude gemacht als der alte Herr Doktor." Die beiden Maenner mussten ein wenig lachen, und der Herr Doktor sagte, das haette er nicht gedacht. Als die Sonne halb hinter die Berge hinabsteigen wollte, stand der Gast auf, um seine Rueckreise nach dem Doerfli anzutreten und dort Quartier zu nehmen. Der Grossvater packte die Kuchenschachtel, die grosse Wurst und das Tuch unter seinen Arm, der Herr Doktor nahm das Heidi an die Hand, und so wanderten sie den Berg hinunter bis zur Geissenpeter-Huette. Hier musste das Heidi Abschied nehmen. Es sollte drinnen bei der Grossmutter warten, bis es wieder abgeholt wuerde vom Grossvater, welcher seinen Gast nach dem Doerfli hinunter geleiten wollte. Als der Herr Doktor dem Heidi die Hand zum Abschied bot, fragte es: "Wollen Sie etwa gern morgen mit den Geissen auf die Weide hinaufgehen?", denn das war das Schoenste, was es kannte. "Es bleibt dabei, Heidi", erwiderte er, "wir gehen zusammen." Nun gingen die Maenner weiter, und das Heidi trat bei der Grossmutter ein. Erst schleppte es mit Anstrengung die Kuchenschachtel mit, dann musste es wieder hinaus, um die Wurst zu holen, denn der Grossvater hatte alles vor der Tuer niedergelegt. Nachher musste es erst noch einmal hinaus, das grosse Tuch zu holen. Es brachte alles so nahe an die Grossmutter heran als nur moeglich, damit sie recht alles beruehren koenne und wisse, was es sei. Das Tuch legte es ihr auf die Knie. "Es ist alles aus Frankfurt, von der Klara und der Grossmama", berichtete es der hocherstaunten Grossmutter und der verwunderten Brigitte, der die Ueberraschung so in die Glieder gefahren war, dass sie unbeweglich zugeschaut hatte, wie das Heidi mit der groessten Anstrengung die schweren Gegenstaende hereingeschleppt und nun alles vor ihren Augen ausgebreitet hatte. "Aber gelt, Grossmutter, die Kuchen freuen dich furchtbar stark? Sieh nur, wie weich sie sind!" rief das Heidi immer wieder, und die Grossmutter bestaetigte: "Ja, ja, gewiss, Heidi, was sind das auch fuer gute Leute!" Dann strich sie wieder mit der Hand ueber das warme, weiche Tuch und sagte: "Aber das ist etwas Herrliches fuer den kalten Winter! Das ist etwas so Praechtiges, dass ich nie geglaubt haette, ich koennte in meinem Leben dazu kommen." Das Heidi aber musste sich sehr verwundern, dass die Grossmutter an dem grauen Tuch noch mehr Freude haben konnte als an den Kuchen. Die Brigitte stand immer noch vor der Wurst, die auf dem Tische lag, und schaute sie fast mit Verehrung an. In ihrem ganzen Leben hatte sie nie eine solche Riesenwurst gesehen, und diese sollte sie nun selbst besitzen und einmal sogar anschneiden; das kam ihr unglaublich vor. Sie schuettelte den Kopf und sagte zaghaft: "Man wird doch noch den Oehi fragen muessen, wie das gemeint sei." Aber das Heidi sagte ganz ohne Zweifel: "Das ist zum Essen gemeint und gar nicht anders." Jetzt kam der Peter hereingestolpert: "Der Almoehi kommt hinter mir drein, das Heidi soll..."; er konnte nicht mehr weiter. Seine Blicke waren auf den Tisch gefallen, wo die Wurst lag, und der Anblick hatte ihn so ueberwaeltigt, dass er kein Wort mehr fand. Aber das Heidi hatte schon gemerkt, was kommen sollte, und gab schnell der Grossmutter die Hand. Der Almoehi ging zwar jetzt nie mehr an der Huette vorbei, ohne schnell hereinzutreten und die Grossmutter zu gruessen, und sie freute sich auch immer, wenn sie seinen Schritt hoerte, denn er hatte jedesmal ein ermunterndes Wort fuer sie; aber heute war es spaet geworden fuer das Heidi, das alle Morgen mit der Sonne draussen war. Der Grossvater aber sagte: "Das Kind muss seinen Schlaf haben", und dabei blieb er. So rief er durch die offene Tuer der Grossmutter nur eine gute Nacht zu und nahm das heranspringende Heidi bei der Hand, und unter dem flimmernden Sternenhimmel hin wanderten die beiden ihrer friedlichen Huette zu. Eine Vergeltung Am anderen Morgen in der Fruehe stieg der Herr Doktor vom Doerfli den Berg hinan in der Gesellschaft des Peter und seiner Geissen. Der freundliche Herr versuchte ein paarmal mit dem Geissbuben ein Gespraech anzuknuepfen, aber es gelang ihm nicht, kaum dass er als Antwort auf einleitende Fragen unbestimmte, einsilbige Worte zu hoeren bekam. Der Peter liess sich nicht so leicht in ein Gespraech ein. So wanderte die ganze schweigende Gesellschaft bis hinauf zur Almhuette, wo schon erwartend das Heidi stand mit seinen beiden Geissen, alle drei munter und froehlich wie der fruehe Sonnenschein auf allen Hoehen. "Kommst mit?" fragte der Peter, denn als Frage oder als Aufforderung sprach er jeden Morgen diesen Gedanken aus. "Freilich, natuerlich, wenn der Herr Doktor mitkommt", gab das Heidi zurueck. Der Peter sah den Herrn ein wenig von der Seite an. Jetzt trat der Grossvater hinzu, das Mittagsbrotsaeckchen in der Hand. Erst gruesste er den Herrn mit aller Ehrerbietung, dann trat er zum Peter hin und hing ihm das Saeckchen um. Es war schwerer als sonst, denn der Oehi hatte ein schoenes Stueck von dem roetlichen Fleische hineingelegt. Er hatte gedacht, vielleicht gefalle es dem Herrn droben auf der Weide und er nehme dann gern sein Mittagsmahl gleich dort mit den Kindern ein. Der Peter laechelte fast von einem Ohr bis zum andern, denn er ahnte, dass da drinnen etwas Ungewoehnliches versteckt sei. Nun wurde die Bergfahrt angetreten. Das Heidi wurde ganz von seinen Geissen umringt, jede wollte zunaechst bei ihm sein, und eine schob die andere immer ein wenig seitwaerts. So wurde es eine Zeitlang mitten in dem Rudel mit fortgeschoben. Aber jetzt stand es still und sagte ermahnend: "Nun muesst ihr artig vorauslaufen, aber dann nicht immer wiederkommen und mich draengen und stossen. Ich muss jetzt ein wenig mit dem Herrn Doktor gehen." Dann klopfte es dem Schneehoeppli, das sich immer am naechsten zu ihm hielt, zaertlich auf den Ruecken und ermahnte es noch besonders, nun recht folgsam zu sein. Dann arbeitete es sich aus dem Rudel heraus und ging nun neben dem Herrn Doktor her, der es gleich bei der Hand fasste und festhielt. Er musste jetzt nicht mit Muehe nach einem Gespraech suchen wie vorher, denn das Heidi fing gleich an und hatte ihm so viel zu erzaehlen von den Geissen und ihren merkwuerdigen Einfaellen und von den Blumen oben und den Felsen und Voegeln, dass die Zeit unvermerkt dahinging und sie ganz unerwartet oben auf der Weide anlangten. Der Peter hatte im Hinaufgehen oefters seitwaerts auf den Herrn Doktor Blicke geworfen, die diesem einen rechten Schrecken haetten beibringen koennen; er sah sie aber gluecklicherweise nicht. Oben angelangt, fuehrte das Heidi seinen guten Freund gleich auf die schoenste Stelle, wohin es immer ging und sich auf den Boden setzte und umherschaute, denn da gefiel es ihm am besten. Es tat, wie es gewohnt war, und der Herr Doktor liess sich gleich auch neben Heidi auf den sonnigen Weideboden nieder. Ringsum leuchtete der goldene Herbsttag ueber die Hoehen und das weite gruene Tal. Von den unteren Alpen toenten ueberall die Herdenglocken herauf, so lieblich und wohltuend, als ob sie weit und breit den Frieden einlaeuteten. Auf dem grossen Schneefelde drueben blitzten funkelnd und flimmernd goldene Sonnenstrahlen hin und her, und der graue Falknis hob seine Felsentuerme in alter Majestaet hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf. Der Morgenwind wehte leise und wonnig ueber die Alp und bewegte nur sachte die letzten blauen Glockenbluemchen, die noch uebriggeblieben waren von der grossen Schar des Sommers und nun noch wohlig ihre Koepfchen im warmen Sonnenscheine wiegten. Obenhin flog der grosse Raubvogel in weiten Bogen umher, aber er kraechzte heute nicht. Mit ausgebreiteten Fluegeln schwamm er ruhig durch die Blaeue und liess sich's wohl sein. Das Heidi guckte dahin und dorthin. Die lustig nickenden Blumen, der blaue Himmel, der froehliche Sonnenschein, der vergnuegte Vogel in den Lueften, alles war so schoen, so schoen! Heidis Augen funkelten vor Wonne. Nun schaute es nach seinem Freunde, ob er auch alles recht sehe, was so schoen war. Der Herr Doktor hatte bis jetzt still und gedankenvoll um sich geblickt. Wie er nun den freudeglaenzenden Augen des Kindes begegnete, sagte er: "Ja, Heidi, es koennte schoen sein hier, aber was meinst du? Wenn einer ein trauriges Herz hierher braechte, wie muesste er es wohl machen, dass er an all dem Schoenen sich freuen koennte?" "Oh, oh!" rief das Heidi ganz froehlich aus. "Hier hat man gar nie ein trauriges Herz, nur in Frankfurt." Der Herr Doktor laechelte ein wenig, aber das ging schnell vorueber. Dann sagte er wieder: "Und wenn einer kaeme und alles Traurige aus Frankfurt mit hier heraufbraechte, Heidi; weisst du da auch noch etwas, das ihm helfen koennte?" "Man muss nur alles dem lieben Gott sagen, wenn man gar nicht mehr weiss, was machen", sagte das Heidi ganz zuversichtlich. "Ja, das ist schon ein guter Gedanke, Kind", bemerkte der Herr Doktor. "Wenn es aber von ihm selbst kommt, was so ganz traurig und elend macht, was kann man da dem lieben Gott sagen?" Das Heidi musste nachdenken, was dann zu machen sei; es war aber ganz zuversichtlich, dass man fuer alle Traurigkeit eine Hilfe vom lieben Gott erhalten koenne. Es suchte seine Antwort in seinen eigenen Erlebnissen. "Dann muss man warten", sagte es nach einer Weile mit Sicherheit, "und nur immer denken: jetzt weiss der liebe Gott schon etwas Freudiges, das dann nachher aus dem anderen kommt, man muss nur noch ein wenig still sein und nicht fortlaufen. Dann kommt auf einmal alles so, dass man ganz gut sehen kann, der liebe Gott hatte die ganze Zeit nur etwas Gutes im Sinn gehabt; aber weil man das vorher noch nicht so sehen kann, sondern immer nur das furchtbar Traurige, so denkt man, es bleibe dann immer so." "Das ist ein schoener Glaube, den musst du festhalten, Heidi", sagte der Herr Doktor. Eine Weile schaute er schweigend auf die maechtigen Felsenberge hinueber und in das sonnenleuchtende gruene Tal hinab, dann sagte er wieder: "Siehst du, Heidi, es koennte einer hier sitzen, der einen grossen Schatten auf den Augen haette, so dass er das Schoene gar nicht aufnehmen koennte, das ihn hier umgibt. Dann moechte doch wohl das Herz traurig werden hier, doppelt traurig, wo es so schoen sein koennte. Kannst du das verstehen?" Jetzt schoss dem Heidi etwas Schmerzliches in sein frohes Herz. Der grosse Schatten auf den Augen brachte ihm die Grossmutter in Erinnerung, die ja nie mehr die helle Sonne und all das Schoene hier oben sehen konnte. Das war ein Leid in Heidis Herzen, das immer neu erwachte, sobald die Sache ihm wieder ins Bewusstsein kam. Es schwieg eine Weile ganz still, denn das Weh hatte es so mitten in die Freude hineingetroffen. Dann sagte es ernsthaft: "Ja, das kann ich schon verstehen. Aber ich weiss etwas: Dann muss man die Lieder der Grossmutter sagen, die machen einem wieder ein wenig helle und manchmal so hell, dass man ganz froehlich wird. Das hat die Grossmutter gesagt." "Welche Lieder, Heidi?" fragte der Herr Doktor. "Ich kann nur das von der Sonne und dem schoenen Garten und noch von dem andern langen die Verse, die der Grossmutter lieb sind, denn die muss ich immer dreimal lesen", erwiderte das Heidi. "So sag mir einmal diese Verse, die moechte ich auch hoeren", und der Herr Doktor setzte sich zurecht, um aufmerksam zuzuhoeren. Heidi legte seine Haende ineinander und besann sich noch ein Weilchen: "Soll ich dort anfangen, wo die Grossmutter sagt, dass einem wieder eine Zuversicht ins Herz kommt?" Der Herr Doktor nickte bejahend. Jetzt begann Heidi: "Ihn, ihn lass tun und walten, Er ist ein weiser Fuerst Und wird es so gestalten, Dass du dich wundern wirst, Wenn er, wie ihm gebuehret, Mit wunderbarem Rat Das Werk hinausgefuehret, Das dich bekuemmert hat. Er wird zwar eine Weile Mit seinem Trost verziehn Und tun an seinem Teile, Als haett' in seinem Sinn Er deiner sich begeben, Als sollt'st du fuer und fuer In Angst und Noeten schweben, Als fragt' er nichts nach dir. Wird's aber sich begeben, Dass du ihm treu verbleibst, So wird er dich erheben, Da du's am mind'sten glaeubst. Er wird dein Herz erloesen Von der so schweren Last, Die du zu keinem Boesen Bisher getragen hast." Heidi hielt ploetzlich inne, es war nicht sicher, dass der Herr Doktor auch noch zuhoere. Er hatte die Hand ueber seine Augen gebreitet und sass unbeweglich da. Es dachte, er sei vielleicht ein wenig eingeschlafen; wenn er dann wieder erwachte und noch mehr Verse hoeren wollte, wuerde er es schon sagen. Jetzt war alles still. Der Herr Doktor sagte nichts, aber er schlief doch nicht. Er war in eine laengst vergangene Zeit zurueckversetzt. Da stand er als ein kleiner Junge neben dem Sessel seiner lieben Mutter; die hatte ihren Arm um seinen Hals gelegt und sagte ihm das Lied vor, das er eben von Heidi hoerte und das er so lange nicht mehr vernommen hatte. Jetzt hoerte er die Stimme seiner Mutter wieder und sah ihre guten Augen so liebevoll auf ihm ruhen, und als die Worte des Liedes verklungen waren, hoerte er die freundliche Stimme noch andere Worte zu ihm sprechen. Die musste er gern hoeren und ihnen weit nachgehen in seinen Gedanken, denn noch lange Zeit sass er so da, das Gesicht in seine Hand gelegt, schweigend und regungslos. Als er sich endlich aufrichtete, sah er, wie das Heidi in Verwunderung nach ihm blickte. Er nahm die Hand des Kindes in die seinige. "Heidi, dein Lied war schoen", sagte er, und seine Stimme klang froher, als sie bis jetzt geklungen hatte. "Wir wollen wieder hierherkommen, dann sagst du mir's noch einmal." Waehrend dieser ganzen Zeit hatte der Peter genug zu tun gehabt, seinem Aerger Luft zu machen. Da war das Heidi seit vielen Tagen nicht mit auf der Weide gewesen, und nun, da es endlich einmal wieder mit war, sass der alte Herr die ganze Zeit neben ihm, und der Peter konnte gar nicht an das Heidi herankommen. Das verdross ihn sehr stark. Er stellte sich in einiger Entfernung hinter dem ahnungslosen Herrn auf, so dass dieser ihn nicht sehen konnte, und hier machte er erst eine grosse Faust und schwang sie drohend in der Luft herum, und nach einiger Zeit machte er zwei Faeuste, und je laenger das Heidi neben dem Herrn sitzen blieb, je schrecklicher ballte der Peter seine Faeuste und streckte sie immer hoeher und drohender in die Luft hinauf hinter dem Ruecken des Bedrohten. Unterdessen war die Sonne dahin gekommen, wo sie steht, wenn man zu Mittag essen muss; das kannte der Peter genau. Auf einmal schrie er aus allen Kraeften zu den zweien hinueber: "Man muss essen!" Heidi stand auf und wollte den Sack herbeiholen, damit der Herr Doktor auf dem Platze, wo er sass, sein Mittagsmahl abhalten koenne. Aber er sagte, er habe keinen Hunger, er wuensche nur ein Glas Milch zu trinken, dann wolle er gern noch ein wenig auf der Alp umhergehen und etwas weiter hinaufsteigen. Da fand das Heidi, dann habe es auch keinen Hunger und wolle auch nur Milch trinken, und nachher wolle es den Herrn Doktor hinauffuehren zu den grossen, moosbedeckten Steinen hoch oben, wo der Distelfink einmal fast hinuntergesprungen waere und wo alle die wuerzigen Kraeutlein wuchsen. Es lief zum Peter hinueber und erklaerte ihm alles und dass er nun erst eine Schale Milch vom Schwaenli nehmen muesse fuer den Herrn Doktor und dann noch eine, die wolle es fuer sich haben. Der Peter schaute erst eine Weile sehr erstaunt das Heidi an, dann fragte er: "Wer muss haben, was im Sack ist?" "Das kannst du haben, aber zuerst musst du die Milch geben, und hurtig", war Heidis Antwort. So rasch hatte der Peter in seinem Leben noch keine Tat vollendet, als er nun diese fertigbrachte, denn er sah immer den Sack vor sich und wusste noch nicht, wie das aussah, was drinnen war und ihm gehoerte. Sobald drueben die beiden ruhig ihre Milch tranken, oeffnete der Peter den Sack und tat einen Blick hinein. Als er das wundervolle Stueck Fleisch gewahr wurde, da schuettelte es den ganzen Peter vor Freude, und er tat noch einen Blick hinein, um sich zu versichern, dass es auch wahr sei. Dann fuhr er mit der Hand in den Sack hinein, um die erwuenschte Gabe zum Genuss herauszuholen. Aber auf einmal zog er die Hand wieder zurueck, als ob er nicht zugreifen duerfe. Es war dem Peter in den Sinn gekommen, wie er dort hinter dem Herrn gestanden und gegen ihn gefaustet hatte, und nun schenkte ihm derselbe Herr sein ganzes unvergleichliches Mittagsessen. Jetzt reute den Peter seine Tat, denn es war ihm gerade so, wie wenn sie ihn verhinderte, sein schoenes Geschenk herauszunehmen und sich daran zu erlaben. Auf einmal sprang er in die Hoehe und lief zurueck auf die Stelle hin, wo er gestanden hatte. Da streckte er seine beiden Haende ganz flach in die Luft hinauf, zum Zeichen, dass das Fausten nicht mehr gelte, und so blieb er eine gute Weile stehen, bis er das Gefuehl hatte, die Sache sei nun wieder ausgeglichen. Dann kam er in grossen Spruengen zu dem Sack zurueck, und nun, da das gute Gewissen hergestellt war, konnte er mit vollem Vergnuegen in sein ungewoehnlich leckeres Mittagsmahl beissen. Der Herr Doktor und das Heidi waren lange miteinander herumgewandert und hatten sich sehr gut unterhalten. Jetzt aber fand der Herr, es sei Zeit fuer ihn zurueckzukehren, und meinte, das Kind wolle nun auch gern noch ein wenig bei seinen Geissen bleiben. Aber das kam dem Heidi nicht in den Sinn, denn dann musste ja der Herr Doktor mutterseelenallein die ganze Alp hinuntergehen. Bis zur Huette vom Grossvater wollte es ihn durchaus begleiten und auch noch ein Stueck darueber hinaus. Es ging immer Hand in Hand mit seinem guten Freunde und hatte auf dem ganzen Wege ihm noch genug zu erzaehlen und ihm alle Stellen zu zeigen, wo die Geissen am liebsten weideten und wo es im Sommer am meisten von den glaenzenden gelben Weideroeschen und vom roten Tausendgueldenkraut und noch anderen Blumen gebe. Die wusste es nun alle zu benennen, denn der Grossvater hatte ihm den Sommer durch alle ihre Namen beigebracht, so, wie er sie kannte. Aber zuletzt sagte der Herr Doktor, nun muesse es zurueckkehren. Sie nahmen Abschied, und der Herr ging den Berg hinunter, doch kehrte er sich von Zeit zu Zeit noch einmal um. Dann sah er, wie das Heidi immer noch auf derselben Stelle stand und ihm nachschaute und mit der Hand ihm nachwinkte. So hatte sein eigenes, liebes Toechterchen getan, wenn er von Hause fortging. Es war ein klarer, sonniger Herbstmonat. Jeden Morgen kam der Herr Doktor zur Alp herauf, und dann ging es gleich weiter auf eine schoene Wanderung. oefters zog er mit dem Almoehi aus, hoch in die Felsenberge hinauf, wo die alten Wettertannen herunternickten und der grosse Vogel in der Naehe hausen musste, denn da schwirrte er manchmal sausend und kraechzend ganz nahe an den Koepfen der beiden Maenner vorbei. Der Herr Doktor hatte ein grosses Wohlgefallen an der Unterhaltung seines Begleiters, und er musste sich immer mehr verwundern, wie gut der Oehi alle Kraeutlein ringsherum auf seiner Alp kannte und wusste, wozu sie gut waren, und wieviel kostbare und gute Dinge er da droben ueberall herauszufinden wusste; so in den harzigen Tannen und in den dunklen Fichtenbaeumen mit den duftenden Nadeln, in dem gekraeuselten Moos, das zwischen den alten Baumwurzeln emporspross, und in all den feinen Pflaenzchen und unscheinbaren Bluemchen, die noch ganz hoch oben dem kraeftigen Alpenboden entsprangen. Ebenso genau kannte der Alte auch das Wesen und Treiben aller Tiere da oben, der grossen und der kleinen, und er wusste dem Herrn Doktor ganz lustige Dinge von der Lebensweise dieser Bewohner der Felsenloecher, der Erdhoehlen und auch der hohen Tannenwipfel zu erzaehlen. Dem Herrn Doktor verging die Zeit auf diesen Wanderungen, er wusste gar nicht, wie, und oftmals, wenn er am Abend dem Oehi herzlich die Hand zum Abschiede schuettelte, musste er von neuem sagen: "Guter Freund, von Ihnen gehe ich nie fort, ohne wieder etwas gelernt zu haben." An vielen Tagen aber, und gewoehnlich an den allerschoensten, wuenschte der Herr Doktor mit dem Heidi auszuziehen. Dann sassen die beiden oefter miteinander auf dem schoenen Vorsprunge der Alp, wo sie am ersten Tage gesessen hatten, und das Heidi musste wieder seine Liederverse sagen und dem Herrn Doktor erzaehlen, was es nur wusste. Dann sass der Peter oefter hinter ihnen an seinem Platze, aber er war jetzt ganz zahm und faustete nie mehr. So ging der schoene Septembermonat zu Ende. Da kam der Herr Doktor eines Morgens und sah nicht so froehlich aus, wie er sonst immer ausgesehen hatte. Er sagte, es sei sein letzter Tag, er muesse nach Frankfurt zurueckkehren; das mache ihm grosse Muehe, denn er habe die Alp so liebgewonnen, als waere sie seine Heimat. Dem Almoehi tat die Nachricht sehr leid, denn auch er hatte sich ueberaus gern mit dem Herrn Doktor unterhalten, und das Heidi hatte sich so daran gewoehnt, alle Tage seinen liebevollen Freund zu sehen, dass es gar nicht begreifen konnte, wie das nun mit einem Male ein Ende nehmen sollte. Es schaute fragend und ganz verwundert zu ihm auf. Aber es war wirklich so. Der Herr Doktor nahm Abschied vom Grossvater und fragte dann, ob das Heidi ihn noch ein wenig begleiten werde. Es ging an seiner Hand den Berg hinunter, aber es konnte immer noch nicht recht fassen, dass er ganz fortgehe. Nach einer Welle stand der Herr Doktor still und sagte, nun sei das Heidi weit genug gekommen, es muesse zurueckkehren. Er fuhr ein paarmal zaertlich mit seiner Hand ueber das krause Haar des Kindes hin und sagte: "Nun muss ich fort, Heidi! Wenn ich dich nur mit mir nach Frankfurt nehmen und bei mir behalten koennte!" Dem Heidi stand auf einmal ganz Frankfurt vor den Augen, die vielen, vielen Haeuser und steinernen Strassen und auch Fraeulein Rottenmeier und die Tinette, und es antwortete ein wenig zaghaft: "Ich wollte doch lieber, dass Sie wieder zu uns kaemen." "Nun ja, so wird's besser sein. So leb wohl, Heidi", sagte freundlich der Herr Doktor und hielt ihm die Hand hin. Das Kind legte die seinige hinein und schaute zu dem Scheidenden auf. Die guten Augen, die zu ihm niederblickten, fuellten sich mit Wasser. Jetzt wandte sich der Herr Doktor rasch und eilte den Berg hinunter. Das Heidi blieb stehen und ruehrte sich nicht. Die liebevollen Augen und das Wasser, das es darinnen gesehen hatte, arbeiteten stark in seinem Herzen. Auf einmal brach es in ein lautes Weinen aus, und mit aller Macht stuerzte es dem Forteilenden nach und rief, von Schluchzen unterbrochen, aus allen Kraeften: "Herr Doktor! Herr Doktor!" Er kehrte um und stand still. Jetzt hatte ihn das Kind erreicht. Die Traenen stroemten ihm die Wangen herunter, waehrend es herausschluchzte: "Ich will gewiss auf der Stelle mit nach Frankfurt kommen und will bei Ihnen bleiben, so lang Sie wollen, ich muss es nur noch geschwind dem Grossvater sagen." Der Herr Doktor streichelte beruhigend das erregte Kind. "Nein, mein liebes Heidi", sagte er mit dem freundlichsten Tone, "nicht jetzt auf der Stelle; du musst noch unter den Tannen bleiben, du koenntest mir wieder krank werden. Aber komm, ich will dich etwas fragen: Wenn ich einmal krank und allein bin, willst du dann zu mir kommen und bei mir bleiben? Kann ich denken, dass sich dann noch jemand um mich kuemmern und mich liebhaben will?" "Ja, ja, dann will ich sicher kommen, noch am gleichen Tag, und Sie sind mir auch fast so lieb wie der Grossvater", versicherte das Heidi noch unter fortwaehrendem Schluchzen. Jetzt drueckte ihm der Herr Doktor noch einmal die Hand, dann setzte er rasch seinen Weg fort. Das Heidi aber blieb auf derselben Stelle stehen und winkte fort und fort mit seiner Hand, solange es nur noch ein Puenktchen von dem forteilenden Herrn entdecken konnte. Als dieser zum letztenmal sich umwandte und nach dem winkenden Heidi und der sonnigen Alp zurueckschaute, sagte er leise vor sich hin: "Dort oben ist's gut sein, da koennen Leib und Seele gesunden, und man wird wieder seines Lebens froh." Der Winter im Doerfli Um die Almhuette lag der Schnee so hoch, dass es anzusehen war, als staenden die Fenster auf dem flachen Boden, denn weiter unten war von der ganzen Huette gar nichts zu sehen, auch die Haustuer war voellig verschwunden. Waere der Almoehi noch oben gewesen, so haette er dasselbe tun muessen, was der Peter taeglich ausfuehren musste, weil es gewoehnlich ueber Nacht wieder geschneit hatte. Jeden Morgen musste dieser jetzt aus dem Fenster der Stube hinausspringen, und war es nicht sehr kalt, so dass ueber Nacht alles zusammengefroren war, so versank er dann so tief in dem weichen Schnee, dass er mit Haenden und Fuessen und mit dem Kopf auf alle Seiten stossen und werfen und ausschlagen musste, bis er sich wieder herausgearbeitet hatte. Dann bot ihm die Mutter den grossen Besen aus dem Fenster, und mit diesem stiess und scharrte der Peter nun den Schnee vor sich weg, bis er zur Tuer kam. Dort hatte er dann eine grosse Arbeit, denn da musste aller Schnee abgegraben werden, sonst fiel entweder, wenn er noch weich war und die Tuer aufging, die ganze grosse Masse in die Kueche hinein, oder er fror zu, und nun war man ganz vermauert drinnen, denn durch diesen Eisfelsen konnte man nicht dringen, und durch das kleine Fenster konnte nur der Peter hinausschluepfen. Fuer diesen brachte dann die Zeit des Gefrierens viele Bequemlichkeiten mit sich. Wenn er ins Doerfli hinunter musste, oeffnete er nur das Fenster, kroch durch und kam draussen zu ebener Erde auf dem festen Schneefelde an. Dann schob ihm die Mutter den kleinen Schlitten durch das Fenster nach, und der Peter hatte sich nur daraufzusetzen und abzufahren, wie und wo er wollte, er kam jedenfalls hinunter, denn die ganze Alm um und um war dann nur ein grosser, ununterbrochener Schlittweg. Der Oehi war nicht auf der Alm den Winter; er hatte Wort gehalten. Sobald der erste Schnee gefallen war, hatte er Huette und Stall abgeschlossen und war mit dem Heidi und den Geissen nach dem Doerfli hinuntergezogen. Dort stand in der Naehe der Kirche und des Pfarrhauses ein weitlaeufiges Gemaeuer, das war in alter Zeit ein grosses Herrenhaus gewesen, was man noch an vielen Stellen sehen konnte, obschon jetzt das Gebaeude ueberall ganz oder halb zerfallen war. Da hatte einmal ein tapferer Kriegsmann gewohnt; der war in spanische Dienste gegangen und hatte da viele tapfere Taten verrichtet und viele Reichtuemer erbeutet. Dann war er heimgekommen nach dem Doerfli und hatte aus seiner Beute ein praechtiges Haus errichtet; darinnen wollte er nun wohnen. Aber es ging gar nicht lange, so konnte er es in dem stillen Doerfli nicht mehr aushalten vor Langweile, denn er hatte zu lange draussen in der laermvollen Welt gelebt. Er zog wieder hinaus und kam gar niemals mehr zurueck. Als man nach vielen, vielen Jahren sicher wusste, dass er tot war, uebernahm ein ferner Verwandter unten im Tal das Haus, aber es war schon am Verfallen, und der neue Besitzer wollte es nicht mehr aufbauen. So zogen arme Leute in das Haus, die wenig dafuer bezahlen mussten, und wenn ein Stueck abfiel von dem Gebaeude, so liess man es liegen. Seit jener Zeit waren nun wieder viele Jahre daruebergegangen. Schon als der Oehi mit seinem jungen Buben Tobias hergekommen war, hatte er das verfallene Haus bezogen und darin gelebt. Seither hatte es meistens leer gestanden, denn wer nicht verstand, vorweg dem Verfalle ein wenig zu begegnen und die Loecher und Luecken, wo sie entstanden, gleich irgendwie zu stopfen und zu flicken, der konnte da nicht bleiben. Der Winter droben im Doerfli war lang und kalt. Dann blies und wehte es von allen Seiten durch die Raeume, dass die Lichter ausloeschten und die armen Leute vom Frost geschuettelt wurden. Aber der Oehi wusste sich zu helfen. Gleich nachdem er zu dem Entschluss gekommen war, den Winter im Doerfli zuzubringen, hatte er das alte Haus wieder uebernommen und war den Herbst durch oefter heruntergekommen, um darin alles so herzurichten, wie es ihm gefiel. Um die Mitte des Oktobermonats war er dann mit dem Heidi heruntergezogen. Kam man von hinten an das Haus heran, so trat man gleich in einen offenen Raum ein, da war auf einer Seite die ganze Wand und auf der anderen die halbe eingefallen. Ueber dieser war noch ein Bogenfenster zu sehen, aber das Glas war laengst weg daraus, und dicker Efeu rankte sich darum und hoch hinauf bis zur Decke, die noch zur Haelfte fest war. Die war schoen gewoelbt, und man konnte gut sehen, das war die Kapelle gewesen. Ohne Tuer kam man weiter in eine grosse Halle hinein, da waren hier und da noch schoene Steinplatten auf dem Boden, und zwischendurch wuchs das Gras dicht empor. Da waren die Mauern auch alle halb weg und grosse Stuecke der Decke dazu, und haetten da nicht ein paar dicke Saeulen noch ein festes Stueck der Decke getragen, so haette man denken muessen, diese koenne jeden Augenblick auf die Koepfe derer niederfallen, die darunter standen. Hier hatte der Oehi einen Bretterverschlag ringsum gemacht und den Boden dick mit Streu belegt, denn hier in der alten Halle sollten die Geissen logieren. Dann ging es durch allerlei Gaenge, immer halb offen, dass einmal der Himmel hereinguckte und einmal wieder die Wiese und der Weg draussen. Aber zuvoerderst, wo die schwere, eichene Tuer noch fest in den Angeln hing, kam man in eine grosse, weite Stube hinein, die war noch gut. Da waren noch die vier festen Waende mit dem dunkeln Holzgetaefel ohne Luecken, und in der einen Ecke stand ein ungeheurer Ofen, der ging fast bis an die Decke hinauf, und auf die weissen Kacheln waren grosse, blaue Bilder hingemalt. Da waren alte Tuerme darauf, mit hohen Baeumen ringsum, und unter den Baeumen ging ein Jaeger dahin mit seinen Hunden. Dann war wieder ein stiller See unter weitschattigen Eichen, und ein Fischer stand daran und hielt seine Rute weit in das Wasser hinaus. Um den ganzen Ofen herum ging eine Bank, so dass man da gleich hinsetzen und die Bilder studieren konnte. Hier gefiel es dem Heidi sogleich. Sowie es mit dem Grossvater in die Stube eingetreten war, lief es auf den Ofen zu, setzte sich auf die Bank und fing an die Bilder zu betrachten. Aber wie es, auf der Bank weiter gleitend, bis hinter den Ofen gelangte, nahm eine neue Erscheinung seine ganze Aufmerksamkeit in Beschlag: In dem ziemlich grossen Raume zwischen dem Ofen und der Wand waren vier Bretter aufgestellt, so wie zu einem Apfelbehaelter. Darinnen lagen aber nicht Aepfel, da lag unverkennbar Heidis Bett, ganz so, wie es oben auf der Alm gewesen war: ein hohes Heulager mit dem Leintuch und dem Sack als Decke darauf. Das Heidi jauchzte auf: "Oh, Grossvater, da ist meine Kammer, o wie schoen! Aber wo musst du schlafen?" "Deine Kammer muss nahe beim Ofen sein, damit du nicht frierst", sagte der Grossvater, "die meine kannst du auch sehen." Das Heidi huepfte durch die weite Stube dem Grossvater nach, der auf der anderen Seite eine Tuer aufmachte, die in einen kleinen Raum hineinfuehrte, da hatte der Grossvater sein Lager errichtet. Dann kam aber wieder eine Tuer. Das Heidi machte sie geschwind auf und stand ganz verwundert still, denn da sah man in eine Art von Kueche hinein, die war so ungeheuer gross, wie es noch nie in seinem Leben eine gesehen hatte. Da war viel Arbeit fuer den Grossvater gewesen, und es blieb auch noch immer viel zu tun uebrig, denn da waren Loecher und weite Spalten in den Mauern auf allen Seiten, wo der Wind hereinpfiff, und doch waren schon so viele mit Holzbrettern vernagelt worden, dass es aussah, als waeren ringsum kleine Holzschraenke in der Mauer angebracht. Auch die grosse, uralte Tuer hatte der Grossvater wieder mit vielen Draehten und Naegeln festzumachen verstanden, so dass man sie schliessen konnte, und das war gut, denn nachher ging es in lauter verfallenes Gemaeuer hinaus, wo dickes Gestruepp emporwuchs und Scharen von Kaefern und Eidechsen ihre Wohnungen hatten. Dem Heidi gefiel es wohl in der neuen Behausung, und schon am anderen Tage, als der Peter kam, um zu sehen, wie es in der neuen Wohnung zugehe, hatte es alle Winkel und Ecken so genau ausgeguckt, dass es ganz daheim war und den Peter ueberall herumfuehren konnte. Es liess ihm auch durchaus keine Ruhe, bis er ganz gruendlich alle die merkwuerdigen Dinge betrachtet hatte, die der neue Wohnsitz enthielt. Das Heidi schlief vortrefflich in seinem Ofenwinkel, aber am Morgen meinte es doch immer, es sollte auf der Alp erwachen und es muesse gleich die Huettentuer aufmachen, um zu sehen, ob die Tannen darum nicht rauschten, weil der hohe, schwere Schnee darauf liege und die Aeste niederdruecke. So musste es jeden Morgen zuerst lange hin und her schauen, bis es sich wieder besinnen konnte, wo es war, und jedesmal fuehlte es etwas auf seinem Herzen liegen, das es wuergte und drueckte, wenn es sah, dass es nicht daheim sei auf der Alp. Aber wenn es dann den Grossvater reden hoerte draussen mit dem Schwaenli und dem Baerli und dann die Geissen so laut und lustig meckerten, als wollten sie ihm zurufen: "Mach doch, dass du einmal kommst, Heidi", dann merkte es, dass es doch daheim war, und sprang froehlich aus seinem Bette und dann so schnell als moeglich in den grossen Geissenstall hinaus. Aber am vierten Tage sagte das Heidi sorglich: "Heute muss ich gewiss zur Grossmutter hinauf, sie kann nicht so lange allein sein." Aber der Grossvater war nicht einverstanden. "Heute nicht und morgen auch noch nicht", sagte er. "Die Alm hinauf liegt der Schnee klaftertief, und immer noch schneit es fort; kaum kann der feste Peter durchkommen. Ein Kleines wie du, Heidi, waere auf der Stelle eingeschneit und zugedeckt und nicht mehr zu finden. Wart noch ein wenig, bis es friert, dann kannst du bequem ueber die Schneedecke hinaufspazieren." Das Warten machte zuerst dem Heidi ein wenig Kummer. Aber die Tage waren jetzt so angefuellt von Arbeit, dass immer einer unversehens dahin war und ein anderer kam. Jeden Morgen und jeden Nachmittag ging das Heidi jetzt in die Schule im Doerfli und lernte ganz eifrig, was da zu lernen war. Den Peter sah es aber fast nie in der Schule, denn meistens kam er nicht. Der Lehrer war ein milder Mann, der nur dann und wann sagte: "Es scheint mir, der Peter sei wieder nicht da. Die Schule taete ihm doch gut, aber es liegt auch gar viel Schnee dort hinauf, er wird wohl nicht durchkommen." Aber gegen Abend, wenn die Schule aus war, kam der Peter meistens durch und machte seinen Besuch beim Heidi. Nach einigen Tagen kam die Sonne wieder hervor und warf ihre Strahlen ueber den weissen Boden hin, aber sie ging ganz frueh wieder hinter die Berge hinab, so als gefalle es ihr lange nicht so gut herunterzuschauen wie im Sommer, wenn alles gruente und bluehte. Aber am Abend kam der Mond ganz hell und gross herauf und leuchtete die ganze Nacht ueber die weiten Schneefelder hin, und am anderen Morgen glitzerte und flimmerte die ganze Alp von oben bis unten wie ein Kristall. Als der Peter wie die Tage vorher aus seinem Fenster in den tiefen Schnee hinabspringen wollte, ging es ihm, wie er nicht erwartet hatte. Er nahm einen Satz hinaus, aber anstatt ins Weiche hinab zu kommen, schlug es ihn auf dem unerwartet harten Boden gleich um, und unversehens fuhr er ein gutes Stueck den Berg hinunter wie ein herrenloser Schlitten. Sehr verwundert kam er schliesslich wieder auf seine Fuesse, und nun stampfte er mit aller Macht auf den Schneeboden, um sich zu versichern, dass auch wirklich moeglich sei, was ihm soeben begegnet war. Es war richtig: Wie er auch stampfte und einschlug mit den Absaetzen, kaum konnte er ein kleines Eissplitterchen herausschlagen. Die ganze Alm war steinhart zugefroren. Das war dem Peter eben recht: Er wusste, dass dieser Zustand der Dinge noetig war, damit das Heidi einmal wieder da heraufkommen konnte. Schleunig kehrte er um, schluckte seine Milch hinunter, welche die Mutter eben auf den Tisch gestellt hatte, steckte sein Stuecklein Brot in die Tasche und sagte eilig: "Ich muss in die Schule." "Ja, so geh und lern auch brav", sagte die Mutter beistimmend. Der Peter kroch zum Fenster hinaus - denn nun war man eingesperrt um des Eisberges willen vor der Tuere -, zog seinen kleinen Schlitten nach sich, setzte sich darauf und schoss den Berg hinunter. Es ging wie der Blitz, und als er beim Doerfli da ankam, wo es gleich weiter hinab gegen Maienfeld hin ging, fuhr der Peter weiter, denn es kam ihm so vor, als muesste er sich und dem Schlitten Gewalt antun, wenn er auf einmal den Lauf einhalten wollte. So fuhr er zu, bis er ganz unten in der Ebene ankam und es von selbst nicht mehr weiterging. Dann stieg er ab und schaute sich um. Die Gewalt der Niederfahrt hatte ihn noch ziemlich ueber Maienfeld hinausgejagt. Jetzt bedachte er, dass er jedenfalls zu spaet in die Schule kaeme, da sie schon lange begonnen hatte, er aber zum Hinaufsteigen fast eine Stunde brauchte. So konnte er sich alle Zeit lassen zur Rueckkehr. Das tat er denn auch und kam gerade oben im Doerfli wieder an, als das Heidi aus der Schule zurueckgekehrt war und sich mit dem Grossvater an den Mittagstisch setzte. Der Peter trat herein, und da er diesmal einen besonderen Gedanken mitzuteilen hatte, so lag ihm dieser obenauf, und er musste ihn gleich beim Eintreten loswerden. "Es hat ihn", sagte der Peter, mitten in der Stube stillstehend. "Wen? Wen? General! Das toent ziemlich kriegerisch", sagte der Oehi. "Den Schnee", berichtete Peter. "Oh! Oh! jetzt kann ich zur Grossmutter hinauf!" frohlockte das Heidi, das die Ausdrucksweise des Peter gleich verstanden hatte. "Aber warum bist du denn nicht in die Schule gekommen? Du konntest ja gut herunterschlittern", setzte es auf einmal vorwurfsvoll hinzu, denn dem Heidi kam es vor, das sei nicht in der Ordnung, so draussen zu bleiben, wenn man doch gut in die Schule gehen koennte. "Bin zu weit gekommen mit dem Schlitten, war zu spaet", gab der Peter zurueck. "Das nennt man desertieren", sagte der Oehi, "und Leute, die das tun, nimmt man bei den Ohren, hoerst du?" Der Peter riss erschrocken an seiner Kappe herum, denn vor keinem Menschen auf der Welt hatte er einen so grossen Respekt wie vor dem Almoehi. "Und dazu ein Anfuehrer, wie du einer bist, der muss sich doppelt schaemen, so auszureissen", fuhr der Oehi fort. "Was meinst, wenn einmal deine Geissen eine da und die andere dort hinausliefen und sie wollten dir nicht mehr folgen und nicht tun, was gut ist fuer sie, was wuerdest du dann machen?" "Sie hauen", entgegnete der Peter kundig. "Und wenn einmal ein Bub so taete wie eine ungebaerdige Geiss und er wuerde ein wenig durchgehauen, was wuerdest du dann sagen?" "Geschieht ihm recht", war die Antwort. "So, jetzt weisst was, Geissenoberst: Wenn du noch einmal auf deinem Schlitten ueber die Schule hinausfaehrst zu einer Zeit, da du hinein solltest, so komm dann nachher zu mir und hol dir, was dir dafuer gehoert." Jetzt verstand der Peter den Zusammenhang der Rede und dass er mit dem Buben gemeint sei, der fortlaufe wie eine ungebaerdige Geiss. Er war ganz getroffen von dieser Aehnlichkeit und schaute ein wenig baenglich in die Winkel hinein, ob so etwas zu entdecken sei, wie er es in solchen Faellen fuer die Geissen gebrauchte. Aber ermunternd sagte nun der Oehi: "Komm an den Tisch jetzt und halt mit, dann geht das Heidi mit dir. Am Abend bringst du's wieder heim, dann findest du dein Nachtessen hier." Diese unerwartete Wendung der Dinge war dem Peter hoechst erfreulich. Sein Gesicht verzog sich nach allen Seiten vor Vergnuegen. Er gehorchte unverzueglich und setzte sich neben das Heidi hin. Das Kind aber hatte schon genug und konnte gar nicht mehr schlucken vor Freude, dass es zur Grossmutter gehen sollte. Es schob die grosse Kartoffel und den Kaesebraten, die noch auf seinem Teller lagen, dem Peter zu, der von der anderen Seite vom Oehi den Teller voll bekommen hatte, so dass ein ganzer Wall vor ihm aufgerichtet stand, aber der Mut zum Angriff fehlte ihm nicht. Das Heidi rannte an den Schrank und holte sein Maentelchen von der Klara hervor. Jetzt konnte es, ganz warm eingepackt, mit der Kapuze ueber dem Kopf, seine Reise machen. Es stellte sich nun neben den Peter hin, und sobald dieser sein letztes Stueck eingeschoben hatte, sagte es: "Jetzt komm!" Dann machten sie sich auf den Weg. Das Heidi hatte dem Peter sehr viel zu erzaehlen vom Schwaenli und Baerli, dass sie beide am ersten Tage in dem neuen Stall gar nicht hatten fressen wollen und dass sie die Koepfe hatten haengen lassen den ganzen Tag und keinen Ton von sich gegeben hatten. Und es habe den Grossvater gefragt, warum sie so tun. Dann habe er gesagt: Sie tun so wie es in Frankfurt, denn sie seien noch nie von der Alm heruntergekommen ihr Leben lang. Und das Heidi setzte hinzu: "Du solltest nur einmal erfahren, wie das ist, Peter." Die beiden waren so fast oben angekommen, ohne dass der Peter ein einziges Wort gesagt haette, und es war auch, als ob ihn ein tiefer Gedanke beschaeftigte, dass er nicht einmal recht zuhoeren konnte wie sonst. Als sie nun bei der Huette angekommen waren, stand der Peter still und sagte ein wenig stoerrisch: "Dann will ich noch lieber in die Schule gehen, als beim Oehi holen, was er gesagt hat." Das Heidi war derselben Meinung und bestaerkte den Peter ganz eifrig in seinem Vorsatz. Drinnen in der Stube sass die Mutter allein beim Flickwerk. Sie sagte, die Grossmutter muesse die Tage im Bett bleiben, es sei zu kalt fuer sie, und dann sei ihr auch sonst nicht recht. Das war dem Heidi etwas Neues; sonst sass die Grossmutter immer an ihrem Platz in der Ecke. Es rannte gleich zu ihr in die Kammer hinein. Sie lag ganz von dem grauen Tuche umwickelt in ihrem schmalen Bett mit der duennen Decke. "Gott Lob und Dank!" sagte die Grossmutter gleich, als sie das Heidi hereinspringen hoerte. Sie hatte schon den ganzen Herbst durch eine geheime Angst im Herzen gehabt, die sie noch immer verfolgte, besonders wenn das Heidi eine Zeitlang nicht kam. Der Peter hatte berichtet, wie ein fremder Herr aus Frankfurt gekommen sei und immer mit auf die Weide komme und mit dem Heidi reden wolle, und die Grossmutter meinte nicht anders, als der Herr sei gekommen, das Heidi wieder mit fortzunehmen. Wenn er auch nachher schon allein abreiste, so stieg die Angst doch immer wieder in ihr auf, es koennte irgendein Abgesandter von Frankfurt herkommen und das Kind wieder zurueckholen. Das Heidi sprang zu dem Bett der Kranken hin und fragte sorglich: "Bist du stark krank, Grossmutter?" "Nein, nein, Kind", beruhigte die Alte, indem sie das Heidi liebevoll streichelte, "der Frost ist mir nur ein wenig in die Glieder gefahren." "Wirst du dann auf der Stelle gesund, wenn es wieder warm ist?" fragte eindringlich das Heidi weiter. "Ja, ja, will's Gott, noch vorher, dass ich wieder an mein Spinnrad kann. Ich meinte schon heute, ich wolle es probieren, morgen wird's dann schon wieder gehen", sagte die Grossmutter in zuversichtlicher Weise, denn sie hatte schon gemerkt, dass das Kind erschrocken war. Ihre Worte beruhigten das Heidi, dem es sehr angst gewesen war, denn krank im Bett hatte es die Grossmutter noch nie getroffen. Es betrachtete sie jetzt ein wenig verwundert, dann sagte es: "In Frankfurt legen sie einen Schal an zum Spazierengehen. Hast du etwa gemeint, man muesse ihn anlegen, wenn man ins Bett geht, Grossmutter?" "Weisst du, Heidi", entgegnete sie, "ich nehme den Schal so um im Bett, dass ich nicht friere. Ich bin so froh darueber, die Decke ist ein wenig duenn." "Aber Grossmutter", fing das Heidi wieder an, "bei deinem Kopf geht es bergab, wo es ganz bergauf gehen sollte; so muss ein Bett nicht sein." "Ich weiss schon, Kind, ich spuere es auch wohl", und die Grossmutter suchte auf dem Kissen, das wie ein duennes Brett unter ihrem Kopfe lag, einen besseren Platz zu gewinnen. "Siehst du, das Kissen war nie besonders dick, und jetzt habe ich so viele Jahre darauf geschlafen, dass ich es ein wenig flachgelegen habe." "O haett ich nur in Frankfurt die Klara gefragt, ob ich nicht mein Bett mitnehmen koenne", sagte jetzt das Heidi. "Da hatte es drei grosse, dicke Kissen aufeinander, dass ich gar nicht schlafen konnte und immer weiter herunterrutschte, bis wo es flach war, und dann musste ich wieder hinauf, weil man dort so schlafen muss. Koenntest du so schlafen, Grossmutter?" "Ja freilich, das macht warm, und man bekommt den Atem so gut, wenn man so hoch liegen kann mit dem Kopf", sagte die Grossmutter, ein wenig muehsam ihren Kopf aufrichtend, so wie um eine hoehere Stelle zu finden. "Aber wir wollen jetzt nicht von dem reden, ich habe ja dem lieben Gott fuer so vieles zu danken, was andere Alte und Kranke nicht haben. Schon das gute Broetchen, das ich immer bekomme, und das schoene, warme Tuch hier und dass du so zu mir kommst, Heidi. Willst du mir auch wieder etwas lesen heute?" Das Heidi lief hinaus und holte das alte Liederbuch herbei. Nun suchte es ein schoenes Lied nach dem andern, denn es kannte sie jetzt wohl, und es freute sich selbst, das alles wieder zu hoeren, es hatte ja seit vielen Tagen die Verse alle, die ihm lieb waren, nicht mehr gehoert. Die Grossmutter lag mit gefalteten Haenden da, und auf ihrem Gesichte, das erst so bekuemmert ausgesehen hatte, lag jetzt ein so freudiges Laecheln, als waere ihr eben ein grosses Glueck zuteil geworden. Das Heidi hielt auf einmal inne. "Grossmutter, bist du schon gesund geworden?" fragte es. "Es ist mir wohl, Heidi, es ist mir wohl geworden darueber. Lies es noch fertig, willst du?" Das Kind las sein Lied zu Ende, und als die letzten Worte kamen: "Wird mein Auge dunkler, trueber, Dann erleuchte meinen Geist, Dass ich froehlich zieh' hinueber, Wie man nach der Heimat reist", da wiederholte sie die Grossmutter und dann noch einmal und noch einmal, und auf ihrem Gesicht lag jetzt eine grosse freudige Erwartung. Dem Heidi wurde so wohl dabei. Der ganze sonnige Tag seiner Heimkehr stieg vor ihm auf, und voller Freude rief es aus: "Grossmutter, ich weiss schon, wie es ist, wenn man nach der Heimat reist." Sie antwortete nichts, aber sie hatte die Worte wohl vernommen, und der Ausdruck, der dem Heidi so wohl getan hatte, blieb auf ihrem Gesicht. Nach einer Weile sagte das Kind wieder: "Jetzt wird's dunkel, Grossmutter, ich muss heim; aber ich bin so froh, dass es dir jetzt wieder wohl ist." Die Grossmutter nahm die Hand des Kindes in die ihrige und hielt sie fest; dann sagte sie: "Ja, ich bin auch wieder so froh; wenn ich auch noch liegen bleiben muss, so ist es mir doch wohl. Siehst du, das weiss niemand, der es nicht erfahren hat, wie das ist, wenn man viele, viele Tage so ganz allein daliegt und hoert kein Wort von einem andern Menschen und kann nichts sehen, nicht einen einzigen Sonnenstrahl. Dann kommen so schwere Gedanken ueber einen, dass man manchmal meint, es koenne nie mehr Tag werden und man koenne nicht mehr weiter. Aber wenn man dann einmal wieder die Worte hoert, die du mir vorgelesen hast, so ist es, wie wenn einem ein Licht davon aufgehen wuerde im Herzen, an dem man sich wieder freuen kann." Jetzt liess die Grossmutter die Hand des Kindes los, und nachdem es ihr gute Nacht gesagt, lief es in die Stube zurueck und zog den Peter eilig hinaus, denn es war unterdessen Nacht geworden. Aber draussen stand der Mond am Himmel und schien hell auf den weissen Schnee, dass es war, als wolle der Tag schon wieder angehen. Der Peter zog seinen Schlitten zurecht, setzte sich vorn darauf, das Heidi hinter ihn, und fort schossen sie die Alm hinunter, nicht anders, als waeren sie zwei Voegel, die durch die Luefte sausen. Als spaeter das Heidi auf seinem schoenen, hohen Heubette hinter dem Ofen lag, da kam ihm die Grossmutter wieder in den Sinn, wie sie so schlecht lag mit dem Kopfe, und dann musste es an alles denken, was sie gesagt hatte, und an das Licht, das ihr die Worte im Herzen anzuenden. Und es dachte: Wenn die Grossmutter nur alle Tage die Worte hoeren koennte, dann wuerde es ihr jeden Tag einmal wohl. Aber es wusste, nun konnte eine ganze Woche, oder vielleicht auch zwei, vergehen, ehe es wieder zu ihr hinauf durfte. Das kam dem Heidi so traurig vor, dass es immer staerker nachsinnen musste, was es nur machen koennte, dass die Grossmutter die Worte jeden Tag zu hoeren bekaeme. Auf einmal fiel ihm die Hilfe ein, und es war so froh darueber, dass es meinte, es koenne gar nicht erwarten, dass der Morgen wiederkomme und es seinen Plan ausfuehren koenne. Auf einmal setzte das Heidi sich wieder ganz gerade auf in seinem Bett, denn vor lauter Nachdenken hatte es ja sein Nachtgebet noch nicht zum lieben Gott hinaufgeschickt, und das wollte es doch nie mehr vergessen. Als es nun so recht von Herzen fuer sich und den Grossvater und die Grossmutter gebetet hatte, fiel es auf einmal in sein weiches Heu zurueck und schlief ganz fest und friedlich bis zum hellen Morgen. Der Winter dauert fort Am andern Tage kam der Peter gerade zur rechten Zeit in die Schule heruntergefahren. Sein Mittagessen hatte er in seinem Sack mitgebracht, denn da ging es so zu: Wenn um Mittag die Kinder im Doerfli nach Hause gingen, dann setzten sich die einzelnen Schueler, die weit weg wohnten, auf die Klassentische, stemmten die Fuesse fest auf die Baenke und breiteten auf den Knien die mitgebrachten Speisen aus, um so ihr Mittagsmahl zu halten. Bis um ein Uhr konnten sie sich daran vergnuegen, dann fing die Schule wieder an. Hatte der Peter einmal einen solchen Schultag mitgemacht, dann ging er am Schluss zum Oehi hinueber und machte seinen Besuch beim Heidi. Als er heute nach Schulschluss in die grosse Stube beim Oehi eintrat, schoss das Heidi gleich auf ihn zu, denn gerade auf ihn hatte es gewartet. "Peter, ich weiss etwas", rief es ihm entgegen. "Sag's", gab er zurueck. "Jetzt musst du lesen lernen", lautete die Nachricht. "Hab's schon getan", war die Antwort. "Ja, ja, Peter, so mein ich nicht", eiferte jetzt das Heidi. "Ich meine so, dass du es nachher kannst. "Kann nicht", bemerkte der Peter. "Das glaubt dir jetzt kein Mensch mehr und ich auch nicht", sagte das Heidi sehr entschieden. "Die Grossmama in Frankfurt hat schon gewusst, dass es nicht wahr ist, und sie hat mir gesagt, ich soll es nicht glauben." Der Peter staunte ueber diese Nachricht. "Ich will dich schon lesen lehren, ich weiss ganz gut, wie", fuhr das Heidi fort. "Du musst es jetzt einmal erlernen, und dann musst du alle Tage der Grossmutter ein Lied lesen oder zwei." "Das ist nichts", brummte der Peter. Dieser hartnaeckige Widerstand gegen etwas, das gut und recht war und dem Heidi so sehr am Herzen lag, brachte es in Aufregung. Mit blitzenden Augen stellte es sich jetzt vor den Buben hin und sagte bedrohlich: "Dann will ich dir schon sagen, was kommt, wenn du nie etwas lernen willst: Deine Mutter hat schon zweimal gesagt, du muessest auch nach Frankfurt, dass du allerhand lernest, und ich weiss schon, wo dort die Buben in die Schule gehen. Beim Ausfahren hat mir die Klara das furchtbar grosse Haus gezeigt. Aber dort gehen sie nicht nur, wenn sie Buben sind, sondern immerfort, wenn sie schon ganz grosse Herren sind, das habe ich selber gesehen. Und dann musst du nicht meinen, dass nur ein einziger Lehrer da ist wie bei uns, und ein so guter. Da gehen immer ganze Reihen, viele miteinander in das Haus hinein, und alle sehen ganz schwarz aus, wie wenn sie in die Kirche gingen, und haben so hohe schwarze Huete auf den Koepfen" - und das Heidi gab das Mass von den Hueten an vom Boden auf. Dem Peter fuhr ein Schauder den Ruecken hinauf. "Und dann musst du dort hinein unter alle die Herren", fuhr das Heidi mit Eifer fort, "und wenn es dann an dich kommt, so kannst du gar nicht lesen und machst noch Fehler beim Buchstabieren. Dann kannst du nur sehen, wie dich die Herren ausspotten, das ist dann noch viel aerger als die Tinette, und du solltest nur wissen, wie es ist, wenn diese spottet." "So will ich", sagte der Peter halb klaeglich, halb aergerlich. Im Augenblick war das Heidi besaenftigt. "So, das ist recht, dann wollen wir gleich anfangen", sagte es erfreut, und geschaeftig zog es den Peter an den Tisch hin und holte das noetige Werkzeug herbei. In dem grossen Paket der Klara hatte sich auch ein Buechlein befunden, das dem Heidi wohlgefiel, und schon gestern nacht war es ihm in den Sinn gekommen, das koenne es gut zu dem Unterricht fuer den Peter gebrauchen, denn das war ein Abc-Buechlein mit Spruechen. Jetzt sassen die beiden am Tisch, die Koepfe ueber das kleine Buch gebeugt, und die Lehrstunde konnte beginnen. Der Peter musste den ersten Spruch buchstabieren und dann wieder und dann noch einmal, denn das Heidi wollte die Sache sauber und gelaeufig haben. Endlich sagte es: "Du kannst's immer noch nicht, aber ich will dir ihn jetzt einmal hintereinander lesen; wenn du weisst, wie's heissen muss, kannst du's dann besser zusammenbuchstabieren." Und das Heidi las: "Geht heut das A B C noch nicht, Kommst morgen du vors Schulgericht." "Ich geh nicht", sagte der Peter stoerrisch. "Wohin?" fragte das Heidi. "Vor das Gericht", war die Antwort. "So mach, dass du einmal die drei Buchstaben kennst, dann musst du ja nicht gehen", bewies ihm das Heidi. Jetzt setzte der Peter noch einmal an und repetierte beharrlich die drei Buchstaben so lange fort, bis das Heidi sagte: "Jetzt kannst du die drei." Da es aber nun bemerkt hatte, welch eine Wirkung der Spruch auf den Peter ausgeuebt hatte, wollte es gleich noch ein wenig vorarbeiten fuer die folgenden Lehrstunden. "Wart, ich will dir jetzt noch die anderen Sprueche lesen", fuhr es fort, "dann wirst du sehen, was alles noch kommen kann." Und es begann sehr klar und verstaendlich zu lesen: "D E F G muss fliessend sein, Sonst kommt ein Unglueck hintendrein. Vergessen H I K, Das Unglueck ist schon da. Wer am L M noch stottern kann, Zahlt eine Buss und schaemt sich dann. Es gibt etwas, und wuesstest's du, Du lerntest schnell N O P Q. Stehst du noch an bei R S T, Kommt etwas nach, das tut dir weh." Hier hielt das Heidi inne, denn der Peter war so maeuschenstill, dass es einmal sehen musste, was er mache. Alle die Drohungen und geheimen Schrecknisse hatten ihm so zugesetzt, dass er kein Glied mehr bewegte und schreckensvoll das Heidi anstarrte. Das ruehrte sogleich sein mitleidiges Herz, und troestend sagte es: "Du musst dich nicht fuerchten, Peter; komm du jetzt nur jeden Abend zu mir, und wenn du dann lernst wie heut, so kennst du allemal zuletzt die Buchstaben, und dann kommt ja das andere nicht. Aber nun musst du alle Tage kommen, nicht so, wie du in die Schule gehst; wenn es schon schneit, es tut dir ja nichts." Der Peter versprach, so zu tun, denn der erschreckende Eindruck hatte ihn ganz zahm und willig gemacht. Jetzt trat er seinen Heimweg an. Der Peter befolgte Heidis Vorschrift puenktlich, und jeden Abend wurden mit Eifer die folgenden Buchstaben einstudiert und der Spruch beherzigt. Oft sass auch der Grossvater in der Stube und hoerte dem Exerzitium zu, indem er vergnueglich sein Pfeifchen rauchte, waehrend es oefter in seinen Mundwinkeln zuckte, so, als ob ihn von Zeit zu Zeit eine grosse Heiterkeit uebernehmen wollte. Nach der grossen Anstrengung wurde der Peter dann meistens aufgefordert, noch dazubleiben und beim Abendessen mitzuhalten, was ihn alsbald fuer die ausgestandene Angst, die der heutige Spruch mit sich gebracht hatte, reichlich entschaedigte. So gingen die Wintertage dahin. Der Peter erschien regelmaessig und machte wirklich Fortschritte mit seinen Buchstaben. Mit den Spruechen hatte er aber taeglich zu fechten. Man war jetzt beim U angelangt. Als das Heidi den Spruch las: "Wer noch das U in V verdreht, Kommt dahin, wo er nicht gern geht", da knurrte der Peter: "Ja, wenn ich ginge!" Aber er lernte doch tuechtig zu, so, als stehe er unter dem Eindruck, es koennte ihn doch heimlich einer beim Kragen nehmen und dorthin bringen, wohin er nicht gern ginge. Am folgenden Abend las das Heidi: "Ist dir das W noch nicht bekannt, Schau nach dem Ruetlein an der Wand." Da guckte der Peter hin und sagte hoehnisch: "Hat keins." "Ja, ja, aber weisst du, was der Grossvater im Kasten hat?" fragte das Heidi. "Einen Stecken, fast so dick wie mein Arm, und wenn man ihn herausnimmt, so kann man nur sagen: 'Schau nach dem Stecken an der Wand!'" Der Peter kannte den dicken Haselstock. Augenblicklich beugte er sich ueber sein W und suchte es zu erfassen. Am anderen Tage hiess es: "Willst du noch das X vergessen, Kriegst du heute nix zu essen." Da schaute der Peter forschend zu dem Schrank hinueber, wo das Brot und der Kaese darinlagen, und sagte aergerlich: "Ich habe ja gar nicht gesagt, dass ich das X vergessen wolle." "Es ist recht, wenn du das nicht vergessen willst, dann koennen wir auch gleich noch einen lernen", schlug das Heidi vor, "dann hast du morgen nur noch einen einzigen Buchstaben." Der Peter war nicht einverstanden. Aber schon las das Heidi: "Machst du noch Halt beim Y, Kommst du mit Hohn und Spott davon." Da stiegen vor Peters Augen alle die Herren in Frankfurt auf mit den hohen schwarzen Hueten auf den Koepfen und Hohn und Spott in den Gesichtern. Augenblicklich warf er sich auf das Ypsilon und liess es nicht wieder los, bis er es so gut kannte, dass er die Augen zutun konnte und doch noch wusste, wie es aussah. Am Tag darauf kam der Peter schon ein wenig hoch beim Heidi an, denn da war ja nur noch ein einziger Buchstabe zu verarbeiten, und als ihm das Heidi gleich den Spruch las: "Wer zoegernd noch beim Z bleibt stehn, Muss zu den Hottentotten gehn!", da hoehnte der Peter: "Ja, wenn kein Mensch weiss, wo die sind!" "Freilich, Peter, das weiss der Grossvater schon", versicherte das Heidi. "Wart nur, ich will ihn geschwind fragen, wo sie sind, er ist nur beim Herrn Pfarrer drueben." Und schon war das Heidi aufgesprungen und wollte zur Tuer hinaus. "Wart", schrie jetzt der Peter in voller Angst, denn schon sah er in seiner Einbildung den Almoehi mitsamt dem Herrn Pfarrer daherkommen und wie ihn die zwei nun gleich anpacken und den Hottentotten uebersenden wuerden, denn er hatte ja wirklich nicht mehr gewusst, wie das Z hiess. Sein Angstgeschrei liess das Heidi stillstehen. "Was hast du denn?" fragte es verwundert. "Nichts! Komm zurueck! Ich will lernen", stiess der Peter mit Unterbrechungen hervor. Aber das Heidi haette jetzt selbst gern gewusst, wo die Hottentotten seien, und es wollte durchaus den Grossvater fragen. Der Peter schrie ihm aber so verzweifelt nach, dass es nachgab und zurueckkam. Nun musste er aber auch etwas tun dafuer. Nicht nur wurde das Z so manchmal wiederholt, dass der Buchstabe fuer alle Zeit in seinem Gedaechtnis festsitzen musste, sondern das Heidi ging gleich noch zum Syllabieren ueber, und an dem Abend lernte der Peter so viel, dass er um einen ganzen Ruck vorwaerts kam. So ging es weiter Tag fuer Tag. Der Schnee war wieder weich geworden, und darueberhin schneite es neuerdings einen Tag um den andern, so dass das Heidi wohl drei Wochen lang gar nicht zur Grossmutter hinauf konnte. Um so eifriger war es in seiner Arbeit an dem Peter, dass er es ersetzen koenne beim Liederlesen. So kam eines Abends der Peter heim vom Heidi, trat in die Stube ein und sagte: "Ich kann's!" "Was kannst du, Peterli?" fragte erwartungsvoll die Mutter. "Das Lesen", antwortete er. "Ist auch das moeglich! Hast du's gehoert, Grossmutter?" rief die Brigitte aus. Die Grossmutter hatte es gehoert und musste sich auch sehr verwundern, wie das zugegangen sei. "Ich muss jetzt ein Lied lesen, das Heidi hat's gesagt", berichtete der Peter weiter. Die Mutter holte hurtig das Buch herunter, und die Grossmutter freute sich, sie hatte so lange kein gutes Wort gehoert. Der Peter setzte sich an den Tisch hin und begann zu lesen. Seine Mutter sass aufhorchend neben ihm; nach jedem Verse musste sie mit Bewunderung sagen: "Wer haette es auch denken koennen!" Auch die Grossmutter folgte mit Spannung einem Verse nach dem andern, sie sagte aber nichts dazu. Am Tage nach diesem Ereignis traf es sich, dass in der Schule in Peters Klasse eine Leseuebung stattfand. Als die Reihe an den Peter kommen sollte, sagte der Lehrer: "Peter, muss man dich wieder uebergehen, wie immer, oder willst du einmal wieder - ich will nicht sagen lesen, ich will sagen: versuchen, an einer Linie herumzustottern?" Der Peter fing an und las hintereinander drei Linien, ohne abzusetzen. Der Lehrer legte sein Buch weg. Mit stummem Erstaunen blickte er auf den Peter, so, als habe er desgleichen noch nie gesehen. Endlich sprach er: "Peter, an dir ist ein Wunder geschehen! Solange ich mit unbeschreiblicher Geduld an dir gearbeitet habe, warst du nicht imstande, auch nur das Buchstabieren richtig zu erfassen. Nun ich, obwohl ungern, die Arbeit an dir als nutzlos aufgegeben habe, geschieht es, dass du erscheinst und hast nicht nur das Buchstabieren, sondern ein ordentliches, sogar deutliches Lesen erlernt. Woher koennen zu unserer Zeit denn noch solche Wunder kommen, Peter?" "Vom Heidi", antwortete dieser. Hoechst verwundert schaute der Lehrer nach dem Heidi hin, das ganz harmlos auf seiner Bank sass, so dass nichts Besonderes an ihm zu sehen war. Er fuhr fort: "Ich habe ueberhaupt eine Veraenderung an dir bemerkt, Peter. Waehrend du frueher oftmals die ganze Woche, ja mehrere Wochen hintereinander in der Schule gefehlt hast, so bist du in der letzten Zeit nicht einen Tag ausgeblieben. Woher kann eine solche Umwandlung zum Guten in dich gekommen sein?" "Vom Oehi", war die Antwort. Mit immer groesserem Erstaunen blickte der Lehrer vom Peter auf das Heidi und von diesem wieder auf den Peter zurueck. "Wir wollen es noch einmal versuchen", sagte er dann behutsam, und noch einmal musste der Peter an drei Linien seine Kenntnisse erproben. Es war richtig, er hatte lesen gelernt. Sobald die Schule zu Ende war, eilte der Lehrer zum Herrn Pfarrer hinueber, um ihm mitzuteilen, was vorgefallen war und in welcher erfreulichen Weise der Oehi und das Heidi in der Gemeinde wirkten. Jeden Abend las jetzt der Peter daheim ein Lied vor. So weit gehorchte er dem Heidi, weiter aber nicht, ein zweites unternahm er nie; die Grossmutter forderte ihn aber auch nie dazu auf. Die Mutter Brigitte musste sich noch taeglich verwundern, dass der Peter dieses Ziel erreicht hatte, und an manchen Abenden, wenn die Vorlesung vorbei war und der Vorleser in seinem Bett lag, musste sie wieder zur Grossmutter sagen: "Man kann sich doch nicht genug freuen, dass der Peterli das Lesen so schoen erlernt hat. Jetzt kann man gar nicht wissen, was noch aus ihm werden kann." Da antwortete einmal die Grossmutter: "Ja, es ist so gut fuer ihn, dass er etwas gelernt hat; aber ich will doch herzlich froh sein, wenn der liebe Gott nun bald den Fruehling schickt, dass das Heidi auch wieder heraufkommen kann. Es ist doch, wie wenn es ganz andere Lieder laese. Es fehlt so manchmal etwas in den Versen, wenn sie der Peter liest, und ich muss es dann suchen, und dann komme ich nicht mehr nach mit den Gedanken, und der Eindruck kommt mir nicht ins Herz, wie wenn mir das Heidi die Worte liest." Das kam aber daher, weil der Peter sich beim Lesen ein wenig einrichtete, dass er's nicht zu unbequem hatte. Wenn ein Wort kam, das gar zu lang war oder sonst schlimm aussah, so liess er es lieber ganz aus, denn er dachte, um drei oder vier Worte in einem Verse werde es der Grossmutter wohl gleich sein, es kommen ja dann noch viele. So kam es, dass es fast keine Hauptwoerter mehr hatte in den Liedern, die der Peter vorlas. Die fernen Freunde regen sich Der Mai war gekommen. Von allen Hoehen stroemten die vollen Fruehlingsbaeche ins Tal herab. Ein warmer, lichter Sonnenschein lag auf der Alp. Sie war wieder gruen geworden; der letzte Schnee war weggeschmolzen, und von den lockenden Sonnenstrahlen geweckt, guckten schon die ersten Bluemchen mit ihren hellen Augen aus dem frischen Grase heraus. Droben rauschte der froehliche Fruehlingswind durch die Tannen und schuettelte ihnen die alten, dunkeln Nadeln fort, dass die jungen, hellgruenen herauskommen und die Baeume herrlich schmuecken konnten. Hoch oben schwang wieder der alte Raubvogel seine Fluegel in den blauen Lueften, und rings um die Almhuette lag der goldene Sonnenschein warm am Boden und trocknete die letzten feuchten Stellen auf, dass man wieder hinsetzen konnte, wo man nur wollte. Das Heidi war wieder auf der Alp. Es sprang dahin und dorthin und wusste gar nicht, wo es am schoensten war. Jetzt musste es dem Winde lauschen, wie er tief und geheimnisvoll oben von den Felsen heruntersauste, immer naeher und immer maechtiger, und jetzt schoss er in die Tannen und ruettelte und schuettelte sie, und es war, als jauchze er vor Vergnuegen, und das Heidi musste auch aufjauchzen und wurde dabei hin und her geblasen wie ein Blaettlein. Dann lief es wieder auf das sonnige Plaetzchen vor der Huette und setzte sich auf den Boden und guckte in das kurze Gras hinein, zu entdecken, wie viele kleine Blumenkelche sich oeffnen wollten oder schon offen waren. Da huepften und krochen und tanzten auch so viele lustige Muecken und Kaeferchen in der Sonne herum und freuten sich, und das Heidi freute sich mit ihnen und sog den Fruehlingsduft, der aus dem frisch erschlossenen Boden emporstieg, in langen Zuegen ein und meinte, so schoen sei es noch nie auf der Alp gewesen. Den tausend kleinen Tierlein musste es so wohl sein wie ihm, denn es war gerade, als summten und saengen sie in heller Freude alle durcheinander: "Auf der Alp! Auf der Alp! Auf der Alp!" Vom Schopf hinter der Huette hervor ertoente es hie und da wie ein eifriges Klopfen und Saegen, und das Heidi lauschte auch einmal dorthin, denn das waren die alten, heimatlichen Toene, die es so gut kannte, die von Anfang an zum Leben auf der Alp gehoert hatten. Jetzt musste es aufspringen und auch einmal dorthin rennen, denn es musste doch wissen, was beim Grossvater vorging. Vor der Schopftuer stand schon fix und fertig ein schoener neuer Stuhl, und am zweiten arbeitete der Grossvater mit geschickter Hand. "Oh, ich weiss schon, was das gibt", rief das Heidi in Freuden aus. "Das ist noetig, wenn sie von Frankfurt kommen. Der ist fuer die Grossmama und der, den du jetzt machst, fuer die Klara, und dann... dann muss noch einer sein", fuhr das Heidi zoegernd fort, "oder glaubst du nicht, Grossvater, dass Fraeulein Rottenmeier auch mitkommt?" "Das kann ich nun nicht sagen", meinte der Grossvater, "aber es ist sicherer, einen Stuhl bereit zu haben, dass wir sie zum Sitzen einladen koennen, wenn sie kommt." Das Heidi schaute nachdenklich auf die hoelzernen Stuehlchen ohne Lehne hin und machte still seine Betrachtungen darueber, wie Fraeulein Rottenmeier und ein solches Stuehlchen zusammenpassen wuerden. Nach einer Weile sagte es, bedenklich den Kopf schuettelnd: "Grossvater, ich glaube nicht, dass sie darauf sitzt." "Dann laden wir sie auf das Kanapee mit dem schoenen gruenen Rasenueberzug ein", entgegnete ruhig der Grossvater. Als das Heidi noch nachsann, wo das schoene Kanapee mit dem gruenen Rasenueberzug sei, erscholl ploetzlich von oben her ein Pfeifen und Rufen und Rutenschwingen durch die Luft, dass das Heidi sofort wusste, woran es war. Es schoss hinaus und war augenblicklich von den herabspringenden Geissen umringt. Denen musste es wohl sein, wie es dem Heidi war, wieder auf der Alp zu sein, denn sie machten so hohe Spruenge und meckerten so lebenslustig wie noch nie, und das Heidi wurde dahin und dorthin gedraengt, denn jede wollte ihm zunaechst kommen und ihre Freude bei ihm auslassen. Aber der Peter stiess sie alle weg, eine rechts und die andere links, denn er hatte dem Heidi eine Botschaft zu ueberbringen. Als er zu ihm vorgedrungen war, hielt er ihm einen Brief entgegen. "Da!" sagte er, die weitere Erklaerung der Sache dem Heidi selbst ueberlassend. Es war sehr erstaunt. "Hast du denn auf der Weide einen Brief fuer mich bekommen?" fragte es voller Verwunderung. "Nein", war die Antwort. "Ja, wo hast du ihn denn genommen, Peter?" "Aus dem Brotsack." Das war richtig. Gestern abend hatte der Postbeamte im Doerfli ihm den Brief an das Heidi mitgegeben. Den hatte der Peter in den leeren Sack gelegt. Am Morgen hatte er seinen Kaese und sein Stueck Brot darauf gepackt und war ausgezogen. Den Oehi und das Heidi hatte er wohl gesehen, als er ihre Geissen abholte, aber erst als er um Mittag mit Brot und Kaese zu Ende war und noch die Krumen herausholen wollte, war der Brief wieder in seine Hand gekommen. Das Heidi las aufmerksam seine Adresse ab, dann sprang es zum Grossvater in den Schopf zurueck und streckte ihm in hoher Freude den Brief entgegen: "Von Frankfurt! Von der Klara! Willst du ihn gleich hoeren, Grossvater?" Das wollte dieser schon gern, und auch der Peter, der dem Heidi gefolgt war, schickte sich zum Zuhoeren an. Er stemmte sich mit dem Ruecken gegen den Tuerpfosten an, um einen festen Halt zu haben, denn so war es leichter, dem Heidi nachzukommen, wie es nun seinen Brief herunterlas: Liebes Heidi! Wir haben schon alles verpackt, und in zwei oder drei Tagen wollen wir abreisen, sobald Papa auch abreist, aber nicht mit uns, er muss zuerst noch nach Paris reisen. Alle Tage kommt der Herr Doktor und ruft schon unter der Tuer: "Fort! Fort! Auf die Alp!" Er kann es gar nicht erwarten, dass wir gehen. Du solltest nur wissen, wie gern er selbst auf der Alp war! Den ganzen Winter ist er fast jeden Tag zu uns gekommen; dann sagte er immer, er komme zu mir, er muesse mir wieder erzaehlen! Dann setzte er sich zu mir hin und erzaehlte von allen Tagen, die er mit Dir und dem Grossvater auf der Alp zugebracht hat, und von den Bergen und den Blumen und von der Stille so hoch oben ueber allen Doerfern und Strassen und von der frischen, herrlichen Luft; und er sagte oft: "Dort oben muessen alle Menschen wieder gesund werden." Er ist auch selbst wieder so anders geworden, als er eine Zeitlang war, ganz jung und froehlich sieht er wieder aus. Oh, wie freu ich mich, das alles zu sehen und bei Dir auf der Alp zu sein und auch den Peter und die Geissen kennenzulernen! Erst muss ich in Ragaz etwa sechs Wochen lang eine Kur machen, das hat der Herr Doktor befohlen, und dann sollen wir im Doerfli wohnen nachher, und ich soll dann an schoenen Tagen auf die Alp hinaufgefahren werden in meinem Stuhl und den Tag ueber bei Dir bleiben. Die Grossmama kommt mit und bleibt bei mir; sie freut sich auch, zu Dir hinaufzukommen. Aber denk, Fraeulein Rottenmeier will nicht mit. Fast jeden Tag sagt die Grossmama einmal: "Wie ist's mit der Schweizerreise, werte Rottenmeier? Genieren Sie sich nicht, wenn Sie Lust haben mitzukommen." Aber sie dankt immer furchtbar hoeflich und sagt, sie wolle nicht unbescheiden sein. Aber ich weiss schon, woran sie denkt: Der Sebastian hat eine so erschreckliche Beschreibung von der Alp gemacht, als er von Deinem Begleit nach Hause kam, wie furchtbare Felsen dort herunterstarren und man ueberall in Kluefte und Abgruende niederstuerzen koenne und dass es so steil hinaufgehe, dass man auf jedem Tritt befuerchten muesse, wieder ruecklings herunterzukommen, und dass wohl Ziegen, aber keine Menschen ohne Lebensgefahr da hinaufklettern koennen. Sie hat sehr geschaudert vor dieser Beschreibung, und seither schwaermt sie nicht mehr fuer Schweizerreisen wie frueher. Der Schrecken ist auch in die Tinette gefahren, sie will auch nicht mit. So kommen wir allein, Grossmama und ich; nur Sebastian muss uns bis nach Ragaz begleiten, dann kann er wieder heimkehren. Ich kann es fast nicht erwarten, bis ich zu Dir kommen kann. Lebe wohl, liebes Heidi, die Grossmama laesst Dich tausendmal gruessen. Deine treue Freundin Klara. Als der Peter diese Worte vernommen hatte, sprang er von dem Tuerpfosten weg und hieb mit seiner Rute nach rechts und links so ruecksichtslos und wuetend drein, dass die Geissen alle im hoechsten Schrecken die Flucht ergriffen und den Berg hinunterrannten in so masslosen Spruengen, wie sie noch selten gemacht hatten. Hinter ihnen her stuermte der Peter und hieb mit seiner Rute in die Luft hinein, als habe er an einem unsichtbaren Feinde einen unerhoerten Grimm auszulassen. Dieser Feind war die Aussicht auf die Ankunft der Gaeste aus Frankfurt, welche den Peter so sehr erbittert hatte. Das Heidi war so voller Glueck und Freude, dass es durchaus am andern Tage der Grossmutter einen Besuch machen und ihr alles erzaehlen musste, wer nun von Frankfurt kommen und besonders auch, wer nicht kommen werde. Das musste fuer die Grossmutter ja von der groessten Wichtigkeit sein, denn sie kannte die Personen alle so genau und lebte mit dem Heidi alles, was zu seinem Leben gehoerte, immerfort mit der tiefsten Teilnahme durch. Es zog auch beizeiten aus am folgenden Nachmittag, denn jetzt konnte es seine Besuche schon wieder allein unternehmen: Die Sonne schien ja wieder hell und blieb lange am Himmel stehen, und ueber den trockenen Boden hin war es ein herrliches Bergabrennen, waehrend der lustige Maiwind hinterhersauste und das Heidi noch ein wenig schneller hinunterjagte. Die Grossmutter lag nicht mehr zu Bett. Sie sass wieder in ihrer Ecke und spann. Es lag aber ein Ausdruck auf ihrem Gesicht, als habe sie es mit schweren Gedanken zu tun. Das war so seit gestern abend, und die ganze Nacht durch hatten diese Gedanken sie verfolgt und nicht schlafen lassen. Der Peter war in seinem grossen Grimm heimgekommen, und sie hatte aus seinen abgebrochenen Ausrufungen entnehmen koennen, dass eine Schar von Leuten aus Frankfurt nach der Almhuette hinaufkommen werde. Was dann weiter geschehen sollte, wusste er nicht, aber die Grossmutter musste weiterdenken, und das waren gerade die Gedanken, die sie aengstigten und ihr den Schlaf genommen hatten. Jetzt sprang das Heidi herein und gerade auf die Grossmutter zu, setzte sich auf sein Schemelchen, das immer dastand, und erzaehlte ihr mit einem solchen Eifer alles, was es wusste, dass es selbst noch immer mehr davon erfuellt wurde. Aber auf einmal hoerte es mitten in seinem Satze auf und fragte besorgt: "Was hast du, Grossmutter, freut dich alles gar kein bisschen?" "Doch, doch, Heidi, es freut mich schon fuer dich, weil du eine so grosse Freude daran haben kannst", antwortete sie und suchte ein wenig froehlich auszusehen. "Aber Grossmutter, ich kann ganz gut sehen, dass es dir angst ist. Meinst du etwa, Fraeulein Rottenmeier komme doch noch mit?" fragte das Heidi, selber etwas aengstlich. "Nein, nein! Es ist nichts, es ist nichts!" beruhigte die Grossmutter. "Gib mir ein wenig deine Hand, Heidi, dass ich recht spueren kann, dass du noch da bist. Es wird ja doch zu deinem Besten sein, wenn ich es auch fast nicht ueberleben kann." "Ich will nichts von dem Besten, wenn du es fast nicht ueberleben kannst, Grossmutter", sagte das Heidi so bestimmt, dass dieser mit einemmal eine neue Befuerchtung aufstieg. Sie musste ja annehmen, dass die Leute aus Frankfurt kaemen, das Heidi wiederzuholen, denn da es nun wieder gesund war, konnte es ja nicht anders sein, als dass sie es wiederhaben wollten. Das war die grosse Angst der Grossmutter. Aber sie fuehlte jetzt, dass sie es vor dem Heidi nicht merken lassen sollte. Es war ja so mitleidig mit ihr, und da koennte es sich vielleicht widersetzen und nicht gehen wollen, und das durfte nicht sein. Sie suchte nach einer Hilfe, aber nicht lange, denn sie kannte nur eine. "Ich weiss etwas, Heidi", sagte sie nun, "das macht mir wohl und bringt mir die guten Gedanken wieder. Lies mir das Lied, wo es gleich im Anfang heisst: 'Gott will's machen.'" Das Heidi wusste jetzt so gut Bescheid in dem alten Liederbuch, dass es auf der Stelle fand, was die Grossmutter begehrte, und es las mit hellem Ton: "Gott will's machen, Dass die Sachen Gehen, wie es heilsam ist. Lass die Wellen Immer schwellen, Denk, wie du so sicher bist!" "Ja, ja, das ist's grad, was ich hoeren musste", sagte die Grossmutter erleichtert, und der Ausdruck der Bekuemmernis verschwand aus ihrem Gesichte. Das Heidi schaute sie nachdenklich an, dann sagte es: "Gelt, Grossmutter, 'heilsam' heisst, wenn alles heilt, dass es einem wieder ganz wohl wird?" "Ja, ja, so wird's sein", nickte bejahend die Grossmutter, "und weil der liebe Gott es so machen will, so kann man ja sicher sein, wie's auch kommt. Lies es noch einmal, Heidi, dass wir's so recht behalten koennen und nicht wieder vergessen." Das Heidi las seinen Vers gleich noch einmal und dann noch ein paarmal, denn die Sicherheit gefiel ihm auch so gut. Als so der Abend herangekommen war und das Heidi wieder den Berg hinaufwanderte, da kam ueber ihm ein Sternlein nach dem andern heraus und funkelte und leuchtete zu ihm herunter, und es war gerade, als wollte jedes wieder neu ihm eine grosse Freude ins Herz hineinstrahlen, und alle Augenblicke musste das Heidi wieder stille stehen und hinaufschauen, und wie sie alle ringsum am Himmel in immer hellerer Freude herunterblickten, da musste es ganz laut hinaufrufen: "Ja, ich weiss schon, weil der liebe Gott alles so gut weiss, wie es heilsam ist, kann man eine solche Freude haben und ganz sicher sein!" Und die Sternlein alle schimmerten und glaenzten und winkten dem Heidi zu mit ihren Augen fort und fort, bis es oben bei der Huette angekommen war, wo der Grossvater stand und auch zu den Sternen hinaufschaute, denn so schoen hatten sie lange nicht mehr heruntergestrahlt. Nicht nur die Naechte, auch die Tage dieses Maimonats waren so hell und klar wie seit vielen Jahren nicht mehr, und oefters schaute der Grossvater am Morgen mit Erstaunen zu, wie die Sonne mit derselben Pracht am wolkenlosen Himmel wieder aufstieg, wie sie niedergegangen war, und er musste wiederholt sagen: "Das ist ein apartes Sonnenjahr; das gibt besondere Kraft in die Kraeuter. Pass auf, Anfuehrer, dass deine Springer nicht zu uebermuetig werden vom guten Futter!" Dann schwang der Peter ganz kuehn seine Rute in der Luft, und auf seinem Gesicht stand deutlich die Antwort geschrieben: "Mit denen will ich's schon aufnehmen." So verfloss der gruenende Mai, und es kam der Juni mit seiner noch waermeren Sonne und den langen, langen lichten Tagen, die alle Bluemlein auf der ganzen Alp herauslockten, dass sie glaenzten und gluehten ringsum und die ganze Luft weit umher mit ihrem suessen Duft erfuellten. Schon ging auch dieser Monat seinem Ende entgegen, als das Heidi eines Morgens aus der Huette herausgesprungen kam, wo es seine Morgengeschaefte schon vollendet hatte. Es wollte schnell einmal unter die Tannen hinaus und dann ein wenig weiter hinauf, um zu sehen, ob der ganze grosse Busch von dem Tausendgueldenkraut offenstehe, denn die Bluemchen waren so entzueckend schoen in der durchscheinenden Sonne. Aber als das Heidi um die Huette herumrennen wollte, schrie es auf einmal aus allen Kraeften so gewaltig auf, dass der Oehi aus dem Schopf heraustrat, denn das war etwas Ungewoehnliches. "Grossvater! Grossvater!" rief das Kind wie ausser sich. "Komm hierher! Komm hierher! Sieh! Sieh!" Der Grossvater erschien auf den Ruf, und sein Blick folgte dem ausgestreckten Arm des aufgeregten Kindes. Die Alm herauf schlaengelte sich ein seltsamer Zug, wie noch nie einer hier gesehen worden war. Zuerst kamen zwei Maenner mit einem offenen Tragsessel, darauf sass ein junges Maedchen, in viele Tuecher eingehuellt. Dann kam ein Pferd, darauf sass eine stattliche Dame, die sehr lebhaft nach allen Seiten blickte und sich eifrig mit dem jungen Fuehrer unterhielt, der ihr zur Seite ging. Dann kam ein leerer Rollstuhl, von einem andern jungen Burschen gestossen, denn die Kranke, die hineingehoerte, wurde den steilen Berg hinan auf dem Tragsessel sicherer transportiert. Zuletzt kam ein Traeger, der hatte auf sein Reff so viele Decken, Tuecher und Pelze uebereinandergehaeuft, dass sie oben noch hoch ueber seinen Kopf hinausragten. "Sie sind's! Sie sind's!" schrie das Heidi und huepfte hoch auf vor Freude. Sie waren es wirklich. Nun kamen sie naeher und naeher, und nun waren sie da. Die Traeger setzten ihren Sessel auf die Erde, das Heidi sprang herzu, und die beiden Kinder begruessten sich mit ungeheurer Freude. Jetzt war auch die Grossmama oben und stieg von ihrem Pferde herunter. Das Heidi rannte zu ihr hin und wurde mit grosser Zaertlichkeit begruesst. Dann wandte sich die Grossmama zum Almoehi um, der sich genaht hatte, um sie zu bewillkommnen. Da war gar keine Steifheit in der Begruessung, denn sie kannte ihn und er sie so gut, als haetten sie schon lange Zeit miteinander verkehrt. Gleich nach den ersten Worten der Begruessung sagte auch die Grossmama mit grosser Lebhaftigkeit: "Mein lieber Oehi, was haben Sie fuer einen Herrensitz! Wer haette das gedacht! Mancher Koenig koennte Sie darum beneiden! Wie sieht auch mein Heidi aus! Wie ein Monatsroeschen!" fuhr sie fort, indem sie das Kind an sich zog und ihm die frischen Backen streichelte. "Was ist das fuer eine Herrlichkeit um und um! Was sagst du, Klaerchen, mein Kind, was sagst du!" Klara schaute in voelligem Entzuecken um sich. So etwas hatte sie ja in ihrem ganzen Leben nicht gekannt, nicht geahnt. "Oh, wie schoen ist's da! Oh, wie schoen ist's da!" rief sie einmal ums andere aus. "So hab ich mir's nicht gedacht. O Grossmama, hier moecht ich bleiben!" Der Oehi hatte derweilen den Rollstuhl herbeigerueckt und einige der Tuecher vom Reff heruntergenommen und hineingebettet. Jetzt trat er an den Tragsessel heran. "Wenn wir das Toechterchen nun in den gewohnten Stuhl setzten, so waere es besser daran, der Reisesessel ist ein wenig hart", sagte er, wartete aber nicht darauf, ob da jemand Hand anlegen werde, sondern hob sofort die kranke Klara mit seinen starken Armen sachte aus dem Strohsessel und setzte sie mit der groessten Sorgfalt auf den weichen Sitz hin. Dann legte er die Tuecher ueber die Knie zurecht und bettete ihr die Fuesse so bequem auf die Polster, als haette der Oehi sein Leben lang nichts getan, als Menschen mit kranken Gliedern gepflegt. Die Grossmama hatte im hoechsten Erstaunen zugeschaut. "Mein lieber Oehi", brach sie jetzt aus, "wenn ich wuesste, wo Sie die Krankenpflege erlernt haben, noch heute schickte ich alle Waerterinnen, die ich kenne, dahin, dass sie dasselbe tun. Wie ist denn so etwas moeglich?" Der Oehi laechelte ein wenig. "Es kommt mehr vom Probieren als vom Studieren", entgegnete er, aber auf seinem Gesichte lag trotz des Laechelns ein Zug der Traurigkeit. Vor seinen Augen war aus laengst vergangener Zeit das leidende Antlitz eines Mannes aufgestiegen, der so in einen Stuhl gebettet dasass und so verstuemmelt war, dass er kaum ein Glied mehr gebrauchen konnte. Das war sein Hauptmann, den er in Sizilien nach dem heissen Gefechte so an der Erde gefunden und weggetragen hatte und der ihn nachher als einzigen Pfleger um sich litt und nicht mehr von sich gelassen hatte, bis seine schweren Leiden zu Ende waren. Der Oehi sah seinen Kranken wieder vor sich; es war ihm nicht anders, als ob es jetzt seine Sache sei, die kranke Klara zu pflegen und ihr alle die erleichternden Dienstleistungen zu erweisen, die er so wohl kannte. Der Himmel lag dunkelblau und wolkenlos ueber der Huette und ueber den Tannen und weit ueber die hohen Felsen weg, die grau schimmernd hineinragten. Klara konnte sich gar nicht genug umschauen, sie war ganz voller Entzuecken ueber alles, was sie sah. "O Heidi, wenn ich nur mit dir herumgehen koennte, hier rund um die Huette und unter die Tannen!" rief sie sehnsuechtig aus. "Wenn ich doch alles mit dir ansehen koennte, was ich schon so lange kenne und doch noch nie gesehen habe!" Jetzt machte das Heidi eine grosse Anstrengung, und richtig, es gelang, der Stuhl rollte ganz schoen ueber den trockenen Grasboden hin bis unter die Tannen. Hier wurde haltgemacht. So etwas hatte ja Klara wieder in ihrem Leben nie gesehen, wie die hohen, alten Tannen waren, deren lange, breite Aeste bis auf den Boden herabwuchsen und da immer groesser und dicker wurden. Auch die Grossmama, die den Kindern gefolgt war, stand in hoher Bewunderung da. Sie wusste nicht, was das schoenste an den uralten Baeumen war, ob die vollen, rauschenden Wipfel hoch oben im Blau oder die geraden, festen Saeulenstaemme, die mit ihren gewaltigen Aesten von so vielen, vielen Jahren erzaehlten, die sie schon da oben gestanden und auf das Tal niedergeschaut hatten, wo die Menschen kamen und gingen und immer wieder alles anders wurde, und sie waren immer dieselben geblieben. Unterdessen hatte das Heidi den Rollstuhl vor den Geissenstall hingeschoben und hatte da die kleine Tuer weit aufgerissen, damit Klara auch alles recht sehen koenne. Da war nun freilich fuer diesmal nicht sehr viel zu sehen, da die Bewohner nicht daheim waren. Ganz bedauerlich rief Klara zurueck: "O Grossmama, wenn ich doch nur Schwaenli und Baerli noch erwarten koennte und alle die anderen Geissen und den Peter! Die kann ich ja alle gar nicht sehen, wenn wir dann immer so frueh fort muessen, wie du gesagt hast; das ist so schade!" "Liebes Kind, jetzt erfreuen wir uns an all dem Schoenen, das da ist, und denken nicht daran, was noch fehlen koennte", berichtigte die Grossmama, dem Stuhle folgend, der nun wieder weitergeschoben wurde. "Oh, die Blumen!" schrie Klara wieder auf. "Ganze Buesche so feine, rote Bluemchen und alle die nickenden Blaugloeckchen! Oh, wenn ich doch heraus koennte und sie holen!" Das Heidi rannte augenblicklich hin und brachte einen grossen Strauss zurueck. "Aber das ist noch gar nichts, Klara", sagte es, die Blumen auf ihren Schoss legend. "Wenn du einmal mit uns auf die Weide hinaufkommst, dann wirst du erst etwas sehen! Auf einem Platz zusammen so viele, viele Buesche von dem roten Tausendgueldenkraut und noch viel, viel mehr blaue Glockenbluemchen als hier und so viele tausend von den hellen, gelben Weideroeschen, dass es ist wie lauter Gold, das am Boden glaenzt. Und dann sind erst noch die mit den grossen Blaettern, der Grossvater sagt, sie heissen Sonnenaugen, und dann sind noch die braunen, weisst du, mit den runden Koepfchen, die riechen so gut, und da ist es so schoen! Wenn man da sitzt, dann kann man gar nicht mehr aufstehen, so schoen ist es!" Heidis Augen funkelten vor Verlangen wiederzusehen, was es beschrieb, und Klara war wie angezuendet davon, und aus ihren sanften blauen Augen leuchtete ein voelliger Widerschein von Heidis feurigem Verlangen auf. "O Grossmama, kann ich wohl dahin kommen? Glaubst du, ich kann so hoch hinauf?" fragte sie sehnsuechtig. "Oh, wenn ich nur gehen koennte, Heidi, und so mit dir auf der Alp herumsteigen, ueberallhin!" "Ich will dich schon stossen", beruhigte sie das Heidi und nahm nun zum Zeichen, wie leicht das gehe, einen solchen Anlauf um die Ecke herum, dass der Stuhl fast den Berg hinuntergeflogen waere. Da stand aber der Grossvater in der Naehe und hielt ihn eben noch rechtzeitig auf in seinem Lauf. Waehrend der Besuch unter den Tannen stattgefunden hatte, war der Grossvater nicht muessig gewesen. Bei der Bank vor der Huette stand jetzt der Tisch und die noetigen Stuehle, und alles lag schon bereit, damit hier das schoene Mittagsmahl eingenommen werden konnte, das noch in der Huette drinnen im Kessel dampfte und an der grossen Gabel ueber den Gluten schmorte. Es waehrte aber gar nicht lange, so hatte der Grossvater alles auf den Tisch gesetzt, und froehlich sass nun die ganze Gesellschaft beim Mahle. Die Grossmama war in hellem Entzuecken ueber diesen Speisesaal, von dem aus man weit, weit hinab ins Tal und ueber alle Berge weg in den blauen Himmel hinein schauen konnte. Ein milder Wind faechelte den Tischgenossen liebliche Kuehlung zu und saeuselte drueben in den Tannen so anmutig, als waere er eine eigens zum Feste bestellte Tafelmusik. "So etwas ist mir noch nicht vorgekommen. Es ist eine wahre Herrlichkeit!" rief die Grossmama wieder und wieder aus. "Aber was seh ich", setzte sie jetzt in hoechster Bewunderung hinzu, "ich glaube gar, du bist an einem zweiten Stueck Kaesebraten angekommen, Klaerchen?" Wirklich lag das zweite golden glaenzende Stueck auf Klaras Brotschnitte. "Oh, das schmeckt so gut, Grossmama, besser als die ganze Tafel in Ragaz", versicherte Klara und biss mit grossem Appetit in die gewuerzige Speise hinein. "Nur zu! Nur zu!" sagte der Almoehi wohlgefaellig. "Das ist unser Bergwind, der hilft nach, wo die Kueche zurueckbleibt." So nahm das froehliche Mahl seinen Verlauf. Die Grossmama und der Almoehi verstanden sich ausnehmend wohl, und ihr Gespraech war immer lebhafter geworden. Sie stimmten in allerhand Meinungen ueber Menschen und Dinge und den Verlauf der Welt so gut ueberein, dass es war, als haetten die beiden schon jahrelang in einem freundschaftlichen Verkehr gestanden. So ging eine gute Zeit dahin, und auf einmal schaute die Grossmama gegen Abend hin und sagte: "Wir muessen uns bald ruesten, Klaerchen, die Sonne ist schon weit vorgerueckt; die Leute muessen bald wiederkommen mit Pferd und Sessel." Aber auf das eben noch so froehliche Gesicht der Klara kam ein ganz trauriger Ausdruck, und sie bat eindringlich: "Oh, nur noch eine Stunde, Grossmama, oder zwei! Wir haben ja die Huette noch gar nicht gesehen und Heidis Bett und die ganze Einrichtung. Oh, wenn der Tag nur noch zehn Stunden haette!" "Das ist nun nicht gut moeglich", meinte die Grossmama, aber die Huette wollte sie auch gern noch ansehen. Man brach also gleich vom Tische auf, und der Oehi lenkte den Stuhl mit fester Hand der Tuere zu. Aber hier ging es nicht weiter, der Stuhl war viel zu breit, um durch die Oeffnung eingehen zu koennen. Der Oehi besann sich nicht lange. Er hob Klara heraus und trug sie auf seinem sicheren Arm in die Huette hinein. Hier lief die Grossmama hin und her und besah sich genau die ganze Einrichtung und hatte ihren grossen Spass an der ganzen Haeuslichkeit, die so huebsch aufgeraeumt und wohlgeordnet aussah. "Das ist ja wohl dein Bett dort auf der Hoehe, Heidi, nicht wahr?" fragte sie jetzt und stieg gleich unerschrocken das Leiterchen hinauf zum Heuboden. "Oh, wie das huebsch duftet, das muss ein gesundes Schlafgemach sein!" Und die Grossmama ging zu dem Loche hin und guckte durch, und schon stieg auch der Grossvater mit der Klara auf dem Arm nach, und hinterdrein huepfte das Heidi herauf. Jetzt standen sie alle um Heidis schoen aufgeruestetes Heubett herum, und ganz nachdenklich schaute die Grossmama darauf hin und zog von Zeit zu Zeit in langen Atemzuegen den wuerzigen Duft des frischen Heues mit Behagen ein. Klara war von Heidis Schlafstaette voellig hingerissen. "O Heidi, wie lustig hast du's doch! Vom Bett aus siehst du gerade in den Himmel hinein und hast einen so schoenen Geruch um dich und hoerst die Tannen rauschen draussen. Oh, so lustig und kurzweilig hab ich noch gar kein Schlafzimmer gesehen!" Der Oehi schaute jetzt zu der Grossmama hinueber. "Ich haette so meine Gedanken", sagte er, "wenn die Frau Grossmama mir glauben wollte und ihr die Sache nicht widerstrebte. Ich meine, wenn wir das Toechterchen ein wenig hier oben behielten, so koennte es zu neuen Kraeften kommen. Es sind da so allerhand Tuecher und Decken mitgekommen, aus denen bereiten wir hier ein ganz apart weiches Bett, und um die Pflege des Toechterchens muesste die Frau Grossmama keine Sorge haben, die uebernehme ich." Klara und Heidi jauchzten miteinander auf wie zwei freigelassene Voegel, und ueber das Gesicht der Grossmama kam ein ganzer Sonnenschein. "Mein lieber Oehi, Sie sind ein praechtiger Mann!" brach sie aus. "Was meinen Sie, was ich eben jetzt dachte? Ich sagte im stillen: Muesste nicht ein Aufenthalt hier oben das Kind ganz besonders staerken? Aber die Pflege! Die Sorge! Die Unbequemlichkeit fuer den Wirt! Und Sie kommen und sprechen es aus, so als waere da gar nichts dabei. Ich muss Ihnen danken, mein lieber Oehi, ich muss Ihnen von ganzem Herzen danken!" Und die Grossmama schuettelte dem Oehi die Hand ein Mal ums andere und immer wieder, und der Oehi schuettelte auch die ihrige mit einem ganz erfreuten Gesicht. Sofort ging der Oehi zur Tat ueber. Er trug Klara in ihren Sessel vor die Huette zurueck, vom Heidi gefolgt, das nicht wusste, wie hoch es vor Freude springen wollte. Dann lud er gleich die saemtlichen Tuecher und Pelzdecken auf seine Arme und sagte wohlgefaellig laechelnd: "Es ist gut, dass die Frau Grossmama so wie zu einem Winterfeldzug geruestet hatte: Das koennen wir brauchen." "Mein lieber Oehi", antwortete die Herzutretende lebhaft, "Vorsicht ist eine schoene Tugend und schuetzt vor manchem Ungemach. Wenn man auf den Reisen ueber Ihre Gebirge ohne Sturm und Wind und Wolkenbrueche davonkommt, so kann man nur danken, und das wollen wir tun, und meine Schutzmittelchen sind auch so noch gut zu gebrauchen; darin sind wir einig." Waehrend dieses kleinen Gespraeches waren die beiden nach dem Heuboden hinaufgestiegen und begannen nun die Tuecher ueber das Bett hinzubreiten, eins nach dem andern. Da waren ihrer so viele, dass das Bett zuletzt aussah wie eine kleine Festung. "Jetzt soll mir noch ein einziger Heuhalm durchstechen, wenn er kann", sagte die Grossmama, indem sie noch einmal mit der Hand auf allen Seiten eindrueckte, aber die weiche Mauer war so undurchdringlich, dass wirklich keiner mehr durchstach. Nun stieg sie befriedigt die Leiter hinunter und trat zu den Kindern heraus, die mit strahlenden Angesichtern nahe zusammensassen und ausmachten, was sie nun tun wollten vom Morgen bis zum Abend, solange Klara auf der Alp bleiben durfte. Aber wie lange wuerde das sein? Das war nun die grosse Frage, welche augenblicklich der Grossmama vorgelegt wurde. Die sagte, das wisse der Grossvater am besten, ihn muessten sie fragen, und als dieser eben herzutrat und nun die Frage an ihn gerichtet wurde, meinte er, vier Wochen seien gerade recht, um beurteilen zu koennen, ob die Alpluft ihre Schuldigkeit an dem Toechterchen tue oder nicht. Jetzt jubelten die Kinder erst recht auf, denn die Aussicht auf solches Zusammenbleiben uebertraf alle ihre Erwartungen. Nun sah man von unten herauf wieder die Sesseltraeger und den Pferdefuehrer mit seinem Tier heranruecken. Die ersteren konnten gleich wieder umkehren. Als die Grossmama sich anschickte, ihr Pferd zu besteigen, rief Klara froehlich aus: "O Grossmama, das ist nun gar kein Abschied, wenn du schon fortreitest, denn nun kommst du von Zeit zu Zeit zu uns zum Besuch auf die Alp, um zu sehen, was wir machen, und das ist dann so lustig, nicht, Heidi?" Heidi, das heute von einem Vergnuegen ins andere fiel, konnte seine zustimmende Antwort nur durch einen hohen Freudensprung ausdruecken. Nun bestieg die Grossmama das feste Saumtier, und der Oehi ergriff den Zuegel und fuehrte das Pferd mit sicherer Hand den steilen Berg hinunter. Wie auch die Grossmama eiferte, er moechte doch nicht so weit mitgehen, es half nichts: Der Oehi erklaerte, er werde ihr sein Geleit bis zum Doerfli hinunter geben, da die Alp so steil und der Ritt nicht ohne Gefahr sei. In dem einsamen Doerfli gedachte die Grossmama, nun sie allein war, nicht zu bleiben. Sie wollte nach Ragaz zurueckkehren und von dort aus dann von Zeit zu Zeit ihre Alpenreise wiederholen. Noch bevor der Oehi wieder zurueckgekehrt war, kam der Peter mit seinen Geissen dahergerannt. Als diese merkten, wo das Heidi war, stuerzten sie alle der Stelle zu. Im Augenblick war die Klara in ihrem Stuhle samt dem Heidi mitten in dem Rudel drinnen, und draengend und stossend guckte immer eine der Geissen ueber die andere her, und jede wurde gleich vom Heidi der Klara genannt und vorgestellt. So kam es, dass diese in der kuerzesten Zeit die langerwuenschte Bekanntschaft mit dem kleinen Schneehoeppli, dem lustigen Distelfink, den sauberen Geissen des Grossvaters, mit allen, allen bis hinauf zum grossen Tuerk gemacht hatte. Der Peter aber stand derweilen abseits und warf seltsam drohende Blicke auf die vergnuegte Klara hin. Als nun die Kinder beide freundlich zu ihm hinueberriefen: "Gute Nacht, Peter!", gab er durchaus keine Antwort, sondern hieb mit seiner Rute so grimmig in die Luft hinein, als wollte er diese voellig entzweischlagen. Dann lief er davon und sein Gefolge hinter ihm her. Zu allem Schoenen, das Klara heute auf der Alp schon gesehen hatte, kam nun noch der Schluss. Als sie oben auf dem Heuboden auf dem grossen, weichen Bette lag, zu dem nun auch das Heidi emporkletterte, da schaute sie durch das offene runde Loch gerade mitten in die schimmernden Sterne hinein, und voller Entzuecken rief sie aus: "O Heidi, sieh, es ist gerade, wie wenn wir auf einem hohen Wagen in den Himmel hineinfahren wuerden!" "Ja, und weisst du, warum die Sterne so voller Freude sind und uns so mit den Augen winken?" fragte das Heidi. "Nein, das weiss ich nicht; was meinst du denn?" fragte Klara zurueck. "Weil sie droben im Himmel sehen, wie der liebe Gott alles so gut einrichtet fuer die Menschen, dass sie gar keine Angst haben muessen und ganz sicher sein koennen, weil alles so kommt, wie es heilsam ist. Das freut sie so; sieh, wie sie winken, dass wir auch so froehlich sein sollen! Aber weisst du, Klara, wir muessen auch nicht vergessen zu beten, wir muessen recht den lieben Gott bitten, dass er auch an uns denke, wenn er alles so schoen einrichtet, dass wir auch immer so sicher sein koennen und uns vor gar nichts fuerchten muessen." Jetzt richteten sich die Kinder noch einmal auf und sagten jedes sein Nachtgebet. Dann legte sich das Heidi auf seinen runden Arm und schlief augenblicklich ein. Aber Klara blieb noch lange wach, denn etwas so Wunderbares wie diese Schlafstaette im Sternenschein hatte sie noch in ihrem Leben nicht gesehen. Sie hatte ja ueberhaupt kaum je die Sterne gesehen, denn ausser dem Hause war sie des Nachts nie gewesen, und drinnen wurden die dichten Vorhaenge laengst niedergelassen, bevor die Sterne kamen. Wenn sie nun jetzt die Augen zumachen wollte, musste sie sie gleich noch einmal aufschlagen, um zu sehen, ob denn die beiden grossen, hellen Sterne immer noch hereinfunkelten und so merkwuerdig winkten, wie das Heidi gesagt hatte. Und immer noch war es so, und Klara konnte es nicht genug bekommen, in das Flimmern und Leuchten hineinzuschauen, bis endlich ihre Augen von selbst zufielen und sie nur im Traume noch die zwei grossen, schimmernden Sterne sah. Wie es auf der Alp weitergeht Eben war die Sonne hinter den Felsen heraufgestiegen und warf nun ihre goldenen Strahlen ueber die Huette und ueber das Tal hinab. Der Almoehi hatte, wie er jeden Morgen tat, still und andaechtig zugeschaut, wie ringsum auf den Hoehen und im Tal die leichten Nebel sich lichteten und das Land aus dem Daemmerschatten herausschaute und zum neuen Tage erwachte. Heller und heller wurden oben die lichten Morgenwolken, bis jetzt die Sonne voellig heraustrat und Fels und Wald und Huegel mit goldenem Lichte uebergoss. Jetzt trat der Oehi in seine Huette zurueck und ging leise die kleine Leiter hinauf. Klara hatte eben die Augen aufgeschlagen und schaute in der hoechsten Verwunderung auf die hellen Sonnenstrahlen, die durch das runde Loch hereindrangen und auf ihrem Bette tanzten und blitzten. Sie wusste gar nicht, was sie sah und wo sie war. Doch jetzt erblickte sie das schlafende Heidi an ihrer Seite, und nun ertoente auch die freundliche Stimme des Grossvaters: "Gut geschlafen? Nicht muede?" Klara versicherte, sie sei nicht muede, und, einmal eingeschlafen, sei sie auch die ganze Nacht nicht mehr erwacht. Das gefiel dem Grossvater, und nun fing er gleich an und besorgte die Klara so gut und so verstaendnisvoll, als waere es geradezu sein Beruf, kranke Kinder zu besorgen und es ihnen bequem zu machen. Das Heidi hatte seine Augen jetzt auch aufgemacht und sah auf einmal mit Erstaunen, wie der Grossvater die schon fertig geruestete Klara auf den Arm nahm und forttrug. Da musste es doch dabeisein. Blitzschnell ging seine Ausruestung vor sich. Dann ging's die Leiter hinunter, und nun war auch das Heidi aus der Tuer und stand draussen, mit grosser Verwunderung betrachtend, was der Grossvater jetzt wieder ausfuehrte. Er hatte am Abend vorher, als die Kinder schon oben auf ihrem Lager angekommen waren, ueberlegt, wo der breite Rollstuhl unter Dach gebracht werden koennte. Die Tuer der Huette war ja viel zu schmal, hier konnte er nie eingefahren werden. Da war ihm ein Gedanke gekommen. Er machte hinten am Schopf zwei grosse Laden los, so dass da eine breite Oeffnung entstand. Der Stuhl wurde hineingestossen und die hohen Bretter wieder an ihre Stelle gebracht, wenn auch nicht festgemacht. Das Heidi kam eben an, nachdem der Grossvater Klara drinnen in ihren Stuhl gesetzt, dann die Bretter weggenommen hatte und nun mit ihr aus dem Schopf in den Morgensonnenschein herausgefahren kam. Mitten auf dem Platze liess er den Stuhl stehen und ging dem Geissenstall zu. Das Heidi sprang an Klaras Seite. Der frische Morgenwind wehte um die Gesichter der Kinder, und ein wuerziger Tannenduft kam mit jedem neuen Windeswehen herueber und durchstroemte die sonnige Morgenluft. Klara zog tiefe Zuege ein und lehnte sich in ihren Stuhl zurueck, in einem Gefuehl des Wohlseins, wie sie es nie empfunden hatte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie ja auch frische Morgenluft draussen in der freien Natur eingeatmet, und nun wehte die reine Alpenluft um sie so kuehl und erfrischend, dass jeder Atemzug ein Genuss war. Dazu der helle, suesse Sonnenschein, der gar nicht heiss war hier oben und so lieblich warm auf ihren Haenden lag und an dem trockenen Grasboden zu ihren Fuessen. Dass es so auf der Alp sein koennte, das hatte sich Klara gar nicht vorstellen koennen. "O Heidi, wenn ich nur immer, immer hier oben bei dir bleiben koennte!" sagte sie jetzt, sich ganz wohlig hin und her wendend in ihrem Stuhl, um so recht von allen Seiten Luft und Sonne einzutrinken. "Jetzt siehst du, dass es so ist, wie ich dir gesagt habe", entgegnete das Heidi erfreut, "dass es am schoensten auf der ganzen Welt beim Grossvater auf der Alm ist." Eben trat dieser aus dem Stalle heraus zu den Kindern heran. Er brachte zwei Schuesselchen voll schaeumender, schneeweisser Milch und reichte eins der Klara, das andere dem Heidi. "Das wird dem Toechterchen wohltun", sagte er, Klara zunickend. "Sie ist vom Schwaenli, die gibt Kraft. Zum Wohlsein! Nur zu!" Klara hatte noch nie Milch von einer Geiss getrunken, sie hatte erst zur Sicherheit ein wenig daran riechen muessen. Als sie nun aber sah, mit welcher Begier das Heidi seine Milch heruntertrank, ohne ein einziges Mal abzusetzen - so erstaunlich gut schmeckte sie ihm -, da setzte Klara auch an und trank und trank, und wahrhaftig, sie war so suess und kraeftig, als waere Zucker und Zimmet darin, und Klara trank zu, bis nichts mehr im Schuesselchen war. "Morgen nehmen wir zwei", sagte der Grossvater, der mit Befriedigung zugesehen hatte, wie Klara Heidis Beispiel gefolgt war. Jetzt erschien der Peter mit seiner Schar, und waehrend das Heidi durch die allseitigen Morgenbegruessungen gleich mitten in die Herde hineingedraengt wurde, nahm der Oehi den Peter ein wenig auf die Seite, damit dieser verstehen koenne, was er ihm zu sagen hatte, denn die Geissen meckerten immer, eine staerker als die andere, vor lauter Freude und Freundschaftsbezeugungen, sobald sie das Heidi in ihrer Mitte hatten. "Jetzt hoer zu und pass auf", sagte der Oehi. "Von heut an laessest du dem Schwaenli seinen Willen. Es hat die Fuehlung, wo die kraeftigsten Kraeutlein sind; also wenn es hinauf will, so gehst du nach, den anderen tut's ja auch gut, und wenn es hoeher will, als du sonst mit ihnen gehst, so gehst du wieder und haeltst es nicht zurueck, hoerst du! Wenn du auch ein wenig klettern musst, schad't nichts, du gehst, wo es will, denn in dieser Sache ist es vernuenftiger als du, und es muss nur noch vom Besten bekommen, dass es eine Prachtmilch gibt. Warum guckst du dort hinueber, wie wenn du einen verschlucken wolltest? Es wird dir niemand im Wege sein. So, jetzt vorwaerts, und denk daran!" Der Peter war gewohnt, dem Oehi aufs Wort zu folgen. Er trat gleich seinen Marsch an; man konnte aber sehen, dass er noch etwas im Hinterhalt hatte, denn er drehte immer den Kopf um und rollte mit den Augen. Die Geissen folgten und draengten das Heidi noch eine Strecke mit vorwaerts. Das war dem Peter eben recht. "Du musst mit", rief er jetzt drohend in den Geissenrudel hinein, "du musst mit, wenn man dem Schwaenli nachmuss." "Nein, ich kann nicht", rief das Heidi zurueck, "und ich kann jetzt lange, lange nicht mitkommen, solange die Klara bei mir ist. Aber einmal kommen wir dann miteinander hinauf, der Grossvater hat es uns versprochen." Unter diesen Worten hatte das Heidi sich aus den Geissen herausgewunden und sprang nun zu Klara zurueck. Jetzt machte der Peter mit beiden Faeusten eine so drohende Gebaerde gegen den Rollstuhl hinunter, dass die Geissen auf die Seite sprangen. Er sprang aber auf der Stelle nach und ohne Aufenthalt eine ganze Strecke weit hinauf, bis er ausser Sicht war, denn er dachte, der Oehi koennte ihn etwa gesehen haben, und er wollte lieber nicht wissen, was fuer einen Eindruck das Fausten dem Oehi gemacht habe. Klara und Heidi hatten fuer heute so viel im Sinn, dass sie gar nicht wussten, wo anfangen. Das Heidi schlug vor, zuerst den Brief an die Grossmama zu schreiben, den hatten sie ja bestimmt versprochen, und so fuer jeden Tag einen neuen. Die Grossmama war doch ihrer Sache nicht so ganz sicher, wie es in die Laenge da droben der Klara behagen und auch, wie es mit ihrer Gesundheit gehen wuerde, und so hatte sie den Kindern das Versprechen abgenommen, ihr jeden Tag einen Brief zu schreiben und alles zu erzaehlen, was sie erlebten. So konnte die Grossmama auch sogleich wissen, wenn sie oben noetig werden sollte, und bis dahin ruhig unten bleiben. "Muessen wir in die Huette hinein zum Schreiben?" fragte Klara, die wohl dafuer war, der Grossmama Bericht zu geben; aber da draussen war es ihr so wohl, dass sie gar nicht weg mochte. Aber das Heidi wusste sich einzurichten. Augenblicklich rannte es in die Huette hinein und kam mit seinen saemtlichen Schulsachen und dem niedrigen Dreibeinstuehlchen beladen wieder zurueck. Nun legte es sein Lesebuch und Schreibheft der Klara auf den Schoss, dass sie darauf schreiben konnte, und es selbst setzte sich an die Bank hin auf sein Stuehlchen, und nun begannen sie beide der Grossmama zu erzaehlen. Aber nach jedem Satze, den Klara geschrieben hatte, legte sie ihren Bleistift wieder hin und schaute um sich. Es war gar zu schoen. Der Wind war nicht mehr so kuehl; nur lieblich faechelnd wehte er um ihr Gesicht, und drueben in den Tannen fluesterte er leise. In der klaren Luft tanzten und summten die kleinen, froehlichen Muecken, und weit umher lag eine grosse Stille auf dem ganzen sonnigen Gefilde. Gross und still schauten die hohen Felsenberge herueber, und das ganze weite Tal hinab lag alles wie im stillen Frieden. Nur dann und wann schallte das frohe Jauchzen eines Hirtenbuben durch die Luft, und leise gab das Echo die Toene in den Felsen wieder. Der Morgen war dahin, die Kinder wussten nicht, wie, und schon kam der Grossvater mit der dampfenden Schuessel daher, denn er sagte, mit dem Toechterchen bleibe man nun draussen, solang ein Lichtstrahl am Himmel sei. So wurde das Mittagsmahl wie gestern vor der Huette aufgestellt und mit Vergnuegen eingenommen. Dann rollte das Heidi den Stuhl samt der Klara unter die Tannen hinueber, denn die Kinder hatten ausgemacht, den Nachmittag wollten sie dort in dem schoenen Schatten sitzen und einander alles erzaehlen, was sich zugetragen, seit das Heidi Frankfurt verlassen hatte. Wenn auch da alles im gewohnten Geleise weitergegangen war, so hatte Klara doch allerlei Besonderes zu berichten von den Menschen, die im Hause Sesemann lebten und die dem Heidi ja so gut bekannt waren. So sassen die Kinder nebeneinander unter den alten Tannen, und je eifriger sie im Erzaehlen wurden, desto lauter pfiffen die Voegel oben in den Zweigen, denn das Geplauder da unten freute sie, und sie wollten auch mithalten. So flog die Zeit dahin, und unversehens war es Abend geworden, und schon kam das Geissenheer heruntergestuermt, der Anfuehrer hintendrein mit Stirnrunzeln und grimmiger Miene. "Gute Nacht, Peter!" rief ihm das Heidi zu, als es sah, dass er nicht im Sinne hatte stillzustehen. "Gute Nacht, Peter!" rief auch Klara freundlich hinueber. Er gab keinen Gruss zurueck und jagte schnaubend die Geissen weiter. Als Klara jetzt sah, wie der Grossvater das saubere Schwaenli zum Melken nach dem Stalle fuehrte, da ergriff sie auf einmal ein solches Verlangen nach der gewuerzigen Milch, dass sie es fast nicht erwarten konnte, bis der Grossvater damit kommen wuerde. Sie musste selbst erstaunen darueber. "Das ist aber einmal kurios, Heidi", sagte sie. "Solange ich weiss, habe ich nur gegessen, weil ich musste, und alles, was ich bekam, schmeckte nach Fischtran, und tausendmal habe ich gedacht: Wenn man nur nie essen muesste! Und jetzt kann ich es fast nicht erwarten, bis der Grossvater kommt mit der Milch." "Ja, ich weiss schon, was das ist", entgegnete das Heidi ganz verstaendnisvoll, denn es gedachte der Tage in Frankfurt, da ihm alles im Halse steckenblieb und nicht hinunter wollte. Klara aber begriff die Sache doch nicht. Sie hatte aber, solange sie lebte, noch nie einen Tag lang in der freien Luft gesessen wie heute, und nun gar in dieser hohen, belebenden Bergluft. Als der Grossvater mit seinen Schuesselchen herankam, erfasste Klara schnell dankend das ihrige, und in durstigen Zuegen trank sie hintereinander und war diesmal noch vor dem Heidi zu Ende. "Darf ich noch ein wenig haben?" fragte sie, dem Grossvater das Schuesselchen hinhaltend. Er nickte wohlgefaellig, nahm auch Heidis Gefaess wieder in Empfang und ging zur Huette zurueck. Als er wiederkam, brachte er auf jedem Schuesselchen einen hohen Deckel mit, der war aber von anderem Stoff, als die Deckel gewoehnlich sind. Der Grossvater hatte am Nachmittag einen Gang nach dem gruenen Maiensaess hinueber gemacht, zu der Sennhuette, wo die suesse, hellgelbe Butter gemacht wird. Von dort hatte er einen schoenen runden Ballen mitgebracht. Jetzt hatte er zwei feste Schnitten Brot genommen und die suesse Butter schoen dick daraufgestrichen. Diese sollten nun die Kinder zu ihrem Nachtessen haben. Gleich bissen auch alle beide so tief in die appetitlichen Schnitten hinein, dass der Grossvater stehenblieb und zuschaute, wie das weitergehen wuerde, denn das gefiel ihm. Als Klara nachher auf ihrem Lager wieder nach den schimmernden Sternen schauen wollte, ging es ihr wie dem Heidi an ihrer Seite: Die Augen fielen ihr auf der Stelle zu, und es kam ein so fester, gesunder Schlaf ueber sie, wie sie ihn niemals gekannt hatte. In dieser erfreulichen Weise verging auch der folgende Tag und dann noch einer, und dann folgte eine grosse Ueberraschung fuer die Kinder. Es kamen zwei kraeftige Traeger den Berg heraufgestiegen; jeder trug auf seinem Reff ein hohes Bett, fertig aufgeruestet in der Bettschaft, beide ganz gleich bedeckt mit einer weissen Decke, sauber und nagelneu. Auch hatten die Maenner einen Brief von der Grossmama abzugeben. Da stand darin, dass diese Betten fuer Klara und Heidi seien, dass das Heu- und Deckenlager nun aufgehoben werden solle und dass von nun an das Heidi immer in einem richtigen Bette schlafen muesse, denn im Winter solle das eine der beiden ins Doerfli heruntergeschafft werden, das andere aber oben bleiben, damit Klara es immer vorfinde, wenn sie wiederkomme. Dann lobte die Grossmama die Kinder um ihrer langen Briefe willen und ermunterte sie, taeglich so fortzufahren, damit sie immer alles mitleben koenne, als ob sie bei ihnen waere. Der Grossvater war hineingegangen, hatte den Inhalt von Heidis Lager auf den grossen Heuhaufen geworfen und die Decken weggelegt. Nun kam er wieder, um mit Hilfe der Maenner die beiden Betten dort hinauf zu transportieren. Dann rueckte er sie hart aneinander, damit von beiden Kopfkissen aus die Aussicht durch das Loch dieselbe bliebe, denn er kannte die Freude der Kinder an dem Morgen- und Abendschein, der da hereinglaenzte. Unterdessen sass die Grossmama unten im Bade Ragaz und war hocherfreut ueber die vortrefflichen Nachrichten, die taeglich von der Alp zu ihr heruntergelangten. Das Entzuecken ueber ihr neues Leben steigerte sich bei Klara noch von Tag zu Tag, und sie wusste nicht genug zu sagen von der Guete und sorglichen Pflege des Grossvaters und wie lustig und kurzweilig das Heidi sei, noch viel mehr als in Frankfurt, und wie sie jeden Morgen beim Erwachen immer zuerst denke: O gottlob; ich bin noch auf der Alp! Ueber diese ausnehmend erfreulichen Berichte war die Grossmama jeden Tag aufs neue froh. Sie fand auch, da alles so stand, so koenne sie ihren Besuch auf der Alp gar wohl noch ein wenig verschieben, was ihr nicht unlieb war, denn der Ritt den steilen Berg hinauf und wieder herunter war ihr doch etwas beschwerlich vorgekommen. Der Grossvater musste eine ganz besondere Teilnahme fuer seinen Pflegling gefasst haben, denn es verging kein Tag, an welchem er nicht irgend etwas Neues zu seiner Kraeftigung ausdachte. Er machte jetzt jeden Nachmittag weitere Gaenge in die Felsen hinauf, immer hoeher, und jedesmal brachte er ein Buendelchen mit zurueck, das duftete schon von weitem durch die Luft wie gewuerzige Nelken und Thymian, und kehrten die Geissen am Abend heim, so fingen sie alle zu meckern und zu springen an und wollten alle miteinander in den Stall eindringen, wo das Buendelchen lag, denn sie kannten den Geruch. Aber der Oehi hatte die Tuer gut zugemacht, denn er kletterte den seltenen Kraeuterchen nicht nach, hoch an die Felsen hinauf, damit die Geissenschar ohne Muehe zu einer guten Mahlzeit komme. Die Kraeutlein waren alle fuer das Schwaenli bestimmt, damit es immer noch kraeftigere Milch hergebe. Man konnte auch gut sehen, wie die ausserordentliche Pflege bei ihm anschlug, denn es warf den Kopf immer lebendiger in die Hoehe und machte ganz feurige Augen dazu. So war nun schon die dritte Woche gekommen, seit Klara auf der Alp war. Seit einigen Tagen hatte der Grossvater des Morgens, wenn er sie heruntertrug, um sie in ihren Stuhl zu setzen, jedesmal gesagt: "Will das Toechterchen nicht einmal probieren, ein wenig auf dem Boden zu stehen?" Klara hatte dann wohl versucht, ihm den Gefallen zu tun, aber sie hatte immer gleich gesagt: "Oh, 's tut zu weh!" und hatte sich an ihn festgeklammert; er liess sie aber jeden Tag ein wenig laenger probieren. Ein so schoener Sommer war seit Jahren nicht auf der Alp gewesen. Jeden Tag zog die strahlende Sonne durch den wolkenlosen Himmel hin, und alle kleinen Blumen machten ihre Kelche weit auf und gluehten und dufteten zu ihr empor, und am Abend warf sie ihr Purpur- und Rosenlicht auf die Felsenhoerner und das Schneefeld hinueber und tauchte dann in ein golden flammendes Meer hinab. Davon erzaehlte das Heidi seiner Freundin Klara immer wieder, denn nur oben auf der Weide konnte man das alles so recht sehen, und von der Stelle oben am Abhange erzaehlte es mit besonderem Feuer, wie dort jetzt die grossen Scharen der glitzernden, goldenen Weideroeschen stehen und Blaugloeckchen so viele, dass man meine, dort sei das Gras blau geworden, und daneben ganze Buesche von den braunen Kolbenbluemchen, die so schoen riechen, dass man nur auf den Boden sitzen muesse zu ihnen und gar nicht mehr fort wolle. Eben jetzt, unter den Tannen sitzend, hatte das Heidi aufs neue von den Blumen dort oben und der Abendsonne und den leuchtenden Felsen erzaehlt, und dabei war ein solches Verlangen in ihm aufgestiegen, wieder einmal dorthin zu kommen, dass es mit einemmal aufsprang und davonrannte, dem Grossvater zu, der im Schopf auf seinem Schnitzstuhl sass. "O Grossvater", rief es schon von weitem hinueber, "kommst du morgen mit uns auf die Weide? Oh, jetzt ist es so schoen dort oben!" "Es bleibt dabei", sagte der Grossvater zustimmend, "aber dann muss mir das Toechterchen auch einen Gefallen tun: Es muss mir heut abend das Stehen noch einmal recht probieren." Frohlockend kam das Heidi mit seiner Nachricht zu Klara zurueck, und diese versprach gleich, sovielmal versuchen zu wollen, auf ihren Fuessen zu stehen, als der Grossvater nur wolle, denn sie freute sich ganz ungeheuer, diese Reise nach der schoenen Geissenweide hinauf zu machen. Das Heidi war so voller Jubel, dass es gleich dem Peter entgegenrief, sobald es ihn am Abend beim Herunterkommen erblickte: "Peter! Peter! Morgen kommen wir auch mit und bleiben den ganzen Tag dort oben." Als Antwort brummte der Peter wie ein gereizter Baer und schlug mit Wut nach dem unschuldigen Distelfink, der neben ihm trabte. Aber der flinke Distelfink hatte die Bewegung zur rechten Zeit wahrgenommen. Er machte einen hohen Satz ueber das Schneehoeppli weg, und der Hieb sauste in die Luft hinaus. Klara und Heidi bestiegen heute voll herrlicher Erwartungen ihre zwei schoenen Betten, und so erfuellt waren sie von ihren Plaenen fuer morgen, dass sie beschlossen, die ganze Nacht wach zu bleiben und immerfort davon zu sprechen, bis sie wieder aufstehen durften. Kaum lagen sie aber auf ihren guten Kissen, so hoerten die Gespraeche ploetzlich auf, und Klara sah im Traume ein grosses, grosses Feld vor sich, das war ganz himmelblau anzusehen, so dicht besaet war es von lauter Glockenblumen; und das Heidi hoerte den Raubvogel oben in den Hoehen, wie er herunterschrie: "Kommt! Kommt! Kommt!" Es geschieht, was keiner erwartet hat In aller Fruehe trat der Oehi am andern Morgen aus der Huette und schaute ringsum, wie der Tag sich gestalten wolle. Auf den hohen Bergspitzen lag ein roetlich-goldener Schein; ein frischer Wind fing an, die Aeste der Tannen hin und her zu wiegen; die Sonne wollte kommen. Eine Weile noch stand der Alte und schaute andaechtig zu, wie nach den hohen Berggipfeln die gruenen Huegel golden zu schimmern begannen und dann aus dem Tale leise die dunkeln Schatten wichen und ein rosiges Licht hineinfloss und nun Hoehen und Tiefen im Morgengolde erglaenzten; die Sonne war gekommen. Jetzt holte der Oehi den Rollstuhl aus dem Schopf heraus, stellte ihn, zur Reise geruestet, vor die Huette hin und trat dann hinein, um den Kindern zu sagen, wie schoen der Morgen erwacht sei, und sie herauszuholen. Eben jetzt kam der Peter herangestiegen. Seine Geissen kamen nicht zutraulich wie gewohnt an seiner Seite und nahe vor und hinter ihm den Berg herauf; sie schossen scheu umher, dahin und dorthin, denn der Peter hieb alle Augenblicke ohne jede Veranlassung um sich wie ein Wuetender, und wo er traf, tat es nicht wohl. Der Peter war auf dem hoechsten Punkt des Zornes und der Erbitterung angelangt. Seit Wochen hatte er nie mehr das Heidi fuer sich gehabt, so wie er's gewohnt war. Kam er am Morgen von unten herauf, so wurde schon immer das fremde Kind in seinem Stuhle herausgetragen, und das Heidi gab sich mit ihm ab. Kam er am Abend von oben herunter, so stand noch der Rollstuhl mit seiner Inhaberin unter den Tannen, und das Heidi machte sich mit ihr zu schaffen. Nie war es noch zur Weide hinaufgekommen den ganzen Sommer, und nun heute wollte es kommen, aber mitsamt dem Stuhle und der Fremden darin und wollte die ganze Zeit nur mit dieser sich abgeben. Das sah der Peter voraus, und das hatte seinen inneren Grimm auf den hoechsten Punkt gebracht. Jetzt erblickte er den Stuhl, der so stolz da auf seinen Rollen stand, und schaute ihn an wie einen Feind, der ihm alles zuleide getan hatte und heute noch viel mehr tun wollte. Der Peter schaute um sich - alles war still, kein Mensch zu sehen. Wie ein Wilder stuerzte er jetzt auf den Stuhl, packte ihn an und stiess ihn mit so erbitterter Gewalt dem Bergabhange zu, dass der Stuhl foermlich davonflog und augenblicklich verschwunden war. Jetzt stuerzte der Peter die Alm hinan, als haette er selber Fluegel bekommen, und er setzte kein einziges Mal ab, bis er oben zu einem grossen Brombeerstrauch gelangte, hinter dem er verschwinden konnte, denn er begehrte nicht, dass der Oehi ihn erblickte. Er wollte aber doch gern sehen, was der Stuhl mache, und der Strauch auf dem Bergvorsprunge war gut gelegen. Der Peter konnte halb verborgen die Alm hinabschauen und, kam der Oehi zum Vorschein, hurtig sich ganz verstecken. So tat er, und was erschauten seine Blicke! Weit unten schon stuerzte sein Feind dahin, von immer groesserer Gewalt getrieben. Jetzt ueberschlug er sich, wieder und wieder, dann machte er einen hohen Satz, dann schlug es ihn wieder auf die Erde nieder, und ueberschlagend rollte er seinem Verderben entgegen. Schon flogen da und dort die Stuecke von ihm weg, Fuesse, Lehnen, Polsterfetzen, alles hoch in die Luft geworfen. Der Peter empfand eine so unbaendige Freude an dem Anblick, dass er mit beiden Fuessen zugleich in die Luft springen musste. Er lachte laut auf, er stampfte vor Wonne, er sprang in Saetzen im Kreise herum, er kam wieder an denselben Platz und guckte den Berg hinab. Ein neues Gelaechter erscholl, neue Luftspruenge; der Peter war voellig ausser sich vor Vergnuegen ueber diesen Untergang seines Feindes, denn er sah lauter gute Dinge vor sich, die nun kommen wuerden. Jetzt musste die Fremde abreisen, denn sie hatte kein Mittel mehr, sich zu bewegen. Das Heidi war wieder allein und kam mit ihm auf die Weide, und am Abend und Morgen war es fuer ihn da, wenn er kam, und alles war wieder in der alten Ordnung. Aber der Peter bedachte nicht, wie es geht, wenn man eine boese Tat begangen hat, und was dann nachher kommt. Jetzt kam das Heidi aus der Huette gesprungen und rannte dem Schopf zu. Hinter ihm her kam der Grossvater mit Klara auf dem Arm. Die Schopftuer stand weit offen, die beiden Bretter daneben waren weggestellt, bis in den hintersten Winkel war es taghell. Das Heidi guckte hin und her, lief um die Ecke, kam wieder zurueck, die ungeheuerste Verwunderung lag auf seinem Gesichte. Nun trat der Grossvater heran. "Was ist das? Hast du den Stuhl weggerollt, Heidi?" fragte er. "Ich suche ihn ja allenthalben, Grossvater, und du hast gesagt, er stehe neben der Schopftuer", sagte das Kind, immer noch nach allen Seiten mit den Augen herumsuchend. Der Wind war unterdessen staerker geworden; eben klapperte er an der Schopftuer herum und warf sie auf einmal krachend gegen die Wand zurueck. "Grossvater, der Wind hat's gemacht", rief das Heidi, und seine Augen blitzten auf bei der Entdeckung. "Oh, wenn er den Stuhl bis ins Doerfli hinabgejagt haette, dann bekaeme man ihn erst viel zu spaet wieder, und wir koennten gar nicht gehen." "Wenn er dort hinuntergerollt ist, so kommt er gar nicht mehr zurueck, dann ist er in hundert Stuecken", sagte der Grossvater, um die Ecke tretend und den Berg hinabschauend. "Aber kurios ist's doch zugegangen", setzte er hinzu, indem er auf das Stueck zuruecksah, das der Stuhl erst um die Ecke der Huette herum zu machen hatte. "Oh, wie schade, jetzt koennen wir gar nicht gehen und vielleicht gar nie", jammerte Klara. "Nun muss ich gewiss heimgehen, wenn ich keinen Stuhl mehr habe. Oh, wie schade! Wie schade!" Aber das Heidi schaute ganz vertrauensvoll zu seinem Grossvater auf und sagte: "Gelt, Grossvater, du kannst schon etwas erfinden, dass es nicht so geht, wie die Klara meint, und dass sie nicht auf einmal heim muss?" "Jetzt gehen wir fuer diesmal auf die Weide, wie wir uns vorgenommen haben; dann wollen wir sehen, was weiter kommt", sagte der Grossvater. Die Kinder jubelten. Er trat nun wieder in die Huette zurueck, holte einen guten Teil der Tuecher heraus, legte sie auf den sonnigsten Platz an die Huette hin und setzte Klara darauf. Dann holte er den Kindern ihre Morgenmilch und fuehrte Schwaenli und Baerli vor den Stall hinaus. "Warum der nur so lange nicht von da unten heraufkommt", sagte der Oehi vor sich hin, denn Peters Morgenpfiff war ja noch gar nicht ertoent. Jetzt nahm der Grossvater Klara wieder auf den einen Arm, die Tuecher auf den andern. "So, nun vorwaerts!" sagte er vorangehend; "die Geissen kommen mit uns." Das war dem Heidi eben recht. Einen Arm um Schwaenlis und einen um Baerlis Hals gelegt, wanderte das Heidi hinter dem Grossvater her, und die Geissen hatten solche Freude, einmal wieder mit dem Heidi auszuziehen, dass sie es fast zusammendrueckten zwischen sich vor lauter Zaertlichkeit. Oben auf dem Weideplatze angelangt, sahen die Kommenden mit einemmal da und dort an den Abhaengen die friedlich grasenden Geissen in Gruppen stehen und mittendrin den Peter, der Laenge nach auf dem Boden liegend. "Ein andermal will ich dir das Vorbeigehen vertreiben, Schlafpelz, was heisst das?" rief ihm der Oehi zu. Der Peter war bei dem Ton der bekannten Stimme aufgeschossen. "War noch niemand auf", gab er zurueck. "Hast du etwas von dem Stuhl gesehen?" frug der Oehi wieder. "Von welchem?" rief der Peter stoerrisch zurueck. Der Oehi sagte nichts mehr. Er breitete seine Tuecher an den sonnigen Abhang hin, setzte Klara darauf und wollte wissen, ob's ihr so bequem sei. "So bequem wie im Stuhl", sagte sie dankend, "und am schoensten Platz bin ich da. Da ist's so schoen, Heidi, so schoen!" rief sie, rings um sich blickend, aus. Der Grossvater schickte sich zur Rueckkehr an. Er sagte, sie sollten sich's nun wohl sein lassen miteinander, und wenn die Zeit da sei, sollte Heidi das Mittagsmahl herbeiholen, das er, in den Sack verpackt, drueben in den Schatten gelegt hatte. Dann sollte der Peter ihnen Milch dazu geben, soviel sie trinken wollten, aber das Heidi sollte gut aufpassen, dass er sie vom Schwaenli nehme. Gegen Abend wollte der Grossvater wiederkommen; jetzt wollte er vor allem dem Stuhle nachgehen und sehen, was aus ihm geworden sei. Der Himmel war dunkelblau, und um und um war nicht ein einziges Woelkchen zu sehen. Auf dem grossen Schneefelde drueben blitzte es wie von tausend und tausend Gold- und Silbersternen. Die grauen Felsenhoerner standen hoch und fest an ihrem Platze, wie vor alter Zeit, und schauten ernsthaft ins Tal hinab. Der grosse Vogel wiegte sich oben im Blau, und ueber die Hoehen strich der Bergwind hin und wehte kuehl rings um die sonnige Alp. Den Kindern war es unbeschreiblich wohl. Von Zeit zu Zeit kam ein Geisslein heran und liess sich ein wenig nieder bei ihnen; am haeufigsten kam das zaertliche Schneehoeppli und legte sein Koepfchen an das Heidi heran und waere da wohl gar nicht mehr weggegangen, haette es nicht ein anderes von der Herde wieder vertrieben. So lernte Klara jetzt eine um die andere von den Geissen so nahe kennen, dass sie niemals mehr eine mit der andern verwechselte, denn jede hatte ja auch ein ganz besonderes Gesicht und ihre eigene Art. Sie wurden jetzt auch so zutraulich zu Klara, dass sie ihr ganz nahe kamen und ihre Koepfe an ihren Schultern rieben; das war immer das Zeichen ihrer nahen Bekanntschaft und Zuneigung. So waren schon einige Stunden vergangen; da kam es dem Heidi in den Sinn, wenn es doch einmal hinuebergehen koennte an den Platz, wo die vielen Blumen waren, und sehen, ob sie auch alle offenstehen und so schoen seien wie vor dem Jahr. Erst am Abend, wenn der Grossvater wiederkam, konnte man auch mit Klara hinuebergehen, und dann machten die Blumen vielleicht schon wieder die Augen zu. Das Verlangen stieg immer hoeher im Heidi, es konnte nicht mehr widerstehen. Ein wenig zaghaft fragte es: "Wirst du nicht boese, Klara, wenn ich geschwind von dir fortlaufe und du allein sein musst? Ich moechte so gern sehen, wie die Blumen sind. Aber warte..." Dem Heidi war ein Gedanke gekommen. Es sprang auf die Seite und riss ein paar schoene Bueschel von den gruenen Kraeutern aus. Dann nahm es das Schneehoeppli um den Hals, das ihm gleich zugelaufen war, und fuehrte es der Klara zu. "So, jetzt musst du doch nicht allein sein", sagte das Heidi, indem es auf seinen Platz neben Klara das Schneehoeppli ein wenig hindrueckte, was das Geisslein gleich gut verstand und sich niederlegte. Dann warf Heidi seine Blaetter der Klara in den Schoss, und diese sagte erfreut, das Heidi solle jetzt nur gehen und die Blumen recht ansehen, sie wolle gern allein mit dem Geisslein bleiben; das hatte sie ja noch gar nie erlebt. Das Heidi rannte fort, und Klara fing nun an, Blaettchen fuer Blaettchen dem Schneehoeppli hinzuhalten, und dieses wurde so zutraulich, dass es sich ganz an seine neue Freundin anschmiegte und die Blaettchen ihr langsam aus den Fingern frass. Man konnte auch gut sehen, wie wohl es ihm war, dass es da so ruhig und friedlich in gutem Schutze liegen durfte, denn draussen bei der Herde hatte es immer viele Verfolgungen auszustehen von den grossen und starken Geissen. Der Klara kam es so koestlich vor, so ganz allein auf einem Berge zu sitzen, nur mit einem zutraulichen Geisslein, das ganz hilfsbeduerftig zu ihr aufsah. Ein grosser Wunsch stieg auf in ihr, auch einmal ihr eigener Herr zu sein und einem andern helfen zu koennen und nicht nur immer sich von allen anderen helfen lassen zu muessen. Und es kamen der Klara jetzt so viele Gedanken, die sie gar nie gehabt hatte, und eine unbekannte Lust, fortzuleben in dem schoenen Sonnenschein und etwas zu tun, mit dem sie jemand erfreuen konnte, wie sie jetzt das Schneehoeppli erfreute. Eine ganz neue Freude kam ihr ins Herz, so als ob alles, was sie wusste und kannte, auf einmal viel schoener und anders sein koennte, als sie es bis jetzt gesehen hatte, und es wurde ihr so schoen und wohl zumute, dass sie das Geisslein um den Hals nehmen und ausrufen musste: "O Schneehoeppli, wie schoen ist es hier oben; wenn ich nur immer da bei euch bleiben koennte!" Das Heidi war unterdessen an dem Blumenplatze angekommen. Es stiess einen Freudenschrei aus. Von leuchtendem Golde bedeckt lag die ganze Halde da. Das waren die schimmernden Zistroeschen. Dichte, dunkelblaue Buesche von Glockenblumen wiegten sich darueber, und ein so starker gewuerziger Duft wogte um die sonnige Halde, als waeren die koestlichsten Balsamschalen da oben ausgeschuettet worden. Der ganze Wohlgeruch kam aber von den kleinen braunen Kolbenbluemchen her, die ihre runden Koepfchen da und dort bescheiden zwischen den Goldkelchen emporstreckten. Das Heidi stand und schaute und zog den suessen Duft in langen Zuegen ein. Auf einmal kehrte es um und kam ausser Atem vor Erregung zu Klara zurueck. "Oh, du musst gewiss kommen", rief es ihr schon von weitem zu. "Sie sind so schoen, und alles ist so schoen, und am Abend ist es vielleicht nicht mehr so. Ich kann dich vielleicht tragen, meinst du nicht?" Klara schaute das erregte Heidi mit Verwunderung an; sie schuettelte aber den Kopf. "Nein, nein, was denkst du, Heidi; du bist ja viel kleiner als ich. Oh, wenn ich nur gehen koennte!" Jetzt schaute das Heidi suchend um sich, es musste etwas Neues im Sinne haben. Dort oben, wo der Peter vorher auf dem Boden gelegen hatte, sass er jetzt und starrte auf die Kinder herunter. So hatte er schon seit Stunden gesessen und immerzu herabgestarrt, so als koenne er nicht fassen, was er vor sich sah. Er hatte den feindlichen Stuhl zerstoert, damit alles aufhoeren und die Fremde sich gar nicht mehr bewegen koenne, und eine kurze Weile nachher erschien sie da oben und sass vor ihm auf dem Boden neben dem Heidi. Das konnte ja nicht sein, und doch war es immer noch so, er konnte hinsehen, wann er wollte. Jetzt schaute das Heidi zu ihm auf. "Komm hier herunter, Peter!" rief es sehr bestimmt. "Komme nicht", rief er zurueck. "Doch, du musst; komm, ich kann es nicht allein machen, du musst mir helfen; komm schnell!" draengte das Heidi. "Komme nicht", ertoente es wieder. Jetzt sprang das Heidi eine kleine Strecke den Berg hinan, dem Angeredeten entgegen. Da stand es mit flammenden Augen und rief hinauf: "Peter, wenn du nicht auf der Stelle kommst, so will ich dir auch etwas machen, das du dann gewiss nicht gern hast; das kannst du glauben!" Diese Worte gaben dem Peter einen Stich, und eine grosse Angst packte ihn an. Er hatte etwas Boeses getan, das kein Mensch wissen sollte. Bis jetzt hatte es ihn gefreut, aber nun redete das Heidi, wie wenn es alles wuesste, und was es wusste, sagte es alles seinem Grossvater, und vor dem fuerchtete der Peter sich ja wie vor keinem andern. Wenn er nun vernaehme, was mit dem Stuhl vorgegangen war! Den Peter wuergte die Angst immer aerger. Er stand auf und kam dem wartenden Heidi entgegen. "Ich komme, aber dann musst du das nicht machen", sagte er, so zahm vor Furcht, dass das Heidi ganz mitleidig wurde. "Nein, nein, das tu ich nun schon nicht", versicherte es. "Komm jetzt nur mit mir, es ist nichts zum Fuerchten, was du tun musst." Bei Klara angelangt, ordnete nun das Heidi an, auf der einen Seite sollte der Peter, auf der andern wollte es selbst Klara fest unter den Arm fassen und aufheben. Das ging nun ziemlich gut, aber jetzt kam das Schwierigere. Klara konnte ja nicht stehen, wie sollte man sie nun festhalten und vorwaerts bringen? Das Heidi war zu klein, um ihr mit seinem Arm eine Stuetze zu bieten. "Du musst mich jetzt um den Hals nehmen, ganz fest, so. Und den Peter musst du am Arm nehmen und ganz fest darauf druecken, dann koennen wir dich tragen." Aber der Peter hatte noch nie jemandem den Arm gegeben. Klara umfasste diesen wohl, der Peter aber hielt ihn ganz steif am Leibe herunter wie einen langen Stecken. "So macht man es nicht, Peter", sagte das Heidi sehr bestimmt. "Du musst mit dem Arm einen Ring machen, und dann muss die Klara mit dem ihrigen durchfahren, und dann muss sie ganz fest aufdruecken, und du musst um keinen Preis nachgeben, dann kommen wir schon vorwaerts." Das wurde nun so ausgefuehrt. Man kam aber nicht gut vorwaerts. Klara war nicht so leicht, und das Gespann zu ungleich in der Groesse. Auf der einen Seite ging es herab und auf der andern hinauf, das gab eine ziemliche Unsicherheit in den Stuetzen. Klara probierte es abwechselnd ein wenig mit den eigenen Fuessen, zog aber einen nach dem andern immer bald wieder zurueck. "Stampf einmal recht herunter", schlug das Heidi vor, "dann tut es dir gewiss nachher weniger weh." "Meinst du?" sagte Klara zaghaft. Sie gehorchte aber und wagte einen festen Schritt auf den Boden und dann mit dem zweiten Fuss; sie schrie aber ein wenig auf dabei. Dann hob sie den einen wieder und setzte ihn leiser hin. "Oh, das hat schon viel weniger weh getan", sagte sie voller Freude. "Mach's noch einmal", draengte eifrig das Heidi. Klara tat es und dann noch einmal und noch einmal, und auf einmal schrie sie auf: "Ich kann, Heidi! Oh, ich kann! Sieh! Sieh! Ich kann Schritte machen, einen nach dem andern." Jetzt jauchzte das Heidi noch viel mehr auf. "Oh! Oh! Kannst du gewiss selbst Schritte machen? Kannst du jetzt gehen? Kannst du gewiss selbst gehen? Oh, wenn nur der Grossvater kaeme! Jetzt kannst du selbst gehen, Klara, jetzt kannst du gehen!" rief es ein Mal ums andere in jubelnder Freude aus. Klara hielt sich wohl fest an auf beiden Seiten, aber mit jedem Schritt wurde sie ein wenig sicherer, das konnten alle drei empfinden. Das Heidi kam ganz ausser sich vor Freude. "Oh, nun koennen wir alle Tage miteinander auf die Weide gehen und auf der Alp herum, wo wir wollen", rief es wieder aus, "und du kannst dein Lebtag gehen, wie ich, und musst nie mehr im Stuhl gestossen werden und wirst gesund. Oh, das ist die groesste Freude, die wir haben koennen!" Klara stimmte mit dem ganzen Herzen ein. Gewiss kannte sie gar kein groesseres Glueck auf der Welt, als auch einmal gesund zu sein und herumgehen zu koennen wie die anderen Menschen und nicht mehr elend die ganzen Tage lang in den Krankensessel gebannt zu sein. Es war nicht weit zu der Blumenhalde hinueber. Dort sah man schon das Glitzern der Goldroeschen in der Sonne. Jetzt waren sie bei den Bueschen der blauen Glockenblumen angekommen, wo zwischendurch der sonnige Boden so einladend aussah. "Koennen wir nicht hier niedersetzen?" fragte Klara. Das war ganz nach Heidis Wunsch, und mitten in die Blumen hinein setzten sich die Kinder, Klara zum erstenmal, auf den trockenen, warmen Alpenboden hin; das gefiel ihr unbeschreiblich wohl. Und nun rings um sie die wiegenden blauen Glockenblumen, die schimmernden Goldroeschen, das rote Tausendgueldenkraut und um und um der suesse Duft der braunen Kolbenbluemchen, der wuerzigen Pruenellen. Alles war so schoen! So schoen! Auch das Heidi neben ihr meinte, so schoen sei es noch nie gewesen da oben, und es wusste gar nicht, warum es eine solche Freude im Herzen hatte, dass es nur immer haette laut jauchzen moegen. Aber auf einmal kam es ihm dann wieder in den Sinn, dass Klara gesund geworden war; das war zu allem Schoenen ringsumher noch die allergroesste Freude. Klara wurde ganz still vor Wonne und Entzuecken ueber alles, was sie sah, und ueber alle die Aussichten, die ihr aufgegangen waren durch das eben Erlebte. Das grosse Glueck hatte fast nicht Platz in ihrem Herzen, und der Sonnenglanz und Blumenduft dazu ueberwaeltigten sie mit einem Wonnegefuehl, das sie voellig verstummen machte. Auch der Peter lag still und regungslos mitten in dem Blumenfelde, denn er war fest eingeschlafen. Leise und lieblich wehte hier der Wind hinter den schuetzenden Felsen hervor und saeuselte oben in den Bueschen. Von Zeit zu Zeit musste das Heidi wieder aufstehen und dahin laufen und dorthin, denn es war immer irgendwo noch schoener, die Blumen noch dichter, der Wohlgeruch noch staerker, weil ihn da der Wind hin und her wehte; ueberall musste es wieder hinsetzen. So vergingen die Stunden. Die Sonne war laengst ueber den Mittag hinaus, als ein Trueppchen der Geissen ganz ernsthaft auf die Blumenhalde zugeschritten kam. Es war nicht ihr Weideplatz, sie wurden nie dahin gefuehrt, denn es gefiel ihnen nicht, in den Blumen zu grasen. Sie sahen aus wie eine Gesandtschaft, der Distelfink voran. Die Geissen waren sichtlich ausgegangen, ihre Gesellschafter zu suchen, die sie so lange im Stich gelassen hatten und ueber alle Ordnung hinaus fortgeblieben waren, denn die Geissen kannten ihre Zeit wohl. Als der Distelfink die drei Vermissten in dem Blumenfelde entdeckte, stiess er ein ueberlautes Meckern aus, und auf der Stelle stimmte der ganze Chor ein, und fortmeckernd kamen sie alle dahergetrabt. Jetzt erwachte der Peter. Er musste sich aber stark die Augen reiben, denn es hatte ihm getraeumt, der Rollstuhl stehe wieder schoen rot gepolstert und unversehrt vor der Huette, und noch im Erwachen hatte er die goldenen Naegel um das Polster herum in der Sonne blitzen gesehen, aber jetzt entdeckte er, dass es nur die gelben Glitzerbluemchen auf dem Boden gewesen waren. Jetzt kam dem Peter die Angst zurueck, die er beim Anblick des unbeschaedigten Stuhles ganz verloren hatte. Wenn auch das Heidi versprochen hatte, nichts zu machen, so war doch nun die Furcht im Peter lebendig geworden, die Sache koennte auch sonst noch auskommen. Er liess sich jetzt ganz zahm und willig zum Fuehrer machen und tat alles perfekt so, wie das Heidi es haben wollte. Als nun wieder alle drei auf dem Weideplatz angekommen waren, holte das Heidi hurtig seinen vollen Speisesack herbei und schickte sich an, sein Versprechen zu loesen, denn auf den Inhalt des Sackes hatte seine Drohung sich bezogen. Es hatte wohl bemerkt am Morgen, wieviel gute Sachen der Grossvater da hineinpackte, und mit Freuden hatte es vorausgesehen, dass dem Peter davon ein guter Teil zufallen werde. Als er dann aber so stoerrig war, wollte es ihm zu verstehen geben, dass er nichts bekomme, was der Peter aber anders gedeutet hatte. Nun holte das Heidi Stueck fuer Stueck aus seinem Sack heraus und machte drei Haeufchen davon, die wurden so hoch, dass es voller Befriedigung vor sich hinsagte: "Dann bekommt er noch alles, was wir zuviel haben." Jetzt trug es jedem sein Haeufchen zu, und mit dem seinigen setzte es sich neben Klara hin, und die Kinder liessen sich's wohl schmecken nach der grossen Anstrengung. Es ging aber, wie das Heidi vorausgesehen hatte: Als sie beide voellig satt waren, blieb noch so viel uebrig, dass dem Peter noch einmal ein Haeufchen, so gross wie das erste, zugeschoben werden konnte. Er ass still und beharrlich alles auf und dann noch die Krumen, aber er vollzog sein Werk nicht mit der gewohnten Befriedigung. Dem Peter lag etwas auf dem Magen, das nagte und wuergte ihn und klemmte ihm jeden Bissen zusammen. Die Kinder waren so spaet zu ihrer Mahlzeit gekommen, dass schon gleich nachher der Grossvater zu sehen war, der die Alm hinanstieg, um sie abzuholen. Das Heidi stuerzte ihm entgegen; es musste ihm zuerst sagen, was sich ereignet hatte. Es war indes so erregt von seiner beglueckenden Nachricht, dass es die Worte fast nicht fand, sie dem Grossvater mitzuteilen. Er verstand aber sogleich, was das Kind berichtete, und eine helle Freude kam auf sein Gesicht. Er beschleunigte seinen Schritt, und bei Klara angekommen, sagte er froehlich laechelnd: "So, haben wir's gewagt? Nun haben wir's auch gewonnen!" Dann hob er Klara vom Boden auf, umfasste sie mit dem linken Arm und hielt ihr seine Rechte als starke Stuetze fuer ihre Hand hin, und Klara marschierte, mit der festen Wand im Ruecken, noch viel sicherer und unerschrockener dahin, als sie vorher getan hatte. Das Heidi huepfte und jauchzte nebenher, und der Grossvater sah aus, als sei ihm ein grosses Glueck widerfahren. Jetzt nahm er aber Klara mit einemmal auf seinen Arm und sagte: "Wir wollen's nicht uebertreiben, es ist auch Zeit zur Heimkehr", und er machte sich gleich auf den Weg, denn er wusste, dass nun der Anstrengungen fuer heute genug waren und Klara der Ruhe bedurfte. Als der Peter spaet am Abend mit seinen Geissen nach dem Doerfli herunter kam, stand eine Menge von Leuten an einem Knaeuel zusammen, und eins stiess das andere ein wenig weg, um besser sehen zu koennen, was mittendrin am Boden lag. Das musste der Peter auch sehen; er drueckte und draengte rechts und links und bohrte sich hinein. Da, jetzt sah er's. Auf dem Grase lag das Mittelstueck vom Rollstuhl, und noch ein Teil des Rueckens hing daran. Das rote Polster und die glaenzenden Naegel zeugten noch davon, wie praechtig der Stuhl in seiner Vollkommenheit ausgesehen hatte. "Ich war dabei, als sie ihn hinauftrugen", sagte der Baecker, der neben dem Peter stand; "wenigstens 500 Franken war er wert, das wett ich mit jedem. Es nimmt mich nur wunder, wie es zugegangen ist." "Der Wind kann ihn heruntergejagt haben, das hat der Oehi selbst gesagt", bemerkte die Barbel, die nicht genug das schoene rote Zeug bewundern konnte. "Es ist gut, dass es kein anderer ist, der's getan hat", sagte der Baecker wieder; "dem ging's schoen! Wenn es der Herr in Frankfurt vernimmt, wird er schon untersuchen lassen, wie's zugegangen ist. Ich fuer mich bin froh, dass ich seit zwei Jahren nie mehr auf der Alm war; der Verdacht kann auf jeden fallen, der um die Zeit dort oben gesehen wurde." Es wurden noch viele Meinungen ausgesprochen, aber der Peter hatte genug gehoert. Er kroch ganz zahm und sachte aus dem Knaeuel heraus und lief aus allen Kraeften den Berg hinauf, so als waere einer hinter ihm drein, der ihn packen wollte. Die Worte des Baeckers hatten ihm eine furchtbare Angst eingejagt. Er wusste ja jetzt, dass jeden Augenblick ein Polizeidiener aus Frankfurt ankommen konnte, der die Sache untersuchen musste, und dann konnte es doch rauskommen, dass er es getan hatte, und dann wuerden sie ihn packen und nach Frankfurt ins Zuchthaus schleppen. Das sah der Peter vor sich, und seine Haare straeubten sich vor Schrecken. Ganz verstoert kam er daheim an. Er gab keine Antwort, auf gar nichts, er wollte seine Kartoffeln nicht essen; eilends kroch er in sein Bett hinein und stoehnte. "Der Peterli hat wieder Sauerampfer gegessen, er hat's im Magen, dass er so aechzen muss", meinte die Mutter Brigitte. "Du musst ihm ein wenig mehr Brot mitgeben, gib ihm morgen noch ein Stuecklein von dem meinen", sagte die Grossmutter mitleidig. Als die Kinder heute von ihren Betten in den Sternenschein hinausschauten, sagte das Heidi: "Hast du nicht heut den ganzen Tag denken muessen, wie gut es doch ist, dass der liebe Gott nicht nachgibt, wenn wir noch so furchtbar stark beten um etwas, wenn er etwas viel Besseres weiss?" "Warum sagst du das jetzt auf einmal, Heidi?" fragte Klara. "Weisst du, weil ich in Frankfurt so stark gebetet habe, dass ich doch auf der Stelle heimgehen koenne, und weil ich das immer nicht konnte, habe ich gedacht, der liebe Gott habe nicht zugehoert. Aber weisst du, wenn ich so bald fortgelaufen waere, so waerest du nie gekommen, und du waerest nicht gesund geworden auf der Alp." Klara war ganz nachdenklich geworden. "Aber, Heidi", fing sie nun wieder an, "dann muessten wir ja um gar nichts beten, weil der liebe Gott ja schon immer etwas viel Besseres im Sinn hat, als wir wissen und wir von ihm erbitten wollen." "Ja, ja, Klara, meinst du, es gehe dann nur so?" eiferte jetzt das Heidi. "Alle Tage muss man zum lieben Gott beten und um alles, alles, denn er muss doch hoeren, dass wir es nicht vergessen, dass wir alles von ihm bekommen. Und wenn wir den lieben Gott vergessen wollen, so vergisst er uns auch, das hat die Grossmama gesagt. Aber weisst du, wenn wir dann nicht bekommen, was wir gern haetten, dann muessen wir nicht denken, der liebe Gott hat nicht zugehoert, und ganz aufhoeren zu beten, sondern dann muessen wir so beten: Jetzt weiss ich schon, lieber Gott, dass du etwas Besseres im Sinn hast, und jetzt will ich nur froh sein, dass du es so gut machen willst." "Wie ist dir das alles so in den Sinn gekommen, Heidi?" fragte Klara. "Die Grossmama hat mir's zuerst erklaert, und dann ist es auch so gekommen, und dann hab ich's gewusst. Aber ich meine auch, Klara", fuhr das Heidi fort, indem es sich aufsetzte, "heute muessen wir gewiss dem lieben Gott noch recht danken, dass er das grosse Glueck geschickt hat, dass du jetzt gehen kannst." "Ja gewiss, Heidi, du hast recht, und ich bin froh, dass du mich noch erinnerst; vor lauter Freude haette ich es fast vergessen." Jetzt beteten die Kinder noch und dankten dem lieben Gott jedes in seiner Weise fuer das herrliche Gut, das er der so lange krank gewesenen Klara geschenkt hatte. Am andern Morgen meinte der Grossvater, nun koennte man einmal an die Frau Grossmama schreiben, ob sie nicht jetzt nach der Alp kommen wolle, es waere da etwas Neues zu sehen. Aber die Kinder hatten einen andern Plan gemacht. Sie wollten der Grossmama eine grosse Ueberraschung bereiten. Erst sollte Klara das Gehen noch besser lernen, so dass sie, allein auf das Heidi gestuetzt, einen kleinen Gang machen koennte; von allem aber muesste die Grossmama keine Ahnung haben. Nun wurde der Grossvater beraten, wie lange das noch waehren koennte, und da er meinte, kaum acht Tage, so wurde im naechsten Briefe die Grossmama dringend eingeladen, um diese Zeit auf die Alp zu kommen; von etwas Neuem wurde ihr aber kein Wort berichtet. Die Tage, die nun folgten, waren noch von den allerschoensten, welche Klara auf der Alp verlebt hatte. Jeden Morgen erwachte sie mit der lauten Freudenstimme in ihrem Herzen: "Ich bin gesund! Ich bin gesund! Ich muss nicht mehr im Rollstuhl sitzen, ich kann selbst umhergehen wie die anderen Menschen!" Dann folgte das Umhergehen, und jeden Tag ging es leichter und besser, und immer laengere Gaenge konnten gemacht werden. Die Bewegung brachte dann einen solchen Appetit mit sich, dass der Grossvater seine dicken Butterschnitten taeglich ein wenig groesser machte und mit Wohlgefallen sah, wie sie verschwanden. Er brachte jetzt auch immer einen grossen Topf voll von der schaeumenden Milch herbei und fuellte Schuesselchen um Schuesselchen. So kam das Ende der Woche heran und damit der Tag, der die Grossmama bringen sollte! Es wird Abschied genommen, aber auf Wiedersehen Die Grossmama hatte einen Tag vor ihrer Ankunft noch einen Brief nach der Alp hinauf geschrieben, damit sie oben bestimmt wuessten, dass sie komme. Diesen Brief brachte am andern Tage der Peter in der Fruehe mit sich, als er auf die Weide zog. Schon war der Grossvater mit den Kindern aus der Huette getreten, und auch Schwaenli und Baerli standen beide draussen und schuettelten lustig ihre Koepfe in der frischen Morgenluft, waehrend die Kinder sie streichelten und ihnen glueckliche Reise wuenschten zu ihrer Bergfahrt. Behaglich stand der Oehi dabei und schaute bald auf die frischen Gesichter der Kinder, bald auf seine sauber glaenzenden Geissen nieder. Beides musste ihm gefallen, denn er laechelte vergnueglich. Jetzt kam der Peter heran. Als er die Gruppe gewahr wurde, naeherte er sich langsam, streckte den Brief dem Oehi entgegen, und sobald dieser ihn erfasst hatte, sprang er scheu zurueck, so als ob ihn etwas erschreckt habe, und dann guckte er schnell hinter sich, gerade als ob von hinten ihn auch noch etwas haette erschrecken wollen; dann machte er einen Sprung und lief davon, den Berg hinauf. "Grossvater", sagte das Heidi, das dem Vorgang verwundert zugeschaut hatte, "warum tut der Peter jetzt immer wie der grosse Tuerk, wenn der eine Rute hinter sich merkt; dann scheut er mit dem Kopf und schuettelt ihn nach allen Seiten und macht auf einmal Spruenge in die Luft hinauf." "Vielleicht merkt der Peter auch eine Rute hinter sich, die er verdient", antwortete der Grossvater. Nur die erste Halde hinauf lief der Peter so in einem Zuge davon; sobald man ihn von unten nicht mehr sehen konnte, kam es anders. Da stand er still und drehte scheu den Kopf nach allen Seiten. Ploetzlich tat er einen Sprung und schaute hinter sich, so erschreckt, als habe ihn eben einer im Genick gepackt. Hinter jedem Busch hervor, aus jeder Hecke heraus meinte jetzt der Peter den Polizeidiener aus Frankfurt auf sich losstuerzen zu sehen. Je laenger aber diese gespannte Erwartung dauerte, je schreckhafter wurde es dem Peter zumute, er hatte keinen ruhigen Augenblick mehr. Nun musste das Heidi seine Huette aufraeumen, denn die Grossmama sollte doch alles in guter Ordnung finden, wenn sie kam. Klara fand dieses geschaeftige Treiben Heidis in allen Ecken der Huette herum immer so kurzweilig, dass sie mit Vorliebe dieser Taetigkeit zuschaute. So vergingen die fruehen Morgenstunden den Kindern unversehens, und schon konnte man der Ankunft der Grossmama entgegensehen. Jetzt kamen die Kinder bereit und zum Empfange geruestet wieder heraus und setzten sich nebeneinander auf die Bank vor die Huette, in voller Erwartung auf die kommenden Ereignisse. Auch der Grossvater trat jetzt wieder zu ihnen. Er hatte einen Gang gemacht und hatte einen grossen Strauss dunkelblauer Enzianen mitgebracht, die leuchteten so schoen in der hellen Morgensonne, dass die Kinder aufjauchzten bei dem Anblick. Der Grossvater trug sie in die Huette hinein. Von Zeit zu Zeit sprang das Heidi von der Bank, um auszuspaehen, ob von dem Zuge der Grossmama noch nichts zu entdecken sei. Aber jetzt: Da kam es von unten herauf, gerade so, wie das Heidi es erwartet hatte. Voran stieg der Fuehrer, dann kam das weisse Ross und die Grossmama darauf, und zuletzt kam der Traeger mit dem hohen Reff, denn ohne reichlich Schutzmittel zog die Grossmama nun einmal nicht auf die Alp. Naeher und naeher kam der Zug. Jetzt war die Hoehe erreicht; die Grossmama erblickte die Kinder von ihrem Pferde herunter. "Was ist denn das? Was seh ich, Klaerchen? Du sitzest nicht in deinem Sessel! Wie ist das moeglich?" rief sie erschrocken aus und stieg nun eilig herunter. Bevor sie aber noch bei den Kindern angekommen war, schlug sie die Haende zusammen und rief in der hoechsten Aufregung: "Klaerchen, bist du's, oder bist du's nicht? Du hast ja rote Wangen, kugelrunde! Kind! Ich kenne dich nicht mehr!" Jetzt wollte die Grossmama auf Klara losstuerzen. Aber unversehens war das Heidi von der Bank geglitten, Klara hatte sich schnell auf seine Schultern gestuetzt, und fort wanderten die Kinder, ganz gelassen einen kleinen Spaziergang machend. Die Grossmama war ploetzlich stillgestanden, erst vor Schrecken, sie meinte nicht anders, als das Heidi stelle eben etwas Unerhoertes an. Aber was sah sie vor sich! Aufrecht und sicher ging Klara neben dem Heidi her; jetzt kamen sie wieder zurueck, beide mit strahlenden Gesichtern, beide mit rosenroten Backen. Jetzt stuerzte die Grossmama ihnen entgegen. Lachend und weinend umarmte sie ihr Klaerchen, dann das Heidi, dann wieder Klara. Vor Freude fand die Grossmama gar keine Worte. Auf einmal fiel ihr Blick auf den Oehi, der bei der Bank stand und mit behaglichem Laecheln nach den dreien herueberschaute. Jetzt fasste die Grossmama Klaras Arm in den ihrigen und wanderte mit ihr unter immerwaehrenden Ausrufungen des Entzueckens, dass es ja wirklich so sei, dass sie umherwandern koenne mit dem Kinde, der Bank zu. Hier liess sie Klara los und ergriff den Alten bei beiden Haenden. "Mein lieber Oehi! Mein lieber Oehi! Was haben wir Ihnen zu danken! Es ist Ihr Werk! Es ist Ihre Sorge und Pflege..." "Und unseres Herrgotts Sonnenschein und Almluft", fiel der Oehi laechelnd ein. "Ja, und Schwaenlis gute, schoene Milch gewiss auch", rief nun Klara ihrerseits. "Grossmama, du solltest nur wissen, wie ich die Geissenmilch trinken kann und wie gut sie ist!" "Ja, das kann ich an deinen Backen sehen, Klaerchen", sagte jetzt die Grossmama lachend. "Nein, dich kennt man nicht mehr; rund, breit bist du ja geworden, wie ich nie geahnt, dass du je werden koenntest, und gross bist du, Klaerchen! Nein, ist es denn auch wahr? Ich kann dich ja nicht genug ansehen! Aber nun muss auf der Stelle telegrafiert werden an meinen Sohn in Paris, er muss sogleich kommen. Ich sag ihm nicht, warum, das ist die groesste Freude seines Lebens. Mein lieber Oehi, wie machen wir das? Sie haben wohl die Maenner schon entlassen?" "Die sind fort", antwortete er, "aber wenn's der Frau Grossmama pressiert, so laesst man den Geissenhueter herunterkommen, der hat Zeit." Die Grossmama bestand darauf, sofort ihrem Sohne eine Depesche zu schicken, denn dieses Glueck sollte ihm keinen Tag vorenthalten bleiben. Nun ging der Oehi ein wenig auf die Seite, und hier tat er einen so durchdringenden Pfiff durch seine Finger, dass es hoch oben von den Felsen zurueckpfiff, so weit weg hatte er das Echo geweckt. Es waehrte gar nicht lange, so kam der Peter heruntergerannt, er kannte den Pfiff wohl. Der Peter war kreideweiss, denn er dachte, der Almoehi rufe ihn zum Gericht. Es wurde ihm aber nur ein Papier uebergeben, das die Grossmama unterdessen ueberschrieben hatte, und der Oehi erklaerte ihm, er habe das Papier sofort ins Doerfli hinunterzutragen und auf dem Postamt abzugeben, die Bezahlung werde der Oehi spaeter selbst in Ordnung bringen, denn so viele Dinge auf einmal konnte man dem Peter nicht uebertragen. Dieser ging nun mit seinem Papier in der Hand, fuer diesmal wieder erleichtert, davon, denn der Oehi hatte ja nicht zum Gericht gepfiffen, es war kein Polizeidiener angekommen. Endlich konnte man sich denn fest und ruhig zusammen um den Tisch vor der Huette herumsetzen, und nun musste der Grossmama erzaehlt werden, wie von Anfang an alles sich zugetragen hatte. Wie zuerst der Grossvater jeden Tag ein wenig das Stehen und dann ein Schrittchen mit Klara probiert hatte, wie dann die Reise auf die Weide gekommen war und der Wind den Rollstuhl fortgejagt hatte. Wie Klara vor Begierde nach den Blumen den ersten Gang machen konnte und so eins aus dem andern gekommen war. Aber es waehrte lange, bis diese Erzaehlung von den Kindern zu Ende gebracht wurde, denn zwischendurch musste die Grossmama immer wieder in Verwunderung und in Lob und Dank ausbrechen, und immer wieder rief sie aus: "Aber ist es denn auch moeglich! Ist es denn auch wirklich kein Traum? Sind wir denn auch alle wach, und sitzen wir hier vor der Almhuette, und das Maedchen vor mir mit dem runden, frischen Gesicht ist mein altes, bleiches, kraftloses Klaerchen?" Und Klara und Heidi hatten immer neue Freude, dass ihre schoen ausgedachte Ueberraschung so gut gelungen war bei der Grossmama und immer noch fortwirkte. Herr Sesemann hatte unterdessen seine Geschaefte in Paris beendet, und auch er hatte vor, eine Ueberraschung zu bereiten. Ohne ein Wort an seine Mutter zu schreiben, setzte er sich an einem der sonnigen Sommermorgen auf die Eisenbahn und fuhr in einem Zuge bis nach Basel, von wo er in aller Fruehe des folgenden Tages gleich wieder aufbrach, denn es hatte ihn ein grosses Verlangen ergriffen, einmal wieder sein Toechterchen zu sehen, von dem er nun den ganzen Sommer durch getrennt gewesen war. Im Bade Ragaz kam er einige Stunden nach der Abfahrt seiner Mutter an. Die Nachricht, dass sie eben heute die Reise nach der Alp unternommen habe, kam ihm gerade recht. Sofort setzte er sich in einen Wagen und fuhr nach Maienfeld hinueber. Als er da hoerte, dass er auch noch bis zum Doerfli hinauffahren koenne, tat er dies, denn er dachte, die Fusspartie den Berg hinauf werde ihm immer noch lang genug werden. Herr Sesemann hatte sich nicht getaeuscht; die unausgesetzte Steigung die Alp hinan kam ihm sehr lang und beschwerlich vor. Noch immer war keine Huette in Sicht, und er wusste doch, dass auf halbem Wege er auf die Wohnung des Geissenpeter stossen sollte, denn oftmals hatte er die Beschreibung dieses Weges vernommen. Es waren ueberall Spuren von Fussgaengern zu sehen, manchmal gingen die schmalen Wege nach allen Richtungen hin. Herr Sesemann wurde unsicher, ob er auch auf dem richtigen Pfade sei oder ob vielleicht die Huette auf einer andern Seite der Alp liege. Er sah sich um, ob kein menschliches Wesen zu entdecken sei, das er um den Weg befragen koennte. Aber es war still ringsum, weit und breit war nichts zu sehen noch zu hoeren. Nur der Bergwind sauste dann und wann durch die Luft, und im sonnigen Blau summten die kleinen Muecken, und ein lustiges Voegelein pfiff da und dort auf einem einsamen Laerchenbaeumchen. Herr Sesemann stand eine Weile still und liess sich die heisse Stirne vom Alpenwinde kuehlen. Jetzt kam jemand von oben heruntergelaufen; es war der Peter mit seiner Depesche in der Hand. Er lief gradaus, steil herunter, nicht auf dem Fusswege, auf dem Herr Sesemann stand. Sobald der Laeufer aber nahe genug war, winkte ihm Herr Sesemann, dass er herueberkommen sollte. Zoegernd und scheu kam der Peter heran, seitwaerts, nicht gradaus, und so, als koenne er nur mit dem einen Fuss richtig vorankommen und muesse den andern nachschleppen. "Na, Junge, frisch heran!" ermunterte Herr Sesemann. "Jetzt sag mir mal, komme ich auf diesem Wege zu der Huette hinauf, wo der alte Mann mit dem Kinde Heidi wohnt, bei dem die Leute aus Frankfurt sind?" Ein dumpfer Ton furchtbarsten Schreckens war die Antwort, und so masslos schoss der Peter davon, dass er kopfueber und ueber die steile Halde hinabstuerzte und fortrollte in unwillkuerlichen Purzelbaeumen, immer weiter und weiter, ganz aehnlich, wie der Rollstuhl getan hatte, nur dass gluecklicherweise der Peter nicht in Stuecke ging, wie es bei dem Sessel der Fall gewesen war. Nur die Depesche wurde arg zugerichtet und flog in Fetzen davon. "Merkwuerdig schuechterner Bergbewohner", sagte Herr Sesemann vor sich hin, denn er dachte nicht anders, als dass die Erscheinung eines Fremden diesen starken Eindruck auf den einfachen Alpensohn hervorgebracht habe. Nachdem er Peters gewalttaetige Talfahrt noch ein wenig betrachtet hatte, setzte Herr Sesemann seinen Weg weiter fort. Der Peter konnte trotz aller Anstrengung keinen festen Standpunkt gewinnen, er rollte immerzu, und von Zeit zu Zeit ueberschlug er sich noch in besonderer Weise. Aber das war nicht die schrecklichste Seite seines Schicksals in diesem Augenblick, viel erschrecklicher waren die Angst und das Entsetzen, die ihn erfuellten, nun er wusste, dass der Polizeidiener aus Frankfurt wirklich angekommen war. Denn er konnte nicht daran zweifeln, dass der Fremde es sei, der den Frankfurtern beim Almoehi nachgefragt hatte. Jetzt, am letzten hohen Abhange oberhalb des Doerfli, warf es den Peter an einen Busch hin, da konnte er sich endlich festklammern. Einen Augenblick blieb er noch liegen, er musste sich erst wieder ein wenig besinnen, was mit ihm sei. "Gut so, wieder einer!" sagte eine Stimme hart neben dem Peter. "Und wer kriegt morgen den Puff da droben, dass er herunterkommt wie ein schlechtvernaehter Kartoffelsack?" Es war der Baecker, der so spottete. Da er da droben aus seinem heissen Tagewerk weg sich ein wenig erluften wollte, hatte er ruhig zugesehen, wie eben der Peter, dem Heranrollen des Stuhles nicht unaehnlich, von oben heruntergekommen war. Der Peter schnellte auf seine Fuesse. Er hatte einen neuen Schrecken. Jetzt wusste der Baecker auch schon, dass der Stuhl einen Puff bekommen hatte. Ohne ein einziges Mal zurueckzusehen, lief der Peter wieder den Berg hinauf. Am liebsten waere er jetzt heimgegangen und in sein Bett gekrochen, dass ihn keiner mehr finden konnte, denn da fuehlte er sich am sichersten. Aber er hatte ja die Geissen noch oben, und der Oehi hatte ihm noch eingeschaerft, bald wiederzukommen, damit die Herde nicht zu lange allein sei. Den Oehi aber fuerchtete er vor allen und hatte einen solchen Respekt vor ihm, dass er niemals gewagt haette, ihm ungehorsam zu sein. Der Peter aechzte laut und hinkte weiter, es musste ja sein, er musste wieder hinauf. Aber rennen konnte er jetzt nicht mehr, die Angst und die mannigfaltigen Stoesse, die er soeben erduldet hatte, konnten nicht ohne Wirkung bleiben. So ging es denn mit Hinken und Stoehnen weiter die Alm hinauf. Herr Sesemann hatte kurz nach der Begegnung mit Peter die erste Huette erreicht und wusste nun, dass er auf dem richtigen Wege war. Er stieg mit erneutem Mute weiter, und endlich, nach langer, muehevoller Wanderung, sah er sein Ziel vor sich. Dort oben stand die Almhuette, und oben darueber wogten die dunkeln Wipfel der alten Tannen. Herr Sesemann ging mit Freuden an die letzte Steigung, gleich konnte er sein Kind ueberraschen. Aber schon war er von der Gesellschaft vor der Huette entdeckt und erkannt worden, und fuer den Vater wurde vorbereitet, was er nicht ahnte. Als er den letzten Schritt zur Hoehe getan hatte, kamen ihm von der Huette her zwei Gestalten entgegen. Es war ein grosses Maedchen mit hellblonden Haaren und einem rosigen Gesichtchen, das stuetzte sich auf das kleinere Heidi, dem ganze Freudenblitze aus den dunklen Augen funkelten. Herr Sesemann stutzte, er stand still und starrte die Herankommenden an. Auf einmal stuerzten ihm die grossen Traenen aus den Augen. Was stiegen auch fuer Erinnerungen in seinem Herzen auf! Ganz so hatte Klaras Mutter ausgesehen, das blonde Maedchen mit den angehauchten Rosenwangen. Herr Sesemann wusste nicht, war er wachend, oder traeumte er. "Papa, kennst du mich denn gar nicht mehr?" rief ihm jetzt Klara mit freudestrahlendem Gesicht entgegen. "Bin ich denn so veraendert?" Nun stuerzte Herr Sesemann auf sein Toechterchen zu und schloss es in seine Arme. "Ja, du bist veraendert! Ist es moeglich? Ist es Wirklichkeit?" Und der ueberglueckliche Vater trat wieder einen Schritt zurueck, um noch einmal hinzusehen, ob denn das Bild nicht verschwinde vor seinen Augen. "Bist du's, Klaerchen, bist du's denn wirklich?" musste er ein Mal ums andere ausrufen. Dann schloss er sein Kind wieder in die Arme, und gleich nachher musste er noch einmal sehen, ob es wirklich sein Klaerchen sei, das aufrecht vor ihm stand. Jetzt war auch die Grossmama herbeigekommen, sie konnte nicht so lange warten, bis sie das glueckliche Gesicht ihres Sohnes erblicken sollte. "Na, mein lieber Sohn, was sagst du jetzt?" rief sie ihm zu. "Die Ueberraschung, die du uns machst, ist recht schoen; aber diejenige, die man dir bereitet hat, ist noch viel schoener, nicht?" Und die erfreute Mutter begruesste nun mit grosser Herzlichkeit ihren lieben Sohn. "Aber jetzt, mein Lieber", sagte sie dann, "kommst du mit mir dort hinueber, unsern Oehi zu begruessen, der ist unser allergroesster Wohltaeter." "Gewiss, und auch unsere Hausgenossin, unser kleines Heidi, muss ich noch begruessen", sagte Herr Sesemann, indem er Heidis Hand schuettelte. "Nun? Immer frisch und gesund auf der Alp? Aber man muss nicht fragen, kein Alpenroeschen kann bluehender aussehen. Das ist mir eine Freude, Kind, das ist mir eine grosse Freude!" Auch das Heidi schaute mit leuchtender Freude zu dem freundlichen Herrn Sesemann auf. Wie gut war er immer zu ihm gewesen! Und dass er nun hier auf der Alp ein solches Glueck finden sollte, das machte Heidis Herz laut schlagen vor grosser Freude. Jetzt fuehrte die Grossmama ihren Sohn zum Almoehi hinueber, und waehrend nun die beiden Maenner sich sehr herzlich die Haende schuettelten und Herr Sesemann begann, seinen tiefgefuehlten Dank auszusprechen und sein unermessliches Erstaunen darueber, wie nur dieses Wunder hatte geschehen koennen, da wandte sich die Grossmama und ging ein wenig nach der andern Seite hinueber, dann das hatte sie nun schon durchgesprochen. Sie wollte einmal nach den alten Tannen sehen. Da harrte ihrer schon wieder etwas Unerwartetes. Mitten unter den Baeumen, da, wo die langen Aeste noch einen freien Platz gelassen hatten, stand ein grosser Busch der wundervollsten, dunkelblauen Enzianen, so frisch und glaenzend, als waeren sie eben da herausgewachsen. Die Grossmama schlug die Haende zusammen vor Entzuecken. "Wie koestlich! Wie praechtig! Welch ein Anblick!" rief sie ein Mal ums andere aus. "Heidi, mein liebes Kind, komm hierher! Hast du mir das zur Freude bereitet? Es ist vollkommen wundervoll." Die Kinder waren schon da. "Nein, nein, ich gewiss nicht", sagte das Heidi, "aber ich weiss schon, wer's gemacht hat." "So ist's droben auf der Weide, Grossmama, und noch viel schoener", fiel hier Klara ein. "Aber rat einmal, wer dir heut frueh schon die Blumen von der Weide heruntergeholt hat!" Und Klara laechelte so vergnueglich zu ihrer Rede, dass der Grossmama einen Augenblick der Gedanke kam, das Kind sei am Ende heute selbst schon dort oben gewesen. Das war doch aber fast nicht moeglich. Jetzt hoerte man ein leises Geraeusch hinter den Tannenbaeumen; es kam vom Peter her, der unterdessen hier oben angelangt war. Da er aber gesehen hatte, wer beim Oehi vor der Huette stand, hatte er einen grossen Bogen gemacht und wollte nun ganz heimlich hinter den Tannen hinaufschleichen. Aber die Grossmama hatte ihn erkannt, und ploetzlich stieg ein neuer Gedanke in ihr auf. Sollte der Peter die Blumen heruntergebracht haben und nun aus lauter Scheu und Bescheidenheit so heimlich vorbeischleichen wollen? Nein, das durfte nicht sein, er sollte doch eine kleine Belohnung haben. "Komm, mein Junge, komm hier heraus, frisch, ohne Scheu!" rief die Grossmama laut und steckte ein wenig den Kopf zwischen die Baeume hinein. Starr vor Schrecken stand der Peter still. Er hatte keine Widerstandskraft mehr nach allem Erlebten. Er fuehlte nur noch das eine: Jetzt ist's aus! Alle Haare standen ihm aufrecht auf dem Kopf, und farblos und entstellt von hoechster Angst trat der Peter hinter den Tannen hervor. "Nur frisch heran, ohne Umwege", ermunterte die Grossmama. "So, nun sag mir mal, Junge, hast du das gemacht?" Der Peter hob seine Augen nicht auf und sah nicht, wohin der Zeigefinger der Grossmama wies. Er hatte gesehen, dass der Oehi an der Ecke der Huette stand und dass dessen graue Augen durchdringend auf ihn gerichtet waren, und neben dem Oehi stand das Schrecklichste, das der Peter kannte, der Polizeidiener aus Frankfurt. An allen Gliedern zitternd und bebend, stiess der Peter einen Laut hervor, es war ein "Ja". "Nanu", sagte die Grossmama, "was ist denn das Schreckliche dabei?" "Dass er... dass er... dass er auseinander ist und man ihn nicht mehr ganz machen kann", brachte muehsam der Peter heraus, und nun schlotterten seine Knie so, dass er fast nicht mehr stehen konnte. Die Grossmama ging nach der Huettenecke hinueber. "Mein lieber Oehi, rappelt es denn wirklich ernstlich bei dem armen Buben?" fragte sie teilnehmend. "Gar nicht, gar nicht", versicherte der Oehi. "Der Bube ist nur der Wind, der den Rollstuhl fortgejagt hat, und nun erwartet er seine wohlverdiente Strafe." Das konnte nun die Grossmama gar nicht glauben, denn sie meinte, boshaft sehe der Peter doch ganz und gar nicht aus, und sonst haette er doch keinen Grund gehabt, den so notwendigen Rollstuhl zu zerstoeren. Aber dem Oehi war das Gestaendnis nur die Bestaetigung eines Verdachtes gewesen, der gleich nach der Tat in ihm aufgestiegen war. Die grimmigen Blicke, die der Peter von Anfang an der Klara zugeworfen hatte, und andere Merkmale seiner Erbitterung gegen die neuen Erscheinungen auf der Alp waren dem Oehi nicht entgangen. Er hatte einen Gedanken an den andern gehaengt, und so hatte er genau den ganzen Gang der Dinge erkannt und teilte ihn jetzt der Grossmama in aller Klarheit mit. Als er zu Ende war, brach die Dame in grosse Lebhaftigkeit aus. "Nein, mein lieber Oehi, nein, nein, den armen Buben wollen wir nicht weiter strafen. Man muss billig sein. Da kommen die fremden Leute aus Frankfurt hereingebrochen und nehmen ihm ganze Wochen lang das Heidi weg, sein einziges Gut und wirklich ein grosses Gut, und da sitzt er allein Tag fuer Tag und hat das Nachsehen. Nein, nein, da muss man billig sein; der Zorn hat ihn ueberwaeltigt und hat ihn zu der Rache getrieben, die ein wenig dumm war, aber im Zorn werden wir alle dumm." Damit ging die Grossmama zum Peter zurueck, der noch immerfort bebte und schlotterte. Sie setzte sich auf die Bank unter die Tanne und sagte freundlich: "So, nun komm, mein Junge, da vor mich hin, ich habe dir etwas zu sagen. Hoere auf zu zittern und zu beben und hoer mir zu, das will ich haben. Du hast den Rollstuhl den Berg hinuntergejagt, damit er zerschmettere. Das war etwas Boeses, das hast du recht wohl gewusst, und dass du eine Strafe verdientest, das wusstest du auch, und damit du diese nicht erhaltest, hast du dich recht anstrengen muessen, dass keiner es merke, was du getan hattest. Aber siehst du: Wer etwas Boeses tut und denkt, es weiss keiner, der verrechnet sich immer. Der liebe Gott sieht und hoert ja doch alles, und sobald er bemerkt, dass ein Mensch seine boese Tat verheimlichen will, so weckt er schnell in dem Menschen das Waechterchen auf, das er schon bei seiner Geburt in ihn hineingesetzt hat und das da drinnen schlafen darf, bis der Mensch ein Unrecht tut. Und das Waechterchen hat einen kleinen Stachel in der Hand, mit dem sticht es nun in einem fort den Menschen, dass er gar keinen ruhigen Augenblick mehr hat. Und auch mit seiner Stimme beaengstigt es den Gequaelten noch, denn es ruft ihm immer quaelend zu: 'Jetzt kommt alles aus! jetzt holen sie dich zur Strafe!' So muss er immer in Angst und Schrecken leben und hat keine Freude mehr, gar keine. Hast du nicht auch so etwas erfahren, Peter, eben jetzt?" Der Peter nickte ganz zerknirscht, aber wie ein Kenner, denn gerade so war es ihm ergangen. "Und noch in einer Weise hast du dich verrechnet", fuhr die Grossmama fort. "Sieh, wie das Boese, das du tatest, zum Besten ausfiel fuer die, der du es zufuegen wolltest! Weil Klara keinen Sessel mehr hatte, auf dem man sie hinbringen konnte, und doch die schoenen Blumen sehen wollte, so strengte sie sich ganz besonders an zu gehen, und so lernte sie's und geht nun immer besser, und bleibt sie hier, so kann sie am Ende jeden Tag hinauf zur Weide gehen, viel oefter, als sie in ihrem Stuhle hinaufgekommen waere. Siehst du wohl, Peter? So kann der liebe Gott, was einer boese machen wollte, nur schnell in seine Hand nehmen und fuer den andern, der geschaedigt werden sollte, etwas Gutes daraus machen, und der Boesewicht hat das Nachsehen und den Schaden davon. Hast du nun auch alles gut verstanden, Peter, ja? So denk daran, und jedesmal, wenn es dich wieder geluesten sollte, etwas Boeses zu tun, denk an das Waechterchen da drinnen mit dem Stachel und der unangenehmen Stimme. Willst du das tun?" "Ja, so will ich", antwortete der Peter, noch sehr gedrueckt, denn noch wusste er ja nicht, wie alles enden wuerde, da der Polizeidiener immer noch drueben stand neben dem Oehi. "So, nun ist's gut, die Sache ist abgetan", schloss die Grossmama. "Nun sollst du aber auch noch ein Andenken an die Frankfurter haben, das dich freut. So sag mir nun, mein Junge, hast du auch schon mal was gewuenscht, das du haben moechtest? Was war's denn? Was moechtest du am liebsten haben?" Jetzt hob der Peter seinen Kopf auf und starrte die Grossmama mit ganz kugelrunden, erstaunten Augen an. Noch immer hatte er etwas Schreckliches erwartet, und nun sollte er auf einmal bekommen, was er gern haette. Dem Peter kam alles durcheinander in seinen Gedanken. "Ja, ja, es ist mir Ernst", sagte die Grossmama. "Du sollst etwas haben, das dich freut, zur Erinnerung an die Leute von Frankfurt und zum Zeichen, dass sie nicht mehr daran denken, dass du etwas Unrechtes getan hast. Verstehst du's nun, Junge?" In dem Peter fing die Einsicht aufzudaemmern an, dass er keine Strafe mehr zu befuerchten habe und dass die gute Frau, die vor ihm sass, ihn aus der Gewalt des Polizeidieners errettet hatte. Jetzt empfand er eine Erleichterung, als fiele ein Berg von ihm ab, der ihn fast zusammengedrueckt hatte. Aber nun hatte er auch begriffen, dass es besser geht, wenn man gleich eingestellt, was gefehlt ist, und auf einmal sagte er: "Und das Papier hab ich auch verloren." Die Grossmama musste sich ein wenig besinnen, aber der Zusammenhang kam ihr bald in den Sinn, und sie sagte freundlich: "So, so, es ist recht, dass du's sagst! Immer gleich bekennen, was nicht recht ist; dann kommt's wieder in Ordnung. Und jetzt, was haettest du gern?" Nun konnte der Peter auf der Welt wuenschen, was er nur wollte. Es wurde ihm fast schwindelig. Der ganze Jahrmarkt von Maienfeld flimmerte vor seinen Augen mit all den schoenen Sachen, die er oft stundenlang angestaunt und fuer immer unerreichbar gehalten hatte, denn Peters Besitztum hatte nie einen Fuenfer ueberstiegen, und alle die lockenden Gegenstaende kosteten immer das Doppelte. Da waren die schoenen roten Pfeifchen, die er so gut fuer seine Geissen brauchen konnte. Da waren die lockenden Messer mit runden Heften, Kroetenstecher genannt, mit denen man in allen Haselrutenhecken die besten Geschaefte machen konnte. Tiefsinnig stand der Peter da, denn er ueberdachte, welches von den zweien das Wuenschbarste waere, und er fand den Entscheid nicht. Aber jetzt kam ihm ein lichtvoller Gedanke; so konnte er sich noch bis zum naechsten Jahrmarkt besinnen. "Einen Zehner", antwortete Peter jetzt entschlossen. Die Grossmama lachte ein wenig. "Das ist nicht uebertrieben. So komm her!" Sie zog jetzt ihren Beutel heraus und nahm einen grossen, runden Taler heraus; darauf legte sie noch zwei Zehnerstueckchen. "So, wir wollen gerade Rechnung machen", fuhr sie fort; "das will ich dir erklaeren. Hier hast du nun gerade so viele Zehner, als Wochen im Jahre sind! So kannst du jeden Sonntag einen Zehner hervornehmen und verbrauchen, das ganze Jahr durch." "Meiner Lebtag?" fragte der Peter ganz harmlos. Jetzt musste die Grossmama so ungeheuer lachen, dass die Herren drueben ihr Gespraech unterbrechen mussten, um zu hoeren, was da vorgehe. Die Grossmama lachte immer noch. "Das sollst du haben, Junge, das gibt einen Passus in mein Testament, hoerst du, mein Sohn? Und nachher geht er in das deinige ueber, also: Dem Geissenpeter einen Zehner woechentlich, solange er am Leben ist." Herr Sesemann nickte zustimmend und lachte auch herueber. Der Peter schaute noch einmal auf das Geschenk in seiner Hand, ob es auch wirklich wahr sei. Dann sagte er: "Danke Gott!" Und nun rannte er davon in ganz ungewoehnlichen Spruengen, aber diesmal blieb er doch auf den Fuessen, denn jetzt trieb ihn nicht der Schrecken davon, sondern eine Freude, wie der Peter noch gar keine gekannt hatte sein Leben lang. Alle Angst und Schrecken waren vergangen, und jede Woche hatte er einen Zehner zu erwarten sein Leben lang. Als spaeter die Gesellschaft vor der Almhuette das froehliche Mittagsmahl beendet hatte und nun noch in allerlei Gespraechen zusammensass, da nahm Klara ihren Vater, der ganz strahlte vor Freude und jedesmal, wenn er sie wieder anschaute, noch ein wenig gluecklicher aussah, bei der Hand und sagte mit einer Lebhaftigkeit, die man nie an der matten Klara gekannt hatte: "O Papa, wenn du nur wuesstest, was der Grossvater alles fuer mich getan hat! So viel alle Tage, dass man es gar nicht nacherzaehlen kann, aber ich vergesse es in meinem ganzen Leben nicht. Und immer denke ich, wenn ich nur dem lieben Grossvater auch etwas tun koennte oder etwas schenken, das ihm so recht Freude machen wuerde, auch nur halb soviel, wie er mir Freude gemacht hat." "Das ist ja auch mein groesster Wunsch, liebes Kind", sagte der Vater. "Ich sinne schon immer darueber nach, wie wir unserem Wohltaeter unseren Dank auch nur einigermassen dartun koennten." Herr Sesemann stand jetzt auf und ging zum Oehi hinueber, der neben der Grossmama sass und sich ausnehmend gut mit ihr unterhalten hatte. Er stand aber jetzt auch auf. Herr Sesemann ergriff seine Hand und sagte in der freundschaftlichsten Weise: "Mein lieber Freund, lassen Sie uns ein Wort zusammen sprechen! Sie werden es verstehen, wenn ich Ihnen sage, dass ich seit langen Jahren keine rechte Freude mehr kannte. Was war mir all mein Geld und Gut, wenn ich mein armes Kind anblickte, das ich mit keinem Reichtum gesund und gluecklich machen konnte? Naechst unserm Gott im Himmel haben Sie mir das Kind gesund gemacht und mir, wie ihm, damit ein neues Leben geschenkt. Nun sprechen Sie, womit kann ich Ihnen meine Dankbarkeit zeigen? Vergelten kann ich nie, was Sie uns getan haben, aber was ich vermag, das stelle ich zu Ihrer Verfuegung. Sprechen Sie, mein Freund, was darf ich tun?" Der Oehi hatte still zugehoert und den gluecklichen Vater mit vergnuegtem Laecheln angeblickt. "Herr Sesemann glaubt mir wohl, dass ich meinen Teil an der grossen Freude ueber die Genesung auf unserer Alm auch habe; meine Muehe ist mir wohl dadurch vergolten", sagte jetzt der Oehi in seiner festen Weise. "Fuer die guetigen Anerbietungen danke ich Herrn Sesemann, ich habe nichts noetig. Solange ich lebe, habe ich fuer das Kind und fuer mich genug. Aber einen Wunsch haette ich; wenn mir der erfuellt werden koennte, so haette ich fuer dieses Leben keine Sorge mehr." "Sprechen Sie, sprechen Sie, mein lieber Freund!" draengte Herr Sesemann. "Ich bin alt", fuhr der Oehi fort, "und kann nicht mehr lange hierbleiben. Wenn ich gehe, kann ich dem Kinde nichts hinterlassen, und Verwandte hat es keine mehr; nur eine einzige Person, die wuerde noch ihren Vorteil aus ihm ziehen wollen. Wenn mir der Herr Sesemann die Zusicherung geben wollte, dass das Heidi nie in seinem Leben hinaus muss, um sein Brot unter den Fremden zu suchen, dann haette er mir reichlich zurueckgegeben, was ich fuer ihn und sein Kind tun konnte." "Aber, mein lieber Freund, davon kann ja niemals eine Rede sein", brach Herr Sesemann nun aus. "Das Kind gehoert ja zu uns. Fragen Sie meine Mutter, meine Tochter; das Kind Heidi werden Sie ja in ihrem Leben nicht anderen Leuten ueberlassen! Aber da, wenn es Ihnen eine Beruhigung ist, mein Freund, hier meine Hand darauf. Ich verspreche Ihnen: Nie in seinem Leben soll dieses Kind hinaus, um unter fremden Menschen sein Brot zu verdienen; dafuer will ich sorgen, auch ueber meine Lebenszeit hinaus. Nun aber will ich noch etwas sagen. Dieses Kind ist nicht fuer ein Leben in der Fremde gemacht, wie auch die Verhaeltnisse waeren; das haben wir erfahren. Aber es hat sich Freunde gemacht. Einen solchen kenne ich, der ist noch in Frankfurt; da tut er seine letzten Geschaefte ab, um dann nachher dahin zu gehen, wo es ihm gefaellt, und sich da zur Ruhe zu setzen. Das ist mein Freund, der Doktor, der noch diesen Herbst hier ankommen wird und, Ihren Rat dazu in Anspruch nehmend, sich in dieser Gegend niederlassen will, denn in Ihrer und des Kindes Gesellschaft hat er sich so wohl befunden wie sonst nirgends mehr. So sehen Sie, das Kind Heidi wird fortan zwei Beschuetzer in seiner Naehe haben. Moegen ihm beide miteinander noch recht lange erhalten bleiben!" "Das gebe der liebe Gott!" fiel hier die Grossmama ein, und den Wunsch ihres Sohnes bestaetigend, schuettelte sie dem Oehi eine gute Weile mit grosser Herzlichkeit die Hand. Dann fasste sie auf einmal das Heidi um den Hals, das neben ihr stand, und zog es zu sich heran. "Und du, mein liebes Heidi, dich muss man doch auch noch fragen. Komm, sag mir mal: Hast du denn nicht auch einen Wunsch, den du gern erfuellt haettest?" "Ja freilich, das hab ich schon", antwortete das Heidi und blickte sehr erfreut zu der Grossmama auf. "So, das ist recht, so komm heraus damit", ermunterte diese. "Was haettest du denn gern, Kind?" "Ich haette gern mein Bett aus Frankfurt mit den drei hohen Kissen und der dicken Decke, dann muss die Grossmutter nicht mehr mit dem Kopf bergab liegen und kann fast nicht atmen, und sie hat warm genug unter der Decke und muss nicht immer mit dem Schal ins Bett gehen, weil sie sonst furchtbar friert." Das Heidi hatte alles in einem Atemzuge gesagt vor Eifer, zu seinem gewuenschten Ziel zu kommen. "Ach mein liebes Heidi, was sagst du mir da!" rief die Grossmama erregt aus. "Das ist gut, dass du mich erinnerst. In der Freude vergisst man leicht, woran man zuallererst haette denken sollen. Wenn uns der liebe Gott etwas Gutes schickt, muessten wir doch gleich an diejenigen denken, die so viel entbehren! Jetzt wird auf der Stelle nach Frankfurt telegrafiert! Noch heute soll die Rottenmeier das Bett zusammenpacken, in zwei Tagen kann es dasein. Will's Gott, soll die Grossmutter gut schlafen darin!" Das Heidi huepfte frohlockend rings um die Grossmama herum. Aber auf einmal stand es still und sagte eilig: "Nun muss ich gewiss geschwind zur Grossmutter hinunter, es wird ihr auch wieder angst, wenn ich so lang nicht mehr komme." Denn nun konnte das Heidi es nicht mehr erwarten, der Grossmutter die Freudenbotschaft zu bringen, und es war ihm auch wieder in den Sinn gekommen, wie es der Grossmutter angst gewesen, als es zuletzt bei ihr war. "Nein, nein, Heidi, was meinst du?" ermahnte der Grossvater. "Wenn man Besuch hat, laeuft man nicht mit einemmal auf und davon." Aber die Grossmama unterstuetzte das Heidi. "Mein lieber Oehi, das Kind hat so unrecht nicht", sagte sie. "Die arme Grossmutter ist auch seit langem viel zu kurz gekommen um meinetwillen. Nun wollen wir gleich alle miteinander zu ihr gehen, und ich denke, dort warte ich mein Pferd ab, und wir setzen dann unseren Weg weiter fort, und unten im Doerfli wird sogleich das Telegramm nach Frankfurt aufgegeben. Mein Sohn, was meinst du dazu?" Herr Sesemann hatte bis jetzt noch gar nicht Zeit gehabt, ueber seine Reiseplaene zu sprechen. Er musste also seine Mutter bitten, nicht sogleich ihr Unternehmen auszufuehren, sondern noch einen Augenblick sitzen zu bleiben, bis er seine Absicht ausgesprochen habe. Herr Sesemann hatte sich vorgenommen, mit seiner Mutter eine kleine Reise durch die Schweiz zu machen und erst zu sehen, ob sein Klaerchen imstande sei, eine kurze Strecke mitzureisen. Nun war es so gekommen, dass er die genussreichste Reise in Gesellschaft seiner Tochter vor sich sah, und nun wollte er auch gleich diese schoenen Spaetsommertage dazu benutzen. Er hatte im Sinne, die Nacht im Doerfli zuzubringen und am folgenden Morgen Klara auf der Alm abzuholen, um mit ihr zur Grossmama nach dem Bade Ragaz hinunter und von da weiterzureisen. Klara war ein wenig betroffen ueber die Anzeige der ploetzlichen Abreise von der Alp, aber es war ja so viel Freude daneben, und ueberdies war da gar keine Zeit, sich dem Bedauern hinzugeben. Schon war die Grossmama aufgestanden und hatte Heidis Hand erfasst, um den Zug anzufuehren. Jetzt kehrte sie sich ploetzlich um. "Aber was in aller Welt macht man nun mit Klaerchen?" rief sie erschrocken aus, denn es war ihr in den Sinn gekommen, dass der Gang doch fuer sie viel zu weit sein wuerde. Aber schon hatte in gewohnter Weise der Oehi sein Pflegetoechterchen auf den Arm genommen und folgte mit festem Schritte der Grossmama nach, die jetzt mit vielem Wohlgefallen zuruecknickte. Zuletzt kam Herr Sesemann, und so ging der Zug weiter den Berg hinunter. Das Heidi musste immerfort aufhuepfen vor Freude an der Seite der Grossmama, und diese wollte nun alles wissen von der Grossmutter, wie sie lebe und wie alles bei ihr zugehe, besonders im Winter bei der grossen Kaelte da droben. Das Heidi berichtete ueber alles ganz genau, denn es wusste schon, wie da alles zuging und wie dann die Grossmutter zusammengeduckt in ihrem Winkelchen sass und zitterte vor Kaelte. Es wusste auch gut, was sie dann zu essen hatte, und auch, was sie nicht hatte. Bis zur Huette hinunter hoerte die Grossmama mit der lebhaftesten Teilnahme Heidis Berichten zu. Die Brigitte war eben daran, Peters zweites Hemd an die Sonne zu haengen, damit, wenn das eine wieder genug getragen war, das andere angezogen werden konnte. Sie erblickte die Gesellschaft und stuerzte in die Stube hinein. "Jetzt grad geht alles fort, Mutter", berichtete sie. "Es ist ein ganzer Zug; der Oehi begleitet sie, er traegt das Kranke." "Ach, muss es denn wirklich sein?" seufzte die Grossmutter. "So nehmen sie das Heidi mit, das hast du gesehen? Ach, wenn es mir nur auch noch die Hand geben duerfte! Wenn ich es nur auch noch einmal hoerte!" Jetzt wurde stuermisch die Tuer aufgemacht, und das Heidi war in wenigen Spruengen in der Ecke bei der Grossmutter und umklammerte sie. "Grossmutter! Grossmutter! Mein Bett kommt aus Frankfurt und alle drei Kissen und auch die dicke Decke; in zwei Tagen ist es da, das hat die Grossmama gesagt." Das Heidi hatte gar nicht schnell genug seinen Bericht herausbringen koennen, denn es konnte die ungeheure Freude der Grossmutter fast nicht abwarten. Sie laechelte, aber ein wenig traurig sagte sie: "Ach, was muss das fuer eine gute Frau sein! Ich sollte mich nur freuen, dass sie dich mitnimmt, Heidi, aber ich kann es nicht lang ueberleben." "Was? Was? Wer sagt denn der guten alten Grossmutter so etwas?" fragte hier eine freundliche Stimme, und die Hand der Alten wurde dabei erfasst und herzlich gedrueckt, denn die Grossmama war hinzugetreten und hatte alles gehoert. "Nein, nein, davon ist keine Rede! Das Heidi bleibt bei der Grossmutter und macht ihre Freude aus. Wir wollen das Kind auch wiedersehen, aber wir kommen zu ihm. Jedes Jahr werden wir nach der Alm hinaufkommen, denn wir haben Ursache, an dieser Stelle dem lieben Gott alljaehrlich unseren besonderen Dank zu sagen, wo er ein solches Wunder an unserem Kinde getan hat." Jetzt kam der echte Freudenschein auf das Gesicht der Grossmutter, und mit wortlosem Dank drueckte sie fort und fort die Hand der guten Frau Sesemann, waehrend ihr vor lauter Freude ein paar grosse Traenen die alten Wangen herabglitten. Das Heidi hatte den Freudenschein auf dem Gesichte der Grossmutter gleich gesehen und war jetzt ganz beglueckt. "Gelt, Grossmutter", sagte es, sich an sie schmiegend, "jetzt ist es so gekommen, wie ich dir zuletzt gelesen habe? Gelt, das Bett aus Frankfurt ist gewiss heilsam?" "Ach ja, Heidi, und noch so vieles, so viel Gutes, das der liebe Gott an mir tut!" sagte die Grossmutter mit tiefer Ruehrung. "Wie ist es nur moeglich, dass es so gute Menschen gibt, die sich um eine arme Alte bekuemmern und so viel an ihr tun! Es ist nichts, das einem den Glauben so staerken kann an einen guten Vater im Himmel, der auch sein Geringstes nicht vergessen will, wie so etwas zu erfahren, dass es solche Menschen gibt voll Guete und Barmherzigkeit fuer ein armes, unnuetzes Weiblein, wie ich eins bin." "Meine gute Grossmutter", fiel hier Frau Sesemann ein, "vor unserem Herrn im Himmel sind wir alle gleich armselig, und alle haben wir es gleich noetig, dass er uns nicht vergesse. Und nun nehmen wir Abschied, aber auf Wiedersehen, denn sobald wir naechstes Jahr wieder nach der Alm kommen, suchen wir auch die Grossmutter wieder auf; die wird nie mehr vergessen!" Damit erfasste Frau Sesemann noch einmal die Hand der Alten und schuettelte sie. Aber sie kam nicht so schnell fort, wie sie meinte, denn die Grossmutter konnte nicht aufhoeren zu danken, und alles Gute, das der liebe Gott in seiner Hand habe, wuenschte sie auf ihre Wohltaeterin und deren ganzes Haus herab. Jetzt zog Herr Sesemann mit seiner Mutter talabwaerts, waehrend der Oehi Klara noch einmal mit nach Hause trug und das Heidi, ohne aufzusetzen, hochauf huepfte neben ihnen her, denn es war so froh ueber die Aussicht der Grossmutter, dass es mit jedem Schritt einen Sprung machen musste. Am Morgen darauf aber gab es heisse Traenen bei der scheidenden Klara, nun sie fort musste von der schoenen Alm, wo es ihr so wohl gewesen war wie noch nie in ihrem Leben. Aber das Heidi troestete sie und sagte: "Es ist im Augenblick wieder Sommer, und dann kommst du wieder, und dann ist's noch viel schoener. Dann kannst du von Anfang an gehen, und wir koennen alle Tage mit den Geissen auf die Weide gehen und zu den Blumen hinauf, und alles Lustige geht von vorn an." Herr Sesemann war nach Abrede gekommen, sein Toechterchen abzuholen. Er stand jetzt drueben beim Grossvater, die Maenner hatten noch allerlei zu besprechen. Klara wischte nun ihre Traenen weg, Heidis Worte hatten sie ein wenig getroestet. "Ich lasse auch den Peter noch gruessen", sagte sie wieder, "und alle Geissen, besonders das Schwaenli. Oh, wenn ich nur dem Schwaenli ein Geschenk machen koennte; es hat so viel dazu geholfen, dass ich gesund geworden bin." "Das kannst du schon ganz gut", versicherte das Heidi. "Schick ihm nur ein wenig Salz, du weisst schon, wie gern es am Abend das Salz aus des Grossvaters Hand schleckt." Der Rat gefiel Klara wohl. "Oh, dann will ich ihm gewiss hundert Pfund Salz aus Frankfurt schicken", rief sie erfreut aus, "es muss auch ein Andenken an mich haben." Jetzt winkte Herr Sesemann den Kindern, denn er wollte abreisen. Diesmal war das weisse Pferd der Grossmama fuer Klara gekommen, und jetzt konnte sie herunterreiten, sie brauchte keinen Tragsessel mehr. Das Heidi stellte sich auf den aeussersten Rand des Abhanges hinaus und winkte mit seiner Hand der Klara zu, bis das letzte Restchen von Ross und Reiterin geschwunden war. Das Bett ist angekommen, und die Grossmutter schlaeft jetzt so gut jede Nacht, dass sie gewiss dadurch zu ganz neuen Kraeften kommt. Den harten Winter auf der Alp hat die gute Grossmama auch nicht vergessen. Sie hat einen grossen Warenballen nach der Geissenpeter-Huette gesandt. Darin war so viel warmes Zeug verpackt, dass die Grossmutter sich um und um damit einhuellen kann und gewiss nie mehr zitternd vor Kaelte in ihrer Ecke sitzen muss. Im Doerfli ist ein grosser Bau im Gange. Der Herr Doktor ist angekommen und hat vorderhand sein altes Quartier bezogen. Auf den Rat seines Freundes hin hat der Herr Doktor das alte Gebaeude angekauft, das der Oehi im Winter mit dem Heidi bewohnt hatte und das ja schon einmal ein grosser Herrensitz gewesen war, was man immer noch an der hohen Stube mit dem schoenen Ofen und dem kunstreichen Getaefel sehen konnte. Diesen Teil des Hauses laesst der Herr Doktor als seine eigene Wohnung aufbauen. Die andere Seite wird als Winterquartier fuer den Oehi und das Heidi hergestellt, denn der Herr Doktor kennt den Alten als einen unabhaengigen Mann, der seine eigene Behausung haben muss. Zuhinterst wird ein festgemauerter, warmer Geissenstall eingerichtet, da werden Schwaenli und Baerli in sehr behaglicher Weise ihre Wintertage zubringen. Der Herr Doktor und der Almoehi werden taeglich bessere Freunde, und wenn sie zusammen auf dem Gemaeuer herumsteigen, um den Fortgang des Baues zu besichtigen, kommen ihre Gedanken meistens auf das Heidi, denn beiden ist die Hauptfreude an dem Hause, dass sie mit ihrem froehlichen Kinde hier einziehen werden. "Mein lieber Freund", sagte kuerzlich der Herr Doktor, mit dem Oehi oben auf der Mauer stehend, "Sie muessen die Sache ansehen wie ich. Ich teile alle Freude an dem Kinde mit Ihnen, als waere ich der naechste nach Ihnen, zu dem das Kind gehoert; ich will aber auch alle Verpflichtungen teilen und nach bester Einsicht fuer das Kind sorgen. So habe ich auch meine Rechte an unserem Heidi und kann hoffen, dass es mich in meinen alten Tagen pflegt und um mich bleibt, was mein groesster Wunsch ist. Das Heidi soll in alle Kindesrechte bei mir eintreten; so koennen wir es ohne Sorge zuruecklassen, wenn wir einmal von ihm gehen muessen, Sie und ich." Der Oehi drueckte dem Herrn Doktor lange die Hand. Er sagte kein Wort, aber sein guter Freund konnte in den Augen des Alten die Ruehrung und hohe Freude lesen, die seine Worte erweckt hatten. Derweilen sassen das Heidi und der Peter bei der Grossmutter, und das erstere hatte so viel zu tun mit Erzaehlen und der letztere mit Zuhoeren, dass sie alle beide kaum zu Atem kommen konnten und vor Eifer immer naeher auf die glueckliche Grossmutter eindrangen. Wieviel war ihr auch zu berichten von alle dem, das den ganzen Sommer durch sich ereignet hatte, denn man war ja so wenig zusammengekommen waehrend dieser Zeit. Und von den dreien sah immer eins gluecklicher aus als das andere ueber das neue Zusammensein und ueber alle die wunderbaren Ereignisse. Jetzt aber war das Gesicht der Mutter Brigitte noch fast am gluecklichsten anzusehen, da mit Heidis Hilfe nun zum erstenmal klar und verstaendlich die Geschichte des unaufhoerlichen Zehners herauskam. Zuletzt aber sagte die Grossmutter: "Heidi, lies mir ein Lob- und Danklied! Es ist mir, als koenne ich nur noch loben und preisen und unserem Gott im Himmel Dank sagen fuer alles, was er an uns getan hat." End of the Project Gutenberg EBook of Heidi kann brauchen, was es gelernt hat by Johanna Spyri *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIDI, VOL. 2 *** This file should be named 7hid210.txt or 7hid210.zip Corrected EDITIONS of our eBooks get a new NUMBER, 7hid211.txt VERSIONS based on separate sources get new LETTER, 7hid210a.txt Produced by Gunther Olesch Project Gutenberg eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not keep eBooks in compliance with any particular paper edition. We are now trying to release all our eBooks one year in advance of the official release dates, leaving time for better editing. Please be encouraged to tell us about any error or corrections, even years after the official publication date. Please note neither this listing nor its contents are final til midnight of the last day of the month of any such announcement. 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